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9. Freunde

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Hatte es mir in unserem Wohnbereich schon nicht gerade an Spielgefährten gefehlt, so erweiterte sich die Zahl der Jungen, mit denen ich Umgang hatte noch wesentlich durch meine Jungvolkkameraden und meine Schulkameraden. Ich möchte hier nur auf einige wenige kurz zu sprechen kommen, zu denen ich eine ganz besondere Zuneigung empfand oder mit denen mich eine Freundschaft über viele Jahre hinweg verband.

Unter ihnen ist Hans Fedoroff einer besonderen Erwähnung wert. Wir begegneten uns schon bald nach meinem ersten Eintreffen in Altenburg, spielten also schon in unserer frühen Kindheit miteinander. Als wir uns kennenlernten wohnte er in der gleichen Straße wie ich. Hans war ein Jahr älter als ich. Wir verstanden uns von Anfang an so gut, dass uns auch ein späterer Wohnungswechsel seiner Eltern nicht voneinander trennen konnte. Sein Vater, ein Exilrusse, war schon vor dem Ersten Weltkrieg nach Deutschland gekommen und hatte in Altenburg eine deutsche Frau geheiratet. Unsere Gemeinsamkeit wurde zunächst nur unmerklich gelockert als ich begann, das Realgymnasium zu besuchen. Da zwangen mich immer häufiger einmal meine vermehrten Schulaufgaben, in der Wohnung zu bleiben wenn Hans vor unserem Fenster nach mir rief. Trotzdem fanden wir auch dann noch immer Gelegenheit, miteinander durch die Fluren vor der Stadt zu stromern. Im Laufe der Jahre gab es wohl kaum eine Stelle am Ufer der Blauen Flut, an der wir nicht schon einmal den Bach übersprungen hatten. Auch kannten wir alle hohen Bäume der Umgebung und wussten wie sie zu erklettern seien. Jedes Buch von Karl May und jeder Schmöker über Trapper und Indianer, den wir gelesen hatten, war von uns in den Wäldchen und Wiesen unserer nahen Umgebung nachgespielt worden. Alles was uns bewegte, konnten wir miteinander besprechen und jede Neuigkeit tauschten wir miteinander aus. So hörte ich zum Beispiel von Hans erstmals in meinem Leben eine Schilderung der Nibelungensage, die er früher als ich im Schulunterricht kennenlernte. Dann kam für Hans mit seinem 14. Lebensjahr das Ende der Schulzeit und er trat eine Lehre als Kaufmannsgehilfe an. Für mich nahmen zu dieser Zeit nun auch die Anforderungen von Schule und Jungvolk immer mehr zu. So lockerte sich unsere Beziehung zwangsläufig. Als Halbrusse konnte Hans nicht dem Deutschen Jungvolk beitreten. Uns hatte dies die ganzen Jahre seiner Schulzeit keineswegs auseinanderbringen können. Ich denke heute aber, dass es seine Familie damals nicht leicht gehabt haben musste. Darüber sprachen wir kaum miteinander. Vielleicht wusste er selbst auch nicht allzu viel darüber. Aus heutiger Sicht vermute ich, dass die Eltern von Hans aus Gründen der persönlichen Sicherheit wenig über ihre Situation redeten und alle Konfrontation mit der offiziellen politischen Linie zu vermeiden trachteten. Ich erinnere mich jedoch deutlich daran, dass Hans einmal meine vom Jungvolk her nazistisch indoktrinierten Vorstellungen über Russland mit großer Bestimmtheit zu korrigieren suchte. Wir hatten viel zu viel Gemeinsames, als dass eine solche Meinungsverschiedenheit irgendwelche Konsequenzen hätte haben können. Ein ernsthaftes Nachdenken über Hitlers Politik wurde allerdings bei mir durch die Freundschaft mit Hans Fedoroff nicht ausgelöst. Der Vater meines Freundes war ein sympathischer Mann, der eine große Ruhe ausstrahlte. Er arbeitete in einer Gießerei und war von kräftiger Statur. Als wir noch in den Anfängen unserer Schulzeit steckten, nahm er uns beiden Jungen an Sonntagen mit zum Fußballplatz denn er war ein ausgesprochener Fußballfan. Herr Fedoroff hatte auch eine besondere Begabung zum Malen und Zeichnen. Er arbeitete oft an Ölgemälden, auf denen er meist Landschaften darstellte. Frau Fedoroff sah es offensichtlich nicht ungern, dass sich ihr Sohn mit mir befreundete. In ihrem Hause fühlte ich mich jedenfalls stets willkommen. Ich denke, diese Freundschaft zu Hans und meine Kontakte mit seinen Eltern haben mit dazu beigetragen, dass ich später nicht imstande war, den extremen Äußerungen offizieller Hetzpropaganda über russisches „Untermenschentum“ innerlich zuzustimmen. Deshalb messe ich dieser gemeinsamen Jugendzeit mit Hans eine besondere Bedeutung für mein Leben bei.

Eine ebenfalls sehr enge Freundschaft verband mich in meiner Geburtsstadt Auerbach mit den „Dungers Bu´m“. So nannten meine Verwandten die beiden Söhne eines dort ansässigen Futtermittelhändlers namens Dunger. Während meiner Schulzeit wurde ich von ihnen immer schon erwartet wenn die Sommer- oder Herbstferien heranrückten, weil ich aus Altenburg jedes Mal eine neue Idee für unsere Ferienunternehmungen nach Auerbach mitbrachte. Erich Dunger war drei Jahre älter als ich, während sein Bruder Johannes in meinem Alter war. Wir Drei bildeten den Kern einer Gruppe von etwa acht Jungen, die in den Schulferien gemeinsam ihre freie Zeit in Auerbach und seiner näheren Umgebung verbrachten. Diese Jungen hatten mich schon während meiner frühen Kinderjahre auf eine bemerkenswerte Art in ihre Gruppe aufgenommen, indem sie es fertigbrachten, mich vom Spiel mit einem Mädchen abzubringen. Am Mühlberg, wo sich das Haus meiner Großeltern befand, gab es in meiner Altersgruppe zwei Mädchen mit denen ich spielen konnte. Besonders hatte ich mich mit der Tochter eines Böttchers am unteren Ende der Straße angefreundet. Wir waren häufig in dem kleinen Garten des Böttcheranwesens, in dem es auch eine schöne von wildem Wein umrankte Holzlaube gab. Else Walther, so hieß die liebenswerte Böttcherstochter, besaß viele kleine und größere Holzwannen und -bottiche, in denen sich herrlich mit Wasser matschen ließ. Wir badeten darin alle ihre Puppen. Ich habe mich überhaupt im Vorschulalter noch gern mit dem Puppenspiel befasst. Die Dungers Bu´m wurden jedoch zu den Urhebern der ersten Tränen, die ich in meinem Leben bei einem weiblichen Wesen verursachte. Es war ein echter Treubruch, den ich an Else beging. Ich denke, dass auch ich ein bisschen darunter gelitten habe, dies aber nicht so deutlich merken ließ. Das ereignete sich etwa folgendermaßen: Eines Tages, ich mochte vielleicht fünf Jahre alt gewesen sein, hatten uns die Jungen in Walthers Garten beobachtet und ließen von da an nun nicht mehr ab, mich zu hänseln weil ich mit einem Mädchen und seinen Puppen spielte. Das mag einige Tage so gegangen sein. Schließlich schien sich in der ständigen Wiederholung dieses Vorwurfs wohl für mich eine Wahrheit zu verstecken. So ging ich denn, wie von der Meute vor dem Gartenzaun erwartet, ins gegnerische Lager über. Unter diesen Jungen wurde ich im Laufe der Zeit zum spiritus rex der meisten gemeinsamen Unternehmungen. In meiner Erinnerung habe ich noch die folgenden präsent: Als ich in Altenburg auf dem Jahrmarkt die erste Gespensterbahn in meinem Leben kennenlernte, wurde von uns während der nächsten Ferien in der alten stillgelegten Schmiede meines Großvaters eine Gespensterbahn aufgebaut. Die wichtigsten Requisiten dazu waren ausgehöhlte Kürbisse, in die brennende Stearinkerzen gestellt wurden. Einmal haben wir auf meine Anregung hin in Dungers Garten ein großes Zirkuszelt errichtet und darin für die Kinder der Nachbarschaft zum Preise von einem Pfennig pro Besucher ein mehrfach wiederholtes Zirkusprogramm vorgeführt. Natürlich haben wir auch im Zirkus übernachtet. Der Dungersche Garten lag an einem Berghang hinter der Katholischen Kirche. In dieser Gegend konnten wir an Wochentagen so viel Lärm machen, wie wir wollten denn unsere Zirkusvorstellung war vor allem sehr laut. Laut ging es dort auch zu, als wir einmal die Sommerferien mit der Vorführung der Kreuzzüge verbrachten. Wir hatten tagelang zu hämmern und zu nageln, bis die erforderlichen Schilde und Schwerter aus Herrn Dungers Holzvorräten fabriziert waren. Aus vorgefundenen Farbtöpfen erfolgte schließlich weniger lautstark die Bemalung der Schilde mit Kreuzen für die Partei der Ritter beziehungsweise mit Stern und Halbmond für die Türken. Bald darauf ertönte tagelanger Kampflärm im Dungerschen Garten bis endlich auch die weiter entfernt wohnende Nachbarschaft energischen Protest einlegte. Einmal hatte ich die Idee, Blasrohre zu fertigen aber uns fehlte das geeignete Material. Nach langem Herumstreunen ergab sich ein besonderes Abenteuer für uns. Wir durchwateten die Göltzsch an einer dem Gaswerksgelände gegenüberliegenden Stelle, um auf den Materiallagerplatz zu gelangen. Einer von uns hatte herausgefunden, dass dort Kisten mit langen Glasrohren lagerten, vermutlich waren sie als Labormaterial beschafft worden. Hier versorgten wir uns mit reichlich Blasrohren von einem Durchmesser, durch den man Vogelbeeren pusten konnte. Das verschaffte uns über Wochen hinweg die schönsten Vergnügen. Als wir uns genügend lange gegenseitig mit den kleinen roten Beeren vollgepustet hatten, bekamen arglose Erwachsene das zweifelhafte Vergnügen, herauszufinden aus welchem Hinterhalt ihnen die Vogelbeeren gegen die Mütze geschnippt wurden. Einmal gruben wir auf meine Veranlassung in einen Wiesenhang oberhalb der Straße nach Rodewisch eine Höhle nach Art eines Bunkers. In diesem Unterschlupf fanden etwa vier Jungen Platz. Das Bauwerk war hangansteigend mit Grassoden abgedeckt, so dass es von der Höhe aus nicht erkennbar war. Trotzdem denke ich, dass der Besitzer der Wiese unsere Aktivitäten auf seinem Grundstück wohl bemerkt haben mag. Die Weidefläche für seine Ziegen dürfte aber durch uns kaum geschmälert worden sein und der Mann hatte wohl auch Rücksicht auf einige ihm wohlbekannte Rabauken nehmen wollen. Die Dungers Buben hatten, im Gegensatz zu mir, im elterlichen Hause sehr viele Pflichten zu erfüllen. Manchmal musste von ihnen noch ein Tafelwagen mit Mais oder anderem Körnerfutter zu einem Kunden gefahren werden, ehe wir mit unseren eigenen Unternehmungen beginnen konnten. Ich half ihnen dann den schweren Wagen die bergigen Straßen der Stadt hinanzuschieben, damit der lästige Zeitaufschub so klein als irgend möglich blieb. Es war schon mitunter ein ziemlicher Plack und wir schwitzten bei warmem Wetter ganz gewaltig dabei. Ich sah wohl, dass ich es diesbezüglich mit meinem eigenen Zuhause recht gut getroffen hatte. Die Dungers kannten es nicht anders, als dass sie tüchtig mit anpacken mussten wenn das elterliche Geschäft laufen sollte. Sie waren geduldig und zähe. Wir konnten mancherlei voneinander lernen. Johannes ist leider aus dem Krieg nicht wieder heimgekehrt. Erich, der den Krieg überstand, zog von Auerbach weg. Wir haben uns nie wieder gesehen aber ich denke, auch er wird sich noch mit Schmunzeln an die Zeit der Schulferien in Auerbach erinnert haben.

Einen Freund ganz anderer Art gewann ich durch meinen Schulwechsel in das Realgymnasium. Eines Tages kam ein neuer Schüler in unsere Klasse, gerade als wieder einmal die Schulferien zu Ende waren, die ich in Auerbach verbracht hatte. In meiner Schultasche befand sich eine Tüte Bonbons, wie ich sie jedes Mal von meiner Großmutter mit auf den Weg nach Altenburg zugesteckt bekam.


Unsere Zirkustruppe in Dungers Garten (Erich Dunger 2. v. rechts, Johannes Dunger 5. v. rechts), Foto um 1937/38

In der Pause bot ich davon, wie üblich, den mir zunächst sitzenden Klassenkameraden an. Da der Neue einen Platz schräg hinter mir besetzt hatte, war auch er unter den Glücklichen, die in meine Tüte langen durften.

Damit war für mich die Angelegenheit eigentlich erledigt. Günter Rottmann, so hieß der Neue, schien aber meine Freigebigkeit so beeindruckt zu haben, dass er sich bei der nächsten Sitzverteilung um den Platz neben mir bewarb, was auch tatsächlich gelang. So wurden wir Banknachbarn und nach und nach gute Freunde für die ganze weitere Dauer unserer gemeinsamen Oberschulzeit. Dieses Ereignis fiel etwa in die Zeit, als sich die Wege von Hans Fedoroff und mir wegen dessen beginnender Berufsausbildung zu trennen begannen. Mit Günter Rottmann spielte ich in der Freizeit die Periode der Trapper- und Indianergeschichten zu Ende. Er kam aus einem mir bis dahin einigermaßen fremden Milieu. Sein Vater arbeitete als Oberingenieur beim Aufbau des Schwelwerkes in Regis. Seine Mutter, eine ehemalige Sängerin, war nicht mehr berufstätig. Die Familie bewohnte in der Leipziger Straße eine für meine damaligen Vorstellungen riesengroße Wohnung. Ich betrat sie mit der seinerzeit üblichen Ehrfurcht von Kindern kleiner Leute, die Zutritt in ein Villengrundstück bekommen. Günter hatte noch zwei jüngere Brüder, mit denen ich wenig zu tun bekam. Er selbst war schon daran gewöhnt mit Erwachsenen Konversation zu machen, konnte höflich und sehr geschickt verhandeln und schrieb seine Aufsätze, ohne viel am Ausdruck zu feilen, sehr flüssig aufs Papier. Das beeindruckte mich ebenso wie die Zuverlässigkeit, mit der er fortan mit mir verbunden war. Bei Herrn Studienrat Löbe, unserem Klassen- und Deutschlehrer hatte er einen besonderen „Stein im Brett“. Sein Redetalent befähigte ihn übrigens sogar dazu, selbst über Themen reden zu können, von denen er nicht viel wusste. Das unterschied uns wesentlich voneinander. Einmal sollten wir irgendein Drama zu Hause lesen und zur Diskussion im Deutschunterricht vorbereiten. Günter kam zur nächsten Deutschstunde völlig unvorbereitet und hatte das Pech, als Erster aufgerufen zu werden. Er schoss aus der Bank hoch und begann ohne Stocken mit allgemeinen Vorbemerkungen, während er mit nervösen Handbewegungen auf meine aufgeschlagene Literaturbroschüre deutete. Indem ich ihm ständig einige Stichworte daraus lieferte, gelang ihm das Husarenstück, ununterbrochen zu reden. Er erhielt die Note „sehr gut“. Wie immer Freundschaften begründet werden mögen, sie haben auch mit gegenseitiger Vorteilsnahme zu tun, was mir recht spät in meinem Leben wirklich klar wurde. Wir halfen uns jedenfalls gegenseitig in schulischen Angelegenheiten so gut das möglich war. Günter war ein großzügiger und fairer Kamerad. Durch den Umgang mit ihm wurde ich erstmals aus den mir vertrauten Verhältnissen meines Wohnumfeldes heraus an die Welt des sozial bessergestellten und kulturell anspruchsvolleren Bürgertums herangeführt. Dabei erkannte ich, dass trotz Proklamierung eines angeblich nationalen „Sozialismus“ und der vielbeschworenen Gleichstellung der Menschen im Dritten Reich, große Standesunterschiede vorhanden waren. Im selben Ausmaß wie sich diese Erkenntnis bei mir festigte, beherrschten mich mitunter eine ziemliche Unsicherheit und innere Hemmnisse. Als wir sechzehn Jahre alt wurden und traditionsgemäß die Schülertanzstunde der bekannten Altenburger Tanzschule Schaller zu besuchen war, musste mir zum Beispiel Günter Rottmann sehr ins Gewissen reden, dass ich mich dort anmeldete. Ich habe es nicht bereut, dass wir dort außer den Tanzschritten bei Tango, Foxtrott, Rheinländer und Walzer auch mancherlei über manierliches Verhalten in der Gesellschaft lernen konnten. Von unseren Tänzerinnen kamen viele aus gutsituierten Verhältnissen. Wir kannten sie mehr oder weniger gut aus den Hitlerjugendveranstaltungen und vom Altenburger Freibad. Manche waren zickig, andere waren sehr liebenswert. Mit meiner Tanzstundendame hatte ich Glück. Ruth Lindig stammte zwar aus begütertem Hause aber sie war ein durch und durch natürliches Mädchen. Ich kannte sie schon als Führerin einer Jungmädelschar. Bei ihr habe ich meinen ersten Hausball erlebt, mit Küsschen auf dem im nächtlichen Dunkel liegenden Balkon. Ihr Passbild habe ich später mit noch einigen anderen in meiner Uniformjacke durch die schrecklichsten meiner Jahre getragen.

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