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8. Non scholae, sed vitae discimus
ОглавлениеMein Vater hatte vermutlich schon lange ziemlich klare Vorstellungen über die Grundlagen meines Fortkommens. Er war in seinen Jugendjahren zu der Erkenntnis gelangt, dass einzig und allein eine solide Schulbildung den Weg in eine gesicherte Existenz eröffne. Nachdem er seine Schlosserlehre in Stendal beendet hatte, war er von zu Hause weggegangen und hatte versucht aus eigener Kraft voranzukommen. Das brachte ihn auf der Grundlage seiner Berufsausbildung mit der Zeit bis zum Lokomotivführer. Sein Wunsch, durch ein Fernstudium noch das Abitur nachholen zu können, überforderte ihn, weil er sehr früh eine Familie ernähren musste. Damit endete sein weiterer gesellschaftlicher Aufstieg. Der Beweis für sein damaliges Streben befindet sich in Gestalt einer kompletten Sammlung von Selbstunterrichtsbriefen des Rustinschen Lehrinstituts, Verlag von Bonneß & Hachfeld, heute in meinem Bücherschrank. Darin dokumentiert sich ein Streben meines Vaters, das sein Handeln als Erzieher zweier Kinder wesentlich beeinflusste und vor allem sein Verhalten mir gegenüber prägte. Ich sollte nach seinen Vorstellungen einmal erreichen, was ihm nicht vergönnt war, das Abitur. Dabei war ich überhaupt nicht der Typ eines Aufsteigers, eher der eines einigermaßen begabten Träumers. Nach dem pädagogischen Verständnis meines Vaters gab es für mich zwei Grundregeln: Ich hatte unbedingt zu gehorchen und außerdem meine Hausaufgaben ordentlich zu machen. Ansonsten genoss ich eine ziemlich weitgehende Verfügbarkeit über meine Zeit. Als jedoch die Zeit heranrückte, wo sich die Kinder meines Alters auf die Aufnahmeprüfung für das Gymnasium oder das Realgymnasium vorbereiten mussten, da lehnte ich ab die Schule zu wechseln. Man meldete mich trotzdem im Herzog- Ernst-Realgymnasium der Stadt Altenburg an. Im Winterhalbjahr trainierte mich mein Klassenlehrer, gemeinsam mit vier anderen zur Aufnahmeprüfung bestimmten Klassenkameraden so gut, dass weder er noch unsere Väter ein Misslingen besagter Aufnahmeprüfung zu Jahresanfang 1935 befürchten mussten. Ein kritischer Moment trat dann doch noch ein, als ich in Marsch gesetzt werden sollte, um mich dieser Prüfung auch wirklich zu unterziehen. Ich weigerte mich dorthin zugehen. Es war das aber gerade die Zeit, in der ich mich intensiv für das Spiel mit jenen schon beschriebenen Elastolin-Soldaten interessierte. Eine bestimmte Figur, es war ein MG-Schütze, hatte ich im Schaufenster des Spielwarenladens auf dem Markt oft bewundert und begehrt. Leider bestand außerhalb von Geburtstagen keine Chance, ihn zu erhalten. So fand meine sparsame Mutter einen interessanten Ausweg: Sie versprach mir, dass ich bei Bestehen der Aufnahmeprüfung ihr altes Bügeleisen bekäme, womit ich beim Schrotthändler sicher die paar Groschen erhalten könnte, die zur Anschaffung des begehrten Stückes erforderlich sein würden. Ich willigte ein und gehörte zu den Anwärtern, die ihre Prüfung bestanden. Alle waren zufrieden, ich bekam meinen MG-Schützen und fand mich kurze Zeit danach in Klasse Sexta des Realgymnasiums wieder. Diese Schule war gerade einer Reform dahingehend unterzogen worden, dass die Schüler sich am Ende der Obertertia entscheiden konnten, ob sie mit einer Lateinausbildung bis zur Oberprima mit Abiturabschluss bleiben oder mit einer Realabschlußprüfung aus der Untersekunda abgehen wollten. Dies dürfte für die Väter minderbegabter Schüler einige Sicherheit bedeutet haben, ihr Geld auch dann noch vernünftig angewendet zu haben, wenn ihre Sprösslinge nur den halben Weg durch die Klassenstufen schaffen sollten. Wenn ich mich recht erinnere, betrug das von meinem Vater zu berappende Schulgeld 200 Reichsmark im Jahr, das war ein ganzes Monatsgehalt.
An dieser Stelle möchte ich wieder einige Passagen aus der Altenburger Landeszeitung zum Thema Schule einfügen, weil damals der Staat auch hier seinen Einfluss auf die Erziehung der jungen Generation mit Nachdruck geltend machte. Zunächst soll noch eine Notiz der Altenburger Landeszeitung zur erwähnten Reform unserer Schule wiedergegeben werden:
Dienstag, 29. Januar 1935
Aufbau des Ernst-Realgymnasiums … der amtliche Name der Schule wird wie folgt festgelegt: „Reformrealgymnasium - Ernst-Realgymnasium“ … Die eingeführte und weiterhin genehmigte Schülermütze ist die weiße mit grünweißgrünem Band …
Es gab in diesen Jahren noch für jeden Schultyp eine spezielle Mützenfarbe, an der man sofort erkennen konnte, welche Schule von ihrem Träger besucht wurde. Die Volksschüler trugen, wenn sie das wollten, dunkelblaue Schirmmützen, die Gymnasiasten rote, die Mädchen der höheren Mädchenschule blaue mit goldener Litzenecke, die Schüler der Landwirtschaftsschule grüne und so fort. Bei uns hatte jede Klassenstufe noch bestimmte Farbkennzeichnungen an den Mützenbändern. Man konnte sofort erkennen wenn ein Schüler versetzt war. Dem Mützenwesen aus alter Zeit wurde allerdings etwas später von der neuen Obrigkeit ein Ende gesetzt. Die Uniformen der HJ verdrängten dann wenigsten äußerlich die Unterschiede im sozialen Stand der Schüler. Das entsprach den Vorstellungen über nationalsozialistische Jugenderziehung. Den Weg in diese Richtung zeichnete man in der Presse wie folgt vor:
Donnerstag, 7. November 1935
So soll die Jugend erzogen werden. Nationalsozialistische Lehrertagung weist neue Wege …
Freitag, 15. November 1935
Schülervereinigung des Reform-Realgymnasiums aufgelöst …, um allen Schülern dieser Anstalt Gelegenheit zu geben, in die Hitlerjugend einzutreten …
Dienstag, 10. März 1936
Heldengedenkfeier im Ernst-Realgymnasium. Lehrer und Schüler in der Aula. Nach dem gemeinsam gesungenen Liede „Befiehl du deine Wege“ trugen zwei Schüler Gedichte vor. Zwei Lieder des Schulchores leiteten würdig zur feierlichen Ansprache über, die Realoberlehrer Kühn hielt … Feierlich klang leise das Lied vom guten Kameraden am Schluss der Rede durch den Raum … Karl Brögers Gedicht „Liebe der Toten“ rief noch einmal die Gefallenen vor die Seelen der Jugend. Goethes Beherzigung „Feiger Gedanken“ mahnte zu Mannesmut und Tapferkeit. Darauf verteilte der Direktor die Gaben an fünf Schüler, deren Väter Opfer des Weltkrieges geworden sind, zwei Geldspenden und drei Büchergaben … und ging nochmals in einer kurzen Ansprache auf die Bedeutung des 7. März ein: Neben Trauer stehe mit Recht der Jubel; denn Deutschland ist nun durch des Führers Tat ganz frei geworden, alle Schande hat nun ein Ende. Mit dem Gruß an den Führer und den Nationalliedern klang die Feier aus.
Donnerstag, 12. März 1936
Zusammenarbeit von Schule und Staatsjugend. Gebietsführer Karl Seele vor der Lehrerschaft des Kreises. Der Redner (sagte): „Jene Eltern, die noch heute Bedenken dagegen tragen, ihre Kinder in das JV und die JM zu lassen, die die nationalsozialistischen Grundsätze ablehnen, bedenken nicht, dass sie in den Herzen ihrer Kinder eine furchtbare Gewissensnot hervorrufen.“
Sonnabend / Sonntag, 8. / 9. August 1936
Der Reichs- und preußische Minister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung hat angeordnet, dass zur Teilnahme am schulplangemäßen Religionsunterricht, an Schulgottesdiensten, Schulandachten und ähnlichen religiösen Schulveranstaltungen kein Schüler gezwungen werden darf.
Dienstag, 29. September 1936
Neue Erziehungsmethoden für unsere Jugend. Nur noch 12-jährige Höhere Schule.
Freitag, 4. Dezember 1936
Reifeprüfung für Unterprimaner im März. 12-jährige Schulzeit wird durchgeführt. , dass die jetzigen Schüler der Unterprima der Höheren Schulen für Jungen bereits am Schluss dieses Schuljahres die Reifeprüfung ablegen und zwar in der Woche vom 15. bis 20. März 1937. Dabei fällt die schriftliche Prüfung weg … Auch für die Schüler der jetzigen Oberprima, die in der Woche vom 1. bis 6. Februar 1937 die Reifeprüfung ablegen, fällt die schriftliche Reifeprüfung fort. Durch diese Anordnung, die naturgemäß den Charakter von Übergangsmaßnahmen tragen müssen, wird die 12-jährige Schulzeit praktisch eingeführt.
Den betroffenen Examinanten war eine solche Regelung vermutlich eine frohe Botschaft. Sie werden in der Mehrzahl wohl kaum auf Gedanken gekommen sein, die sich einem Leser dieser Bekanntmachung nach dem Ende des Zweiten Weltkriege aufdrängen muss: Hitler verschaffte sich hierdurch zwei Jahre vor Kriegsausbruch den schnellen Zugriff auf zwei gut qualifizierte Jahrgänge für die Einberufung zum Wehrdienst. Wie sich bald zeigen sollte, waren darunter tatsächlich viele, die später als Offiziere an allen Fronten dieses wahnwitzigen Krieges standen und fielen.
Die folgende Zeitungsmeldung belegt noch einmal diesen Sachverhalt. Die darin am Schluss genannten beiden Jahrgänge sind die Jahrgänge der Schüler von Unterprima und Oberprima des Schuljahres 1936/37:
Dienstag, 15. Juni 1937
Gestellungsaufruf: Auf den in der Ausgabe vom 12. Juni 1937 erschienenen Gestellungsaufruf zur Musterung und Aushebung der Geburtsjahrgänge 1913, 1914, 1915, 1916 und 1917 wird nochmals verwiesen.
So ging ich also nun in die höhere Schule. Sie lag auch geografisch gesehen hoch über der Stadt. Das mochte noch angehen wenn sie nur nicht auch noch in ziemlicher Distanz zu unserer Wohnung gelegen hätte. Die ersten Jahre, bevor ich über ein Fahrrad verfügte, brauchte ich täglich etwa anderthalb Stunden für Hin- und Rückweg zusammen. Nur bei eindeutig starkem Regen erhielt ich von meiner Mutter Zehn Pfennig für den Bus, der am Bahnhof abfuhr und in zehn Minuten zu erreichen war. Natürlich gab es Schüler, die täglich mit dem Bus hin und zurück fahren konnten aber das betraf nur ganz wenige. Darunter Heinz Apel, einen Bauernsohn aus dem nördlich der Stadt gelegenen Ort Knau. Er musste von dort ohnehin schon dreißig Minuten gehen bis zur Bushaltestelle am Bahnhof. Es gab in Sexta recht viele Söhne aus den reichen Altenburger Bauernhöfen. Arbeiterkinder waren bei uns in der Schule noch eine große Ausnahme. Die meisten meiner Klassenkameraden entstammten dem Mittelstand und dem gehobenen Bürgertum. Ich war froh, dass es außer mir noch zwei Söhne von Lokomotivführern bei uns gab: Horst Weinrich und Joachim Voigt. Ich kannte sie von meiner Volksschule her und war froh, nicht nur unter Sprösslingen von Steuerinspektoren, Prokuristen, Ingenieuren, Lehrern, Ärzten, Großbauern und Geschäftsleuten zu sein. Unser Schulgebäude gefiel mir recht gut. Vor dem ansehnlichen Backsteinbau, über dessen Haupteingang die Bibelworte eingemeißelt waren: „Die Furcht des Herrn ist aller Weisheit Anfang“, breitete sich ein gepflegter Schulpark aus. Es gab darin viel Rasenfläche aber auch Buschwerk und einige hohe Bäume. Rechtwinklig zum Schulgebäude schlossen sich rechter Hand eine Turnhalle und links das Wohngebäude für den Direktor an. Oberstudiendirektor Dr. Fritzsche bewohnte das Obergeschoß des einstöckigen Gebäudes. Darunter befanden sich die Biologiekabinette und die dazugehörenden Fachunterrichtsräume. Im Hauptgebäude befanden sich alle Klassenräume, eine ansehnliche Aula mit geschnitzter Wandtäfelung, Dienst- und Konferenzräume und - was mich später sehr beeindrucken sollte - ein Chemiehörsaal mit dazugehörenden Kabinetten für Gerätschaften und Chemikalien, sowie einem richtigen Praktikumsraum für Schüler. Zwei Stockwerke darüber befanden sich eine ähnlich große Raumanordnung für den Physikunterricht. Vorerst blieben diese Räume für mich verschlossen. Dafür konnte ich mich am Zeichensaal begeistern, in dem Zeichenoberlehrer Max Koepke regierte.
Als Sextaner erhielten wir in der Pause den Platz vor der Turnhalle zugewiesen, auf dem es zwar eine Lehreraufsicht aber keine Bewegungseinschränkungen wie in der Hans-Schemm-Schule gab, wie die Nordschule jetzt hieß, aus der ich kam.
Je weiter man in den Klassenstufen aufstieg, umso mehr wanderte man mit seiner Klasse im Schulpark auf das Direktorgebäude zu. Dort stand auf einer kleinen Erhöhung eine riesige Trauerweide, unter der einige Bänke aufgestellt waren. Auf ihnen saßen in den Pausen die Oberprimaner und betrachteten gelassen und mit einem gewissen Abstand das temperamentvollere Geschehen unter den übrigen Schülern. In ähnlich kluger Weise waren die Klassenräume auf das Schulgebäude verteilt. Natürlich befanden sich die höheren Klassenstufen in den oberen Stockwerken. Bemerkenswert war jedoch, dass die Klassen für die Jahrgänge der Flegeljahre unmittelbar gegenüber dem Direktorzimmer lagen. Das hat mir zur Zeit als mein Jahrgang in die Periode unkontrollierbarer Temperamentsausbrüche gelangte, einmal eine schallende Ohrfeige vom „Rex“ eingebracht. „Rex“ war die Kurzbezeichnung für den Obersten Chef des Hauses. Ein König war dieser lebhafte, von Statur kleine Mann tatsächlich für uns. Seinen Geschichtsunterricht konnte man eher als Vorlesung bezeichnen und die hielt er sehr souverän. Wir lauschten auf seine Darstellung geschichtlicher Abläufe und Zusammenhänge und waren gefesselt von seinem Vortrag. Das allerdings sollte ich erst von der Mittelstufe ab erleben dürfen. Zunächst zollte ich ihm noch den alleinigen Respekt als dem, der hier das große Sagen hatte. In meinem ersten Jahr auf dieser Schule gelang es mir am ehesten bei Herrn Koepke mit meinem Zeichentalent Eindruck zu machen. Wie so oft in unserem vom Krieg gezeichneten Land, gab es auch um diesen Lehrer eine traurige Geschichte aus hingebungsvoll vaterlandstreuer Jugendzeit.
Koepke Max, wie wir sagten, war Kriegsfreiwilliger im Ersten Weltkrieg gewesen. Wir erfuhren bald aus seinem Erzählen, dass ihn ein Granateinschlag sehr schlimm im Bauchraum verletzt hatte. Obwohl man ihn schon fast aufgegeben hatte, war er im Lazarett doch einigermaßen wieder hergestellt worden. Danach hatte er Zeichnen und Kunstgeschichte studiert und wurde schließlich ein ausgezeichneter Pädagoge auf diesem Gebiet. Als wir etwas älter waren, erfuhren wir allmählich, dass sein Körper als schlimmste Folge seiner Kriegsverletzung irreparable Schäden im Unterleib davongetragen hatte. Seine Ehe blieb deshalb kinderlos und voller Probleme. Dieser Mann war äußerst sensibel, temperamentvoll und fantasiereich. Ich hatte diesen Lehrer sehr gern. Sein Unterricht war sehr abwechslungsreich. Manchmal erzählte er selbsterfundene Geschichten, aus denen wir dann nach freier Wahl Bilder malen sollten. Seine Geschichten hatten gewöhnlich einen düsteren - geheimnisvollen Schluss. Heute neige ich zur Ansicht, dass dieser Lehrer als schlimmstes Übel aus dem Krieg auch noch eine Gemütserkrankung mitgebracht hatte. Er war übrigens ein leidenschaftlicher Verehrer seines Führers. Seine Bemerkungen über Hitler hatten schon manchmal etwas Skurriles an sich, besonders wenn er so tat, als kenne er die geheimsten Überlegungen unseres Kanzlers. Eines Tages, schon mitten im zweiten Weltkrieg, fand man ihn erhängt auf dem Boden unserer Schule. Ich sehe ihn heute als ein spätes Opfer des ebenso sinnlosen Ersten Weltkrieges.
Wie Herr Koepke, so waren noch viele unserer Lehrer als junge Männer in den Ersten Weltkrieg gezogen. Die meisten von ihnen trugen davon zumindest irgendwelche Schrullen mit sich herum, über die wir gelegentlich lachen konnten. Da war zum Beispiel Oberstudienrat Dr. Doelle, ein mächtiger Mann als Vertreter des Direktors, als souveräner Mathematiklehrer und auch von seiner Statur her. Wir nannten ihn „Bobby“. Im Ersten Weltkrieg hatte er bei der schweren Artillerie gedient. Wenn wir es schafften, ihn davon erzählen zu lassen, dann mussten wir uns mächtig das Lachen verkneifen. In seinem Bericht triumphierte über den Feind gewöhnlich die Fähigkeit zu genauer mathematischer Berechnung einer Geschoßbahn. Der Clou kam für uns immer dann, wenn sein Bericht den Punkt erreicht hatte wo Bobby als Ballonbeobachter aufsteigen musste, um die Stellung eines französischen Eisenbahngeschützes ausfindig zu machen, die gerade durch Verlegen von Eisenbahngleisen eingerichtet wurde. Vor unseren tränenden Augen stieg Bobby in seiner derzeitigen Gestalt in den Korb des Ballons und ließ das Luftgefährt gefährliche Schwingungen vollführen. Wenn dieser Bericht den zielgenauen Einschlag der von einem Elefantengroßen Ballonbeobachter gesteuerten Artilleriesalve mit dem sächsisch singenden „… genau uff de Weiche!“ beendete, hatten wir alle aufgeblasene Backen. Im Gemüt eines alten Turnlehrers, der schon während meiner Unterstufenzeit in den Ruhestand ging, hatten sich die Soldatenjahre in der Gestalt von Marschliedern verhakt. Bei ihm begannen die Turnstunden jedes Mal damit, dass wir in der Turnhalle herummarschieren und Marschlieder singen mussten. Immer kam dabei das Lied des früheren Altenburger Regiments zum Einsatz: „Wir sind die Füsiliere, des Königs Grenadiere, wir ziehen in das Feld, …hurra, hurra, hurra 153 Regiment.“
Auch unser langjähriger Deutsch- und Klassenlehrer Herr Studienrat Löbe hatte als Offizier am Ersten Weltkrieg teilgenommen. Von ihm hörten wir kaum etwas über diese Zeit. Er war ein nationalgesinnter Mann, den wir recht gern hatten. Zu den Nationalsozialisten zog es ihn nicht hin. Er trug kein Parteiabzeichen. Seine Neigung zur Milde im Umgang mit uns nutzten wir kaum einmal wirklich aus. Sein Bruder war Pfarrer an der Altenburger Brüderkirche. Wie diese Beispiele zeigen, war die ältere und mittlere Generation unserer Lehrer vom Erleben des Krieges mehr oder weniger geprägt, manchmal auch davon gezeichnet. Unter den Lehrern der jüngeren Generation hob sich unser späterer Turn-, Biologie- und Erdkundelehrer als forscher Pädagoge des neuen NS-Typs heraus. Wir nannten ihn Winnetou. Diese respektvolle Bezeichnung war aus unserer Sicht berechtigt denn er scheute sich im Turnunterricht nicht, uns jede Übung auch selbst vorzuturnen. Dafür konnte er einem Angsthasen ganz schön zusetzen wenn dieser sich vor einem Turngerät scheute. Als wir etwa 15 Jahre alt waren, ließ er uns zum Beispiel eines Tages beim Schwimmunterricht im Städtischen Freibad in einer Reihe antreten und hintereinander die Treppe zum Sprungturm hinaufklettern. Ohne es vorher besprochen oder gar geübt zu haben, musste jeder in der Reihenfolge wie er über die Treppe heraufkam zum Ende des Dreimeterbrettes treten, sich mit dem Rücken zur Wasserfläche stellen und von dort einen Abfaller rückwärts in das Becken machen. Winnetou stand im Sprungturm am vorderen Ende des Sprungbrettes und sagte jedem, er solle die Arme hochnehmen und ein Hohlkreuz machen. Tat er das nicht und sah sich nur ängstlich um, trat Winnetou auf das Brett, bis dem armen Kerl nichts weiter an Platz übrigblieb und er notgedrungen rückwärts ins Wasser musste. In diesen Fällen war die Mutprobe verfehlt und endete sehr schmerzhaft. Das sah ich sehr schnell ein und ließ mich lieber von selbst fallen. Ein Erlebnis mit Bauchkribbeln, ein sich drehender Wolkenhimmel und ein Plumps ins Wasser, der nicht schmerzte, war die Belohnung. So lernten wir, dass Mutig Sein weniger Schmerz bereitet als Feige Sein. In Winnetous Biologieunterricht wurden wir ebenso hart herangenommen. Wir bekamen dadurch ein recht ordentliches Fachwissen, natürlich auch in den Grundlagen der Vererbungslehre. Von den Mendelschen Gesetzen gerieten wir leider auch, wie im Lehrplan vorgeschrieben, zur nationalsozialistischen Rassentheorie. Ich kann diesem Lehrer zwar nicht persönlich die grauenhaften Folgen des Rassenwahns vorwerfen aber zweifellos legte er durch seinen im Übrigen guten Biologieunterricht in unseren Köpfen eine scheinwissenschaftliche Basis für unsere Kritiklosigkeit gegenüber der diesbezüglichen Tagespropaganda.
Mein erster Klassenlehrer in der neuen Schule war Herr Heimerdinger. Für ihn gab es keinen Spitznamen, vielleicht hatte er keine beachtenswerten Schwächen. Seine Stärke lag vermutlich in seiner Gewissenhaftigkeit. Er führte uns auch in die Grundlagen der französischen Sprache ein. Ich hatte dieses Fach bald recht gern und bekam auch zunächst gute Noten. Studienrat Heimerdinger verkörperte den Typ eines humanistisch gebildeten Pädagogen, von denen es noch mehrere gab. Auch Studienrat Löbe gehörte dazu. Ich bin sehr froh, dass ich meine Schulzeit unter dem Einfluss von Deutsch- und Sprachlehrern der alten Schule verbringen konnte. Als Schüler war ich zu solchem Urteil natürlich nicht fähig und versuchte, wie übrigens fast alle meine Klassenkameraden, den Schmerz des Lernens so gering als möglich zu halten. Trotzdem ist zum Glück noch genug Wirkung des Einflusses dieser Männer geblieben.
Unser Verhältnis zu den Lehrern hing sehr von ihrem eigenen Können ab. Den meisten brachten wir die gebotene Achtung entgegen, wobei auf die Trix und Schabernacks bei kaum einem Lehrer verzichtet wurde. Ein Lehrer, den wir in späteren Jahren vorübergehend einmal bekamen, ist davon auszunehmen. Es war ein phrasenhaft und lautstark die Ideologie der NSDAP vertretender Mann. Wir merkten sehr bald, dass er nur sehr dünne Fachkenntnisse besaß und nahmen ihn nicht ernst. Das brachte ihn eines Tages so auf, dass er quasi entschuldigend aber lautstark erklärte:
Heimweg von der Schule
„Während andere in Ruhe studierten haben wir für Deutschland gekämpft!“ Er blieb für uns ein unbeliebter Lehrer.
Ich denke, dass bei aller Indoktrination der herrschenden Ideologie und bei all unserer ehrlichen Vaterlandsliebe, das Parteiabzeichen auf uns keinen besonders großen Eindruck machte. Umso mehr imponierten uns Soldaten und Offiziere, Sportler, Abenteurer, Entdecker und große Forscher.