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4. Dienst

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Das Jahr 1933 sollte in unserem Land alles anders werden lassen als es bislang gewesen war. Erwachsene mochten das vorausahnen oder auch nicht. Für Kinder, deren Welt sich ununterbrochen erweitert und damit auch immer neu und anders wird, war das damalige politische Geschehen jedenfalls nicht durchschaubar. Es scheint mir deshalb angebracht, von hier ab meinen Bericht gelegentlich durch Informationen zu ergänzen, wie sie die damals Erwachsenen der „Altenburger Landeszeitung“ oder einem anderen regionalen Tageblatt entnehmen konnten. Wie alle Kinder meines Alters, fand ich noch keinen Gefallen am Zeitunglesen. Das bedeutete jedoch nicht, dass wir die Ereignisse auf der großen Weltbühne nicht wahrnahmen und auf unsere Weise reflektierten. Wir waren alsbald sogar zu Mitwirkenden gemacht, ehe wir überhaupt verstanden hatten welche Tragödie in den nächsten Jahren aufgeführt werden sollte. Für mich begann das an einem sehr warmen Frühlingstag, als ich aus Neugier einen folgenreichen Entschluss fasste. An diesem Tage hatte ich mit einigen Spielgefährten lustlos an einer Stelle des Bahndammes herumgesessen, die uns zu bestimmten Zeiten als Palaverplatz diente. An diesem Stück Damm waren alte Holzschwellen senkrecht in den Boden gerammt, um ein Abrutschen des Hanges zu verhindern. Wenn wir darauf hockten und die Beine baumeln ließen, dann kamen wir manchmal auf die seltsamsten Einfälle. An diesem Tage hatten wir wohl schon eine geraume Zeit so herumgehangen, als sich uns eine Gruppe von Jungen näherte, unter denen auch einer aus unserer Straße war. Werner Quilitzsch löste sich aus dem Trupp. Er wohnte unweit von unserem Palaverplatz und kam nun zu uns heran, um uns ins Staunen zu versetzen. Das gelang ihm allein schon durch sein Äußeres. Er trug, wie auch die anderen uns aber nicht bekannten Jungen, ein weißes Hemd. Seine kurze schwarze Hose war mit einem Sportgürtel zusammengeschnürt, dessen Schnalle eine Fahne mit dem Hakenkreuz vorstellte. Solcherart Gebrauchsgegenstände wurden einige Zeit später in Deutschland verpönt und als „nationaler Kitsch“ bezeichnet. In dieser Phase des politischen Wandels war aber noch mancherlei erlaubt und möglich. Wortlos und ein wenig herausfordernd postierte sich Werner vor uns auf den Gehweg. In seiner zusammengezurrten Hose sah der ohnehin schon schlanke Kerl noch erheblich dünner aus als gewöhnlich. Natürlich konnten wir uns nicht verkneifen zu fragen, woher er denn käme. Was wir erfuhren, machte neugierig. Quilitzsch war in das Deutsche Jungvolk eingetreten und hatte gerade an einer sogenannten „Fahrt“ teilgenommen. Was es damit auf sich hatte, erklärte er uns nun, nach Jungenart froh darüber, sich mit seinen Neuigkeiten interessant machen zu können. Dabei verwendete er Begriffe, die uns nicht geläufig waren, wie zum Beispiel: Lagerfeuer, Geländespiel, Heimabend usw. Der nächste von diesen Heimabenden fände am kommenden Mittwoch statt, sagte er. Es würden dort spannende Geschichten vorgelesen und auch Lieder gesungen. Die Sache mit den Liedern hätte er sich von mir aus sparen können. Da reichte mir schon der Musikunterricht in der Schule. Die Aussicht auf eine Abenteuergeschichte war aber verlockend genug, um bei mir den Wunsch nach einem Probebesuch eines dieser Heimabende zu wecken. Ein anderer Junge, Heinz Geißler, zeigte ebenfalls Interesse. Werner Quilitzsch erbot sich, uns am kommenden Mittwoch abzuholen. Eine solche Absprache hatte für mich damals natürlich noch so lange keine Wirksamkeit, bis nicht die Erlaubnis meines Vaters dazu eingeholt war. Wie sich herausstellen sollte, war sie aber leichter zu erhalten als ich es erfahrungsgemäß hätte erwarten müssen. Ich kann heute nur Vermutungen darüber anstellen, was meinen Vater dazu bewogen haben mag, mir seine Einwilligung zu diesem Vorhaben zu geben. Vielleicht wollte er mich nur von der Straße weghaben, auf der ich oft genug herumlungerte. Möglicherweise gehörte er damals zu den Leuten, die meinten, Hitler werde im Lande nun doch vielleicht besser als seine Vorgänger die Arbeitslosigkeit bekämpfen und für mehr Sicherheit im Alltag der Menschen sorgen. Unbestritten ist jedenfalls, dass ich selbst einen der schwerwiegendsten Entschlüsse in meinem Leben an diesem schönen Frühlingstage des Jahres 1933 gefasst habe. Das geschah im Alter von acht und ein halb Jahren.

Während der ersten Monate nach Hitlers Machtübernahme in Deutschland berichtete die „Altenburger Landeszeitung“ unter anderem folgendes über die damalige politische Situation im Lande und in unserer Stadt:

Mittwoch, 1. Februar 1933

Gewaltige Kundgebung in Altenburg für die neue Regierung. Fackelzug von Stahlhelm und SA.

Dienstag, 28. Februar 1933

Das Reichstagsgebäude von Kommunisten in Brand gesteckt.

Mittwoch, 1. März 1933

Hilfspolizei aus SS und Stahlhelm in Altenburg. Das Ernestinum als Kaserne.

Dienstag, 7. März 1933

Die nationalen Fahnen auf dem Rathaus. Gestern Nachmittag wehte auf dem Rathause sowie auf dem Turm des Schlosses die Hakenkreuzfahne.

Sonnabend, 25. März 1933

Konzentrationslager für politische Gefangene in Dachau.

Freitag, 7. April 1933

Führertreffen des Jungvolks auf der Leuchtenburg … für die Führer der im Jungvolk organisierten 150 000 Mitglieder.

Sonnabend, 8. April 1933

Der Ausschluss der Juden aus den öffentlichen Ämtern.

Montag, 10. April 1933

Altenburg. Werbeabend des Bundes Deutscher Mädel und des Deutschen Jungvolks …Jungbannführer Karl Seele legte die Ziele und die Arbeit klar …Unter Ablehnung der Konfessionsunterschiede schreite das Jungvolk zur Überwindung des Klassenbegriffs. Keine Parteipolitik, aber Erziehung zum deutschen Gedanken sei der Weg des Jungvolks.

Mittwoch, 12. April 1933

Das Arbeitsamt Altenburg berichtet …Die Zahl der Arbeitsuchenden betrug am Monatsende Februar 1933 15072.

Das Jungvolkheim, in das uns Werner Quilitzsch am folgenden Mittwoch führte, lag an der „Neuen Sorge“, einer steilen Straße, die am Schlossgarten entlang hinauf zum Schloss führt. Das Haus, in dem sich das Heim befand, erkannte ich als dasjenige wieder, wo ich im Jahr vor meiner Einschulung einen Kindergarten besuchte -vermutlich damit ich lernen sollte stillzusitzen. Nun befand sich in den gleichen Räumen das Deutsche Jungvolk. Eigentlich war es noch immer eine Art Kindergarten denn, wie ich bald feststellen konnte, trafen sich hier nur die Jüngsten. Als wir eintraten, hatte der Heimabend soeben begonnen. Im Raum saßen etwa 15 Jungen an einer langen Tafel, an deren Stirnseite der Führer dieser Truppe stand. Er überprüfte gerade die Anwesenheit und so kamen wir noch rechtzeitig, um unsere Namen zu nennen und uns auf die nächststehenden Stühle zu schieben. Wie jener erste Heimnachmittag im Einzelnen ablief, weiß ich heute nicht mehr aber mit großer Begeisterung habe ich daran sicher nicht teilgenommen. Jedenfalls musste man auch hier stillsitzen wie in der Schule. Die Geschichte, die vorgelesen wurde, war eine Fortsetzungslesung. Die Lieder, die gesungen wurden, kannte ich nicht und viele Begriffe, die man verwendete, waren so neu, dass ich nichts damit anfangen konnte. Interessant fand ich den Jungzugführer. Das war der große sympathische Junge an der Stirnseite des Tisches. Er führte das Wort, nahm zum Schluss meine Personalien auf und gab allen irgendwelches Werbematerial aus, das wir bis zum nächsten Mal verteilen sollten. Schließlich mussten wir auf dem Hof in einer Linie Aufstellung nehmen. Man nannte das „Antreten“. Der nächste „Dienst“ sollte am Wochenende sein. Da gehe man ins „Gelände“. Solch neuen Begriffe schafften in meinem Kopf keine Klarheit über den Sinn des Ganzen. Weshalb ich aber von diesem Tage an immer wieder am Jungvolkdienst teilnahm, kann ich bis heute nicht genau beantworten. Jedenfalls hat Richard Köhler, der Jungzugführer, den wir „Hardchen“ nannten, mit seinen damals 16 Jahren großen Eindruck auf mich gemacht. Je mehr ich ihn kennenlernte, umso mehr entwickelte er sich zu einem Vorbild für mich, das er jedenfalls auch für seine übrigen Schützlinge war.

Ich ging fortan mit zunehmendem Interesse Woche für Woche zum Jungvolkdienst, ohne zu begreifen wem ich eigentlich damit diente. Hardchen sagte uns, dass wir unserem Vaterlande dienten. Aber sowas sagte er nur selten und in ganz bestimmtem Zusammenhang. Er schien vielmehr darauf orientiert zu sein, uns während der Heimabende interessante und spannende Jungengeschichten oder Abenteuergeschichten vorzulesen. Noch heute weiß ich einige Titel zu nennen, die ich an jenen Mittwochnachmittagen hörte, so zum Beispiel: „Die Jungen von der Feuerburg“, „Tom Sawayers Abenteuer“, „Die Schatzinsel“ und andere sehr spannende Geschichten, in denen immer ein oder mehrere gewitzte Jungen im Mittelpunkt des Geschehens standen. Die Lieder, die wir sangen, handelten von Abenteuer und Seefahrt aber auch vom Landsknechts- und Soldatenleben. Auch in dieser Hinsicht wurden mir die Heimabende nach und nach interessant. Diese Lieder hatten Melodien, die sich in der Gruppe gut singen ließen und das Gemüt anrührten. Aus heutiger Sicht scheint mir, dass damals bei uns noch manche Übereinstimmung mit dem Leben in der bündischen Jugend bestanden hat. Lieder wie: „Die alten Männer von der hohen Wart, die haben alle das Krieg spielen satt …“ haben wir später jedenfalls nicht mehr gesungen. Es gab noch manche Lieder, die ich auch heute noch für alles andere als militaristisch halten kann. So zum Beispiel: „Wilde Gesellen vom Sturmwind durchweht …“, „Wenn die bunten Fahnen wehen, geht die Fahrt wohl übers Meer …“, „Frei liegt das Meer und die Eisberge ziehn …“ Ein von uns oft gesungener Liedtext wurde von dem Altenburger Landadeligen und bekannten deutschen Balladendichter Börries Freiherr von Münchhausen gedichtet. Es besingt den deutschen Bauernaufstand. Der Text der betreffenden Ballade beginnt mit den Worten: „Die Glocken stürmten vom Bernhardsturm“. Diese Lieder identifizierten uns mit der Geschichte unseres Landes. Ihre romantische Note entsprach unserer Gefühlswelt.

Die an Wochenenden stattfindenden Ausflüge in die Umgebung unserer Stadt unterstützten unseren Hang nach Abenteuer und Erkundung der uns erreichbaren Teile der Welt, in die wir hineingeboren waren. Ob man diese Unternehmungen nun Spaziergang, Wanderung oder, wie im Jungvolk üblich, Fahrt nannte, war uns damals bestimmt gleichgültig. Nicht gleichgültig wurde uns jedoch immer mehr, ob wir mit dabei sein konnten oder nicht. Wir zogen in Gruppen von 10 bis 15 Jungen bei jedem Wetter mit unserem bunten Wimpel, einem Aluminiumkessel, den wir „Hordentopf“ nannten, sowie mit einem Vorrat an Suppenwürfeln , Erbswürsten und Puddingpulver ausgerüstet, über die Straßen unseres Heimatkreises. Was wir erlebten, kam unseren Vorstellungen vom Abenteuer nahe. Wir rasteten an einem Teich oder in einer Sandgrube, sammelten Brennholz, lernten eine Feuerstelle zum Kochen herzurichten und holten Wasser. Manche kleinen Gewässer führten seinerzeit noch klares und im abgekochten Zustand genießbares Wasser. Wenn es kochte, kamen die von zu Hause mitgebrachten Suppenwürfel oder Erbswürste in den Kessel. Manchmal war auch geplant Nudeln zu kochen. Da spielte es keine Rolle, ob jemand versehentlich Makkaroni mitgebracht hatte. Alles gelangte in den Hordentopf und was da wieder herauskam, hatte zu schmecken. Nudeln waren meistens versalzen aber niemand vergaß seinen Kochgeschirrdeckel zum Füllen hinzuhalten, wenn Hardchen die große Kelle schwang. Die Erwachsenen nannten uns den „Puddingzug“, weil bei der Vorbereitung von Fahrten fast immer zum Mitbringen von Puddingpulver aufgefordert wurde. In einem „Spezialtopf“ wurde ein Pudding von undefinierbarer Farbe gekocht, den wir noch warm als Nachspeise verdrückten. Darauf freuten wir uns jedes Mal ganz besonders. So gesehen, hatten wir ein primitives Essvergnügen. Man darf aber nicht vergessen, dass wir nicht so verwöhnt waren wie die uns nachfolgende Generation. Zum Frühstück oder bei der Rast war es üblich, dass nicht jeder sein mitgebrachtes belegtes Brot aß, sondern es wurden alle Brote auf eine Zeltplane gelegt. Davon verteilte Hardchen dann reihum an die im Kreis sitzenden Jungen. Ich muss gestehen, dass ich ganz schön bedeppert war, als ich die gut belegten Brote meiner Mutter zum ersten Mal gegen einen ziemlich dürren Brotkanten vertauscht sah. Solcherart lernten wir ein Verhalten in der Gemeinschaft, das wir mehr und mehr als etwas Selbstverständliches ansahen. Schließlich entwickelten wir sogar mit der Zeit ein ausgesprochenes Misstrauen solchen Jungen gegenüber, die bei jeder Gelegenheit zuerst an sich selbst dachten und ihren persönlichen Vorteil unter allen Umständen zu wahren suchten. „Kameradschaft“ wurde für uns allmählich zu einem festen Begriff für lobenswertes Verhalten in der Gemeinschaft. Was wir nicht bedachten: Kameradschaft konnte Menschenmassen eng zusammenschweißen, sie wurde zur Führung großer Menschenmassen gebraucht und sie sollte zur Verführung dieser Jugend missbraucht werden. Das wusste vermutlich auch unser selbstloser damaliger Jungzugführer nicht. Hardchen lebte uns einfach vor, was er unter Kameradschaft verstand. Wenn wir bei nasskaltem Regen auf der Landstraße wieder nach Hause zogen, dann kam es nicht selten vor, dass er einen der Schwächsten auf seinen Schultern trug. War jemandem von uns ein Missgeschick passiert - Hardchen war zur Stelle, um zu helfen. Das übertrug sich mit der Zeit auf jeden von uns. Rückschauend darf ich gestehen, ich empfand allmählich in dieser Gemeinschaft eine ziemliche Geborgenheit. Ich konnte noch nicht unterscheiden zwischen individuellen Persönlichkeitsmerkmalen, die sich mit dem Fortschreiten des Erkenntnisprozesses entfalten und der Züchtung von Gruppenmerkmalen, die bestimmten Zwecken dienen sollen.

In dieser Zeit begann eine neue Phase meiner Kindheit, die ich als die uniformierte bezeichnen möchte. Zunächst noch in schwarzer Hose und einem neuwaschenen weißen Hemd, auf das ein schwarzes Halstuch mit einem geflochtenen Lederknoten gebunden war, begab ich mich zweimal wöchentlich in die buntschillernde Welt des Deutschen Jungvolks. Während ich sie zu entdecken und zu erobern trachtete, ergriff sie stückweise von mir selbst Besitz.

Die Absichten der neuen Machthaber waren aus heutiger Sicht leicht zu durchschauen. Leider kann man das immer nur im Nachhinein mit größter Bestimmtheit sagen. Den Zeitgenossen fällt es jedes Mal schwer, die Lüge von der Wahrheit analysenrein zu trennen. Ich möchte dazu kommentarlos wieder einige Zitate aus der Altenburger Landeszeitung einfügen. Dort war zu lesen:

Montag, 24. April 1933

Der Thüringer Lehrerverein gleichgeschaltet.

Mittwoch, 3. Mai 1933

Die Gleichschaltung der Gewerkschaften.

Freitag 23. Juni 1933

SPD verboten. Aufbau der Reichsjugendorganisation.

Montag, 3. Juli 1933

Auflösung der Zentrumspartei in Altenburg.

Dienstag, 4. Juli 1933

Der Jungdeutsche Orden in Thüringen verboten, Katholische Verbände aufgelöst.

Freitag, 14. Juli 1933

In vier Monaten 1,7 Millionen von den Fesseln der Arbeitslosigkeit befreit.

Sonnabend, 15. Juli 1933

Alle Erziehungsorganisationen Thüringens im NS-Lehrerbund.

Montag, 24. Juli 1933

Hitlergruß in Thüringen … Verordnung des Thüringischen Staatsministeriums: Sämtliche Beamten, Angestellten und Arbeiter von Behörden grüßen im Dienst durch Erheben des rechten Armes.

Eine unaufhaltsame Entwicklung zur Vereinheitlichung der Organisierung des öffentlichen Lebens und der Denkweise überzog das Land. Diejenigen, die uns kleine Pimpfe führten, schienen wirklich zu wissen, wie alles zu aller Zufriedenheit laufen musste. Wir selbst wurden Zeuge davon, dass sich immer mehr Menschen dieser großen Welle der sogenannten „nationalen Erhebung“ anscheinend freiwillig unterwarfen. Eines Tages stand ich in Reih und Glied auf dem Sportplatz der „Wilhelm-Frick-Schule“ angetreten, um die Eingliederung der Jungmannen des Scharnhorstbundes in das Deutsche Jungvolk mitzuerleben. In meiner Erinnerung an die damalige Situation sehe ich uns in großer Zahl zu einem Appell angetreten. Es war wohl das gesamte damalige Altenburger Jungvolk dort aufmarschiert. Vom Rand der Rasenfläche, etwa aus Richtung der Herzogin-Agnes-Gedächtniskirche, zogen in guter Ordnung die Jungen von der Scharnhorstjugend schweigend hinter ihren Fahnen auf den Platz. Die Situation hatte schon etwas Beklemmendes an sich. Das konnte auch ein Junge meines damaligen Alters empfinden. Schließlich gaben diese Jungs ihre bisherige Gemeinschaft auf, um in eine andere ihnen fremde Gemeinschaft einzutreten. Wir aber waren nun einmal in der Überzahl, und wie es schien, deshalb wohl auch dazu berechtigt, die anderen in unsere Reihen einzugliedern. Eines Tages, nach durchgängiger Uniformierung durch das Braunhemd, konnten wir keine Unterschiede mehr zwischen uns und den Jungen vom ehemaligen Scharnhorstbund erkennen.

Was diesen „Eingliederungen“ tatsächlich an brutaler Gewalt seitens der damaligen Reichsjugendführung vorausgegangen war, wussten wir Jungvolkpimpfe nicht. Es war aber in der Altenburger Landeszeitung für jedermann nachlesbar:

Montag, 24. Juli 1933

Scharnhorstbund muss sich in die Hitlerjugend eingliedern …

Weimar, 23. Juli:

Der Landesbeauftragte des Reichsjugendführers richtete an den Scharnhorst folgende Mahnung: „Trotz meiner bereits gegebenen Anordnungen und Ausführungsbestimmungen … laufen wiederholt Meldungen ein, dass sich Stahlhelmführer an ihre Scharnhorstformationen wenden, und die von der Thüringer Jugendführung erlassenen Anordnungen sabotierenSollten diese Quertreibereien nicht sofort ein Ende finden, so werde ich beim Ministerium des Innern entsprechende Maßnahmen beantragen.“

Es gibt für Kinder keine unnatürlichere Bewegungsart als das Marschieren. Deshalb empfand ich zu jener Zeit auch kein Interesse an Appellen und Aufmärschen. Besonders wir Kleinsten mussten für solche Veranstaltungen beharrlich vorbereitet werden. Die Ansprüche, denen wir genügen mussten, waren recht groß. Ich habe miterlebt, wie einem Jungen, dessen Hose nicht die vorgeschriebene Handbreit über dem Knie endete, nach der zweiten Ermahnung sie sich kürzen zu lassen, einfach das Zuviel an Stoff durch einen höheren Jungvolkführer abgeschnitten wurde. Langsam aber unaufhaltsam wurden wir an die „Ordnungsübungen“, wie man das Exerzieren bei uns damals nannte, gewöhnt. Es ist wie bei der Hundedressur. Wenn der Gebrauchshund lange genug mit den Befehlen „Sitz!“, „Platz!“, „Bei Fuß!“ bekannt ist, dann freut er sich, von seinem Herrchen für prompte Ausführung belobigt zu werden und fühlt sich vielleicht unter seinesgleichen als besonders gelungenes Exemplar. Ausrichten, Wendungen auf der Stelle und in der Bewegung, Einhaltung von Abstand und Gleichschritt lernt man nicht an einem Tag. Es mussten immer häufiger derartige Ordnungsübungen in den Dienstplan eingebaut werden, bis wir in einen Zustand versetzt waren, der uns Deutschen vom Ausland mitunter als ein typisch deutscher bescheinigt wird. Dabei hängt doch alles vom vorgesehenen Verwendungszweck ab, und den kannte nicht einmal Richard Köhler. Unser „Hardchen“ wollten wir nicht blamieren. So strengten wir uns an, alles richtig klappen zu lassen.

In der Altenburger Landeszeitung konnte man schon eher erfahren, woran man bei unserem Erziehungsprogramm an höherer Stelle dachte. Da stand zu lesen:

Donnerstag, 17. August 1933

Günther Blum über die Aufgaben der Hitlerjugend (Anm.: Der Gebietsführer der Thüringer HJ sprach aus Anlass eines für den 16. u.17. September 1933 in Rudolstadt geplanten Gebietsaufmarsches der Hitlerjugend): „Wenn in einigen Wochen die Einigung der Jugend vollzogen ist, werden wir das beste Material heranziehen und eine Elite schaffen, die in kurzer Zeit die HJ so weit gebracht hat, dass es mit den Gruppen der Reichswehr, SA und SS in Ehren konkurrieren kann. Ein Befehl und sofort steht die Hitlerjugend.“


Zeitungsausschnitt aus der Jungvolkbeilage des „Altenburger Beobachter“; Jahrgang 1934


Zeitungsausschnitt aus der Jugendbeilage des „Altenburger Beobachter“ Ausgabe Nr. 305 vom 31.12.1034

Dienstag, 22. August 1933

Aufruf des Deutschen Jungvolks und der HJ … Deutscher Junge , stehe nicht weiter abseits, wenn deine Kameraden marschieren, komme heute aus freiem Entschluss aus jenen Jugendgruppen zu uns, die doch aufgelöst werden. Viele Kameraden warten auf dich, damit du mit ihnen auf Fahrt Heimat und echte Kameradschaft erlebst. Willst du ein Stubenhocker oder ein „Musterknabe“ sein und später einmal Spießbürger werden, dann bleibe weg. Willst du aber ein frischer, froher und gesunder Junge werden, der Achtung vor Elternhaus und Vaterland hat und später einmal seinen Mann stellt, dann komme zu uns in das Deutsche Jungvolk. Anmeldungen werden wochentags von 5 bis 6 Uhr im Heim, Neue-Sorge 43 entgegengenommen.

Ich wurde ein treuer und gewissenhafter Jungvolkjunge und war in zunehmendem Maße von der Richtigkeit der von übergeordneter Stelle kommenden Anordnungen überzeugt, auch wenn ich Gründe und Hintergründe nicht kannte. Das geheimnisvolle Wort, das dies bewirkte, war der „Befehl“. Ich lernte, dass ein solcher unter allen Umständen auszuführen sei. Die Ursache für eine solche Kritiklosigkeit kann ich nur in dem bedingungslosen Vertrauen sehen, das wir zu Hardchen hatten. Wenn er uns schon makellos erschien, dann mussten es diejenigen erst recht sein, die in der Rangliste über unserem Jungzugführer standen. Wir Pimpfe waren nun für den Weg in die Abgründe präpariert.

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