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7. Aufstieg

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Das Jahr 1935 brachte Hitlers ehrgeiziger Militär- und Außenpolitik sichtbare Fortschritte. Der neue „Volksempfänger“, den Goebbels im August 1933 auf der großen Funkausstellung in Berlin als besonderen Schlager herausgestellt hatte, trug jetzt schon die Erfolgsmeldungen in viele Haushalte. Wir hatten noch kein Rundfunkgerät und waren deshalb auf die Zeitungen angewiesen. Mit sensationellen Meldungen begann schon der Januar. In diesem Jahr hatte die Altenburger Landeszeitung auch noch manch weitere Gelegenheit, uns mit Schlagzeilen zu versorgen:

Dienstag, 15. Januar 1935

Die Saar ist heimgekehrt. … Die Altenburger Kundgebung beginnt heute Abend um 7.45 Uhr.

Selbstverständlich war die Hitlerjugend wieder mit auf dem Marktplatz, die Reichswehr jedoch diesmal auch. Nicht lange danach stand das Militär sogar bevorzugt im Blickfeld der Presse:

Montag, 18. März 1935

Allgemeine Wehrpflicht … Altenburg ehrt die gefallenen Helden. … Heldengedenkfeier auf dem Marktplatz … von Neindorff, Major und Standortältester hielt Ansprache … Parademarsch und Vorbeimarsch der Soldaten der Reichswehr … Gedenkfeier mit Pfarrer Löbe auf dem Heldenfriedhof.

Es war bei unserer Erziehung kein Wunder und auch nicht zu übersehen, dass wir Jungen beim Anblick paradierender Soldaten in Begeisterung gerieten. Solch ein Ereignis kannten wir ja nur von Bildern. Die Machthaber nutzten diese Gelegenheit geschickt aus, um die Jugend noch fester auf den Kurs der Militarisierung einzuspuren, wie die folgende Zeitungsnotiz zeigt:

Dienstag, 19. März 1935

Der thüringische Minister für Volksbildung, Fritz Wächtler, hat am 18. März folgende Anordnung erlassen: „Der Führer und Reichskanzler hat mit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht die deutsche Wehrfreiheit wieder aufgerichtet ….Unter dem Eindruck dieser großen geschichtlichen Wende … ordne ich folgendes an: Bis zum Ende des laufenden Schuljahres ist in allen mir unterstellten Schulen vom 6. Schuljahr ab, das Reichsgesetz für den Aufbau der Wehrmacht vom 16. März 1935 in den Mittelpunkt des Geschichtsunterrichts zu stellen … Es muss in der Jugend das tiefbeglückende Bewusstsein wachgerufen werden, dass ihr das Erleben größter und welthistorischer Entscheidungen beschieden ist …“

Diese „welthistorischen“ Entscheidungen waren damit verbunden, dass bereits im Juni zur Musterung der Jahrgänge 1914 und 1915, also der 20- und 21-Jährigen aufgerufen wurde. Im gleichen Monat verordneten neue Gesetze die Arbeitsdienst - und die Luftschutzpflicht. Altenburg wurde auch bald wieder eine Garnisonstadt. In seine Kasernen an der Leipziger Straße zog, wie schon im zweiten Deutschen Kaiserreich, die Infanterie ein. Das Leben der Menschen in der Stadt verband sich von nun an immer enger mit dem Leben der hier stationierten Soldaten. Wie alles Neue, zog uns Kinder dieses Geschehen an. Wir rannten anfangs überall hin wo Soldaten übten und marschierten. Das ließ mit der Zeit wieder etwas nach, wie alles was zur Gewohnheit wird. Zur Gewohnheit wurden auch bald das Knattern der Platzpatronen auf den Wiesen vor der Stadt, das Marschieren der zur täglichen Übung ausrückenden Marschkolonnen und ihr lauter Gesang in unserer Straße. Das Interesse der heiratsfähigen jungen Mädchen blieb groß. An den Wochenenden sah man immer mehr von ihnen mit ihrem schmucken Soldaten spazieren gehen. Größere Militärveranstaltungen zogen allerdings auch die übrige Bevölkerung in ihren Bann. Die Uniform als Repräsentation höchster Macht im Staate hatte unter den Deutschen leider noch nichts von ihrer Faszination eingebüßt.

Hierzu wieder ein paar Notizen aus der Altenburger Landeszeitung, die zeigen, dass man dieses Interesse wachzuhalten gewillt war:

Montag, 1. Juli 1935

Rückkehr des II. Bataillons … Von unserem II. Bataillon erhalten wir die Nachricht, dass die Übungen auf dem Truppenübungsplatz beendet sind. Das Bataillon wird einen Teil des Rückweges, und zwar von Mittweida bis Altenburg im Fußmarsch zurücklegen.

Dienstag, 24. September 1935

Willkommen im neuen Standort! Die Ankunft der IV. Abteilung des Artillerieregiments Naumburg. Gestern sind zwei Batterien des Art. Rgt. Naumburg in Altenburg, ihrem neuen Standort eingetroffen. Die offizielle Begrüßung wird am 30. September stattfinden.

Das war etwas für uns Jungen. Es gab nun auch noch Kanonen in unserer Stadt. Für die Artillerie war in Altenburg eine Erweiterung des Kasernenkomplexes vorgenommen worden. Außerdem hatte man eine ehemalige Fabrik im Ortsteil Kauerndorf für die zu Kurzübungen einberufenen Reservisten der Infanterie eingerichtet. Das war jenes oben genannte II. Bataillon. Sie hießen bei allen Leuten nur „die 8-Wochen-Soldaten“. Aus der Reichswehr der Weimarer Republik wurde die Deutsche Wehrmacht. Die Presse jubilierte:

Donnerstag, 7. November 1935

Die neuen Flaggen der Wehrmacht … Altenburgs Rekruten schwören Treue der Reichskriegsflagge …

Von der Entwicklung Deutschlands zu einem Militärstaat blieb keine Organisation der Partei unberührt. Damit ging auch für das Deutsche Jungvolk die Phase des romantisch eingefärbten Jugendlebens zu Ende. Es verschwanden bald die bunten, selbst entworfenen Wimpel und Fahnen .Die farbig geflammten Landsknechts Trommeln wichen den einheitlich schwarz-weiß geflammten. Außerdem erhielten wir Dienstgrade und Rangabzeichen. Der Dienst wurde straffer, es wurde geschult und gedrillt. Wir versuchten beim Exerzieren mit der Wehrmacht zu wetteifern. Die Leute sahen uns alsbald mit Staunen durch die Straßen ziehen. Manch alter Frontsoldat wird in den folgenden Jahren die Disziplin unserer Marschkolonnen mit Wohlgefallen betrachtet haben. Ja, es war so - diese Jugend tat in ihrer Mehrzahl mit Hingabe, was man von ihr erwartete. Sie bereitete sich darauf vor, „Den aufhaltsamen Aufstieg und Fall des Arturo Ui“ mit all ihren Kräften zu vollenden. Wir glaubten wirklich, es diene alles zum Besten unseres Landes. Als Zeitdokument möchte ich dazu wieder die Altenburger Landeszeitung zitieren:

Dienstag, 9. Juli 1935

Neue Dienstränge in der HJ … Als neuer und unterster Dienstrang wird bei der Hitlerjugend der Rottenführer eingeführt. Entsprechend erhält das Deutsche Jungvolk den neuen Rang des Hordenführers. Als Kennzeichen trägt der HJ-Rottenführer eine silberne Litze auf beiden Schulterklappen, der DJ-Hordenführer einen silbernen Winkel auf dem linken Unterarm.

Sonnabend / Sonntag, 10. / 11. August 1935

Das Führungsorgan der nationalsozialistischen Jugend „Wille und Macht“ bringt in seinem Heft vom 1. August einen Aufsatz „Der Soldat von morgen“. Er umreißt die Gestalt des Offiziers, des Unteroffiziers und des Dienstpflichtigen … In dem Dienstpflichtigen erkennt Helmcke (Anm.: Verfasser des Artikels) den Mann, der weiß, worum es geht. „Den Willen zum letzten soldatischen Einsatz ist diese Jugend entschlossen, der Welt zu zeigen“. Der Aufsatz …wird gerade in der Hitlerjugend ein gutes Echo finden, weil hier zum ersten Male das Gesicht des Soldaten von morgen gezeigt wird, der Vorbild der Nation ist.

Mittwoch, 28. August 1935

Jungvolklager Thräna. Mit dem 1. September wird das Führerlager Thräna wieder in Betrieb genommen werden. Dort werden jede Woche 50 Jungenschaftsführer und Hordenführer des Deutschen Jungvolks körperlich und geistig geschult. Aller 14 Tage finden Lehrgänge für Jungzugführer statt …

In dieser Zeit begann mein Aufstieg über die Leiter der Dienststellungen und Rangstufen im Deutschen Jungvolk. Im Grunde war ich überrascht, als man mir sagte, ich solle den Dienst eines Hordenführers übernehmen. Das war weiter nichts, als bei fünf bis sechs Jungen, die in meiner Nachbarschaft wohnten, den Beitrag zu kassieren und Benachrichtigungen für den Dienst zu überbringen. Ich tat es so gewissenhaft wie ich es konnte. Das war anscheinend gut genug, um mich eines Tages in jenes Führerlager nach Thräna zu schicken, damit ich mir den dazugehörenden Dienstrang mit dem Silberwinkel am Ärmel erstrampeln konnte. Das hielt ich damals für einen Vertrauensbeweis und eine Ehre. Was mich und die mit mir dort angereisten Kameraden erwartete, war so strapaziös , dass mir der zuständige HJ-Arzt bei der abschließenden Untersuchung riet, ich solle mich wegen meines Herzens in ärztliche Nachkontrolle begeben. Wir wurden dort von einem äußerst unsympathischen Jungvolkführer bis zur Erschöpfung geschliffen. Es war das erste Mal, dass ich gegen einen Jungvolkführer eine tiefe Abneigung empfand. Das barackenähnliche Backsteingebäude für dieses Führerlager war bereits im September 1933 dem Altenburger Jungbann von den Niederlausitzer Kohlenwerken zur Nutzung übergeben worden. Es gehörte bis dahin zum Braunkohlentagebau - und Brikettfabri k- Komplex in Thräna und lag an der sächsisch - thüringischen Grenze. Ein Tagebauloch lag direkt vor unserer Führerschule. Wenn irgendetwas nicht klappte, jagte uns jener Sadist von Ausbilder mit dem Befehl: „In den Tagebau marsch-marsch!“ über den Schräghang des oberen Abraums. Das geschah mitunter mehrmals hintereinander, so dass wir zum Schluss mit zitternden Knien und völlig k.o. wieder den oberen Tagebaurand erreichten. Natürlich lernten wir auch viele andere Dinge, die wir für recht interessant und nützlich hielten. So zum Beispiel den Umgang mit Karte und Kompass, Geländebeschreibung, Entfernungsschätzen, Tarnen und den vielen militärischen Kram, der einem im Laufe der Jahre dann in Fleisch und Blut überging. Diese Führerschule erlebte ich vermutlich Anfang des Jahres 1936. Ich war zum ersten Mal froh, eine Jungvolkveranstaltung hinter mich gebracht zu haben. Begeisterung hatte das Erleben nicht erzeugt. Dafür stellte sich als Nachwirkung ein eigenartiger Effekt ein: Ich merkte bald, dass ich nun mehr gefordert und gefragt war in meinem Fähnlein. Auf einmal war der kleine Pimpf herausgehoben aus der Masse der Anderen weil er einen Einsatz mit ganz besonderen Anforderungen ehrenvoll bestanden hatte. Ein Ehrgeiz zu etwas Besonderem war mir bis dahin so gut wie fremd gewesen. Jetzt war ich zwar nur um ein Weniges herausgehoben, doch im Laufe der Jahre veränderten sich meine Rangabzeichen weiter. Führer Schnüren kamen eines Tages auch dazu. Sie zeigten die Dienststellung an, die man einnahm. Daran konnte jeder erkennen, über wieviel Jungen der betreffende Träger das Kommando führte. Es bedeutete allerdings auch, dass der Betreffende in der Lage sein musste, den Dienstbetrieb für seine ihm unterstellte Einheit zu organisieren und zu lenken. Zunächst war daran bei mir noch nicht zu denken denn ein Bestreben aufzusteigen war bei mir kaum vorhanden. Allmählich entwickelte sich unter der Führerschaft des Jungvolks ein gewisses Elitebewusstsein und eine Eitelkeit von der besonderen Art, wie ich sie schließlich bei allen uniformierten Formationen dieser Zeit beobachtete. Uns war das durchaus bewusst und wir frozzelten darüber. War einer in eine höhere Dienststellung aufgerückt, dann wurde von den Anderen manchmal gewitzelt, er drücke die linke Brusthälfte zu weit nach vorn. Linksseitig trug man nämlich die Führer Schnüren vom Jungzugführer an aufwärts.

Mit der Beseitigung der jugendgemäßen Vielfalt im Erscheinungsbild des Deutschen Jungvolks zu Gunsten einer militärischen Einheitlichkeit wurde bereits im Januar 1935 begonnen, als in Marienburg 600 Jungbannfahnen geweiht wurden. Davon kamen 21 nach Thüringen. Eines Sonntagvormittags erfolgte am Altenburger Bahnhof durch uns die feierliche Einholung unserer Jungbannfahne. Etwas später bekamen wir die ebenfalls „geweihten“ Fähnleinfahnen, alle vom gleichen Format, mit weißer Siegrune auf schwarzem Grund und mit eingestickter Fähnleinnummer. Die nach uns in einem demokratischen Staatswesen lebenden Menschen werden es nicht für möglich halten, in welchem Ausmaße 33 Monate nach Hitlers Machtübernahme nicht allein die Jugend, sondern auch die Erwachsenen auf ein militaristisches Gehabe eingeschwenkt waren. Dazu noch eine Notiz aus der Altenburger Landeszeitung:

Sonnabend / Sonntag, 20. Oktober 1935

Thing des Stammes Kauffungen. Dumpfe Schläge der Landsknechts Trommeln hallen durch die Straßen der Stadt, und dazwischen erklingen die hellen Fanfaren. Die Leute auf den Straßen bleiben stehen und grüßen mit erhobener Rechten die Fahnen der jüngsten Gliederungen der nationalsozialistischen Bewegung. Der Marsch geht auf den Platz vor der früheren Nikolaikirche … Es ist zum ersten Male, dass das Altenburger Jungvolk seinen Thing nicht draußen im nächtlichen Wald abhält, sondern hier mitten in der Stadt, in einem der ärmsten Viertel …


Zeltwache, Pfingstlager 1934


Entrollen der Fahnen für den Abmarsch ins Pfingstlager 1941

Aus romantischem Spiel wird schrittweise die Vorbereitung auf den kriegerischen Ernstfall.

Ich muss gestehen, eine Vorstellung über meine Zukunft und berufliche Entwicklung habe ich erst ziemlich spät, in meinem sechzehnten Lebensjahr erlangt. Dann aber war ich mir sehr sicher und verfolgte dieses Ziel mit großer Hartnäckigkeit gegen alle Widerstände und Misslichkeiten meines Lebens.

Bis dahin tat ich, was der Tag von mir verlangte und verbrachte den Rest der Zeit mit dem, was gerade mein Interesse gewonnen hatte. Die Pflichten des Tages trugen Schule und Jungvolkdienst an mich heran. Das Angenehmste in meinen Beschäftigungen ergab sich aus persönlichen Neigungen und vielfältigen Anregungen aus meiner Umgebung. Daran gewannen Beobachtungen in der Natur ebenso ihren Anteil wie Bücher, Filme und alle möglichen Erlebnisse in unserer Stadt.


Blind am Rande des Abgrundes

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