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2. Gewalt

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Unserem Wohngebiet war im Osten eine Anhöhe vorgelagert, über die eine Fernverkehrsstraße von Leipzig her auf die Stadt zuführt. Sie ging an den früheren Kasernen vorbei, in deren gelben Backsteingebäuden man nach dem Ersten Weltkrieg Notwohnungen für die Ärmsten der Stadt eingerichtet hatte. Der Bedarf war so groß, dass man zusätzlich dazu noch Baracken aufstellen musste. Die Kinder der dort zusammengepferchten Menschen wurden von denen anderer Wohngebiete gemieden. Auch die Erwachsenen grenzten sich ab. Es waren damals wie heute dieselben Gründe, die dazu führten: Die Armut der einen und die Verständnislosigkeit der anderen. Zwischen den Halbwüchsigen beider Lager entstanden daraus Feindschaften, die sich zu regelrechten „Kriegszuständen“ entwickeln konnten. Sie wurden ziemlich oft brutal gegeneinander ausgetragen.

Es kamen die letzten Jahre vor Hitlers Machtergreifung. Die zunehmenden Spannungen und Aggressionen in der Gesellschaft wirkten sich zum Teil auch auf die Kinder und Jugendlichen aus. Mit meinen sechs oder sieben Jahren begriff ich in Wirklichkeit nicht, weshalb man sich prügelte. Natürlich wusste ich, dass Nazis, Sozis und Kommunisten nicht gut aufeinander zu sprechen waren. Es gab ja in unserer Straße auch eine große Plakatwand, auf der die Parteien ihre Gehässigkeiten sehr anschaulich gegeneinander vortrugen. Die gegensätzlichen politischen Meinungen der Erwachsenen konnte man manchmal mit anhören ohne mehr zu verstehen als, dass alle gegen alle waren. Eines Tages lernte ich auch die besondere Art Feindschaft zwischen Sozis und Nazis fürchten. Ich spielte mit Wolfgang Rank, einem Nachbarsjungen, der mit mir 1931 eingeschult worden war, auf dessen elterlichen Grundstück. Das Scheppern eines Blechgefäßes vor dem Gartentor weckte unsere Neugier und wir liefen auf schnellen Füßen dahin, von wo das Geräusch kam. Voller Schrecken drehten wir wieder bei, als wir sahen, dass sich zwei Männer prügelten. Beide schlugen mit Zaunlatten aufeinander ein. Sie bluteten schon. Es war das erste Mal, dass ich mit ansah wie sich Erwachsene prügelten. Der Vorfall war am nächsten Tag Straßengespräch der Erwachsenen. Dadurch erfuhren wir, welche politischen Parteien in diesem Zweikampf vertreten waren.

Es kam der 30. Januar des Jahres 1933 heran. Wir hatten schneelose Wintertage. Ich kann mich noch deutlich daran erinnern, dass mich eines Tages die seltsame Art der Beflaggung der Häuser in unserer Straße beeindruckte. Als Achtjähriger nahm ich damals auch sonst nur die äußeren Erscheinungen des Geschehens wahr. Ich hatte ja schon viele Tage erlebt, an denen die Häuser Flaggenschmuck trugen. An diesem Tage fand ich es sehr merkwürdig, dass sich allein die Hakenkreuzfahnen in den kaltblauen Himmel reckten. Sonst waren jedenfalls die fahnenreichen Tage viel bunter. Da hob sich gewöhnlich ein Haus in unserer Straße durch besondere Farbenvielfalt heraus. In seinem ersten Stockwerk zeigte es sonst eine schwarz-weiß-rote und im zweiten Stockwerk eine schwarz-rot-goldene Fahne. Aus den beiden Wohnungen im obersten Stock hingegen wurden an Feiertagen jeweils eine rote Fahne mit und eine rote ohne Hakenkreuz nebeneinander gezeigt. Diesmal fehlte diese vertraute Vielfalt. Vielleicht hatte ich schon damals ein Gefühl für Beständigkeit, vielleicht fand ich es einfach nur langweilig. Jedenfalls gefiel mir die kalte Straße mit ihren vielen kalten Hakenkreuzen nicht sonderlich. Ich wusste noch nicht, wie leicht man sich an sowas gewöhnen kann, wenn es einem lange genug vor die Nase gehalten wird. Jedenfalls kannte ich die Bewohner jenes sonst so farbenprächtig geschmückten Hauses alle recht gut. Herr K., dessen Hakenkreuzfahne heute als einzige aus der oberen Etage wedelte, schnitt mir manchmal in seiner Wohnstube die Haare. Er war arbeitslos und hatte mehrere erwachsene Söhne. Familie Boost nebenan lebte in denselben ärmlichen Verhältnissen. Ihre Fahne fehlte heute. Die alten Leute lebten mit einer unverheirateten erwachsenen Tochter und deren Sohn Herbert zusammen. Mit ihm ging ich in die gleiche Schulklasse. Ich weiß noch, dass er gut zeichnen konnte. Besonders gern malte er Pferde, die er sehr liebte. Die Leute mit den beiden anderen Fahnen hielt ich für „vornehm“. Dieses Eigenschaftswort hatte ich bei den Erwachsenen aufgeschnappt, ohne dass ich recht wusste ob es mehr den Verstand oder den Besitzstand bezeichnen sollte. In die genannte Kategorie gehörte für mich jedenfalls der Hausbesitzer mit seiner schwarz-weiß-roten Fahne. Sie war später noch häufig neben der Hakenkreuzfahne zu sehen, bis sie sich eines Tages in eine ebensolche umgewandelt hatte. Jetzt schien sie noch als Ausnahmefall geduldet. Ein kalter Wind pfiff mir entgegen, als ich durch die Bahnunterführung ging, um irgendeine Besorgung zu erledigen. Von ferne trug der Wind Marschmusik aus der Stadt herüber. Lange hat mich der beobachtete Flaggenwechsel sicher nicht beschäftigt. Auch die Erwachsenen taten in den folgenden Tagen was sie immer schon getan hatten. Ich kann mich auch nicht erinnern, dass die Menschen, wie sonst ihre Ansichten zum Geschehen dieser Tage untereinander austauschten. Bestimmt wichen ihre Meinungen darüber ebenso weit voneinander ab wie ihre eingerollten Fahnen, die sie von nun an nicht mehr sehen ließen. Was meine Eltern vom Tage der Machtergreifung durch Hitler hielten, erfuhr ich ebenso wenig. Sie sprachen in meiner Gegenwart nicht über Politik. Mein Vater, inzwischen Lokheizer bei der Deutschen Reichsbahn geworden, war sicher froh, noch Arbeit zu haben. Eine Fahne besaß er jedenfalls nicht. Für einen angehenden Beamten war das vermutlich auch das Vernünftigste. Aus einem Vorfall, der sich einige Jahre vorher zugetragen hatte, möchte ich schließen, dass Hitler und seine Leute bei Wahlen wahrscheinlich nicht die Favoriten meiner Eltern gewesen sind. Ich war vielleicht fünf oder sechs Jahre alt, da zeigte mir der jüngste Sohn der Familie K., wie man Hakenkreuze malt. Schließlich stiftete er mich dazu an, mit diesem mir unverständlichen Zeichen die Zaunlatten vor unserem Nachbarhause zu verzieren. Da ich den Jungen gut leiden konnte, tat ich was er verlangte. Die Reaktion meiner Mutter auf diese mühsame Kreidemalerei war ungewohnt heftig. Ich verstand meine sonst milde und gütig reagierende Mutter damals überhaupt nicht.

Ostern 1933 beendete ich mein zweites Schuljahr. Den täglichen Gang zur Schule nahm ich als einen Auftrag hin, der mir von den Erwachsenen zugewiesen und deshalb nicht zu umgehen war. In der Klasse saßen wir Schüler so lange still wie der Lehrer im Raum war. An seiner Autorität zweifelten wir nicht. Es war uns bewusst gemacht worden, dass Lehrer zu mächtig sind als dass man sich ihren Forderungen widersetzen durfte. Der Rohrstock gehörte seinerzeit noch zu den Arbeitsgeräten des Pädagogen. Er wurde erforderlichenfalls auch eingesetzt. Wie oft sich ein solches Erfordernis ergab, war von unserem Verhalten aber auch von der Mentalität des Lehrers abhängig. Mit diesem Instrument klassischer Knabenerziehung hatte ich schon im ersten Schuljahr nähere Bekanntschaft machen dürfen. Ursache war mein noch unterentwickeltes Bedürfnis zum Stillsitzen und das Bedürfnis des Klassenlehrers, von Beginn an seine Autorität unantastbar zu machen. Dieser Lehrer, den ich in der Folgezeit sehr schätzen lernte, schaffte eben einfach klare Beziehungen zwischen sich und seiner Klasse, indem er rasch und unmissverständlich zur Tat schritt. Aus meiner Kindheit habe ich noch immer den hierzu passenden Sinnspruch parat: „Was ein Häkchen werden will, das krümmt sich beizeiten.“ Ich konnte zwar nie begreifen, wozu ich ein Häkchen werden musste. Damals mochte ich wohl gedacht haben, dass dies die Erwachsenen schon wüssten, zumal selbst alte Leute diesen Spruch aufsagten. In dieser Hinsicht waren Eltern und Lehrer durchaus einer Meinung. Auch mein Vater huldigte dieser damals gängigen Erziehungsmethode, was bei seiner Neigung zum Jähzorn für mich manchmal sehr unangenehm werden konnte.


Klasse 1a der Nordschule in Altenburg; Foto: 1931

Blind am Rande des Abgrundes

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