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6. Die Tore in die Zukunft
ОглавлениеDie Sommerferien 1934 verbrachte ich ausnahmsweise einmal nicht in meinem geliebten Auerbach, sondern bei meinen Großeltern väterlicherseits in Stendal. Dort lebten auch die Geschwister meines Vaters, Tante Gertrud, Tante Martchen und Onkel Otto. Es war recht abwechslungsreich für mich denn Onkel Ottos Söhne waren in einem zu mir passenden Alter. Der Älteste, ebenfalls mit dem Namen Otto getauft, war nur einen Monat nach mir geboren. Mein 10. Geburtstag fiel in die Zeit jenes Ferienaufenthaltes, weshalb an diesem Tage eine große Familienfeier stattfand. Ich bekam sehr viele Geschenke von Onkel und Tanten, darunter auch ein reichhaltiges Sortiment an sogenannten Elastolin-Soldaten. Sie waren seit einiger Zeit ein von Jungen begehrtes Spielzeug. In den Schaufenstern der Spielwarenläden baute man damals mit diesen ca. 6 Zentimeter großen Figuren ganze Kriegsschauplätze auf, um die Kinder anzulocken. Ich war überwältigt denn meine Geburtstage erlebte ich sonst nur im Kreis der Kleinfamilie. Von meinen Großeltern bekam ich eine vollständige Jungvolkuniform geschenkt. Bis dahin ging ich noch immer mit einem weißen, statt einem braunen Hemd zum Dienst. Nun bekam ich sogar das Koppelzeug noch dazu. Großvater war sichtlich stolz auf mich und es musste die Uniform gleich anprobiert werden. Ein Fototermin war auch schon im Vorgarten seines Einfamilienhauses arrangiert. Das Bild zeigt das Geburtstagskind jedoch mit einem Gesicht, das nicht zu den vielen Geburtstagsgeschenken passte, weil es immer dann bockte wenn es sich in eine beachtenswerte Positur setzen sollte. Das war schon Ostern 1931 in Altenburg beim Einschulungsfoto mit Zuckertüte so gewesen. Dieser Auftritt trübte nur für Minuten mein Wohlbehagen. Mein Großvater, der Typ eines korrekten preußischen Bürgers, war Werkmeister bei der Deutschen Reichsbahn. Er hatte unter dem Kaiser gedient und war als Unteroffizier ausgemustert worden. Ich vermute, dass für ihn die tägliche Pflichterfüllung und die Treue zum Vaterland zu den wichtigsten Kriterien bei der Beurteilung eines Menschen zählten. In diesem Sommer war ich sicher der Favorit unter seinen Enkeln weil ich als Erster bereit war, im Jungvolk eine vaterländische Pflicht zu erfüllen. Ich hatte mächtigen Respekt vor diesem Manne, an dessen Haltung man auch äußerlich sah, dass er eine längere Zeit beim Militär zugebracht hatte.
Wieder in Altenburg eingetroffen, konnte ich endlich in einer richtigen Jungvolkuniform zum Dienst gehen. Die Meisten von uns hatten inzwischen schon ein Braunhemd und es wurden ständig mehr, die sich der Hitlerjugend anschlossen. Es bestand ein erheblicher Mangel an Heimen für unsere Zusammenkünfte, weshalb unserem Fähnlein die Räume der ehemaligen Wache im Altenburger Schlosshof zugewiesen wurden. Wir saßen dort an rohgezimmerten Tischen, auf denen mangels elektrischer Beleuchtung mehrere Kerzen brannten. Unter den dunklen Deckengewölben des Gemäuers flackerten Licht und Schatten hin und her, ein passendes Umfeld für unsere aufgewühlte Phantasie, während wir Hardchens Geschichtenlesungen mit glänzenden Augen folgten… Trotz aller Primitivität war das unser schönstes Heim in all den Jahren.
Anfang 1934 zählte die Hitlerjugend schon weit über vier Millionen Mitglieder und sie wuchs anscheinend unaufhaltsam weiter. Die Staatsführung hatte sie bereits fest im Griff und nutzte das Potential an diesen willigen und hingebungsbereiten jungen Idealisten skrupellos aus. Hierzu sei wieder ein Zitat aus der Altenburger Landeszeitung angeführt:
Sonnabend / Sonntag , 10. / 11. Februar 1934
HJ im braunen Kleid. Es ist der Stolz eines jeden deutschen Jungen und eines jeden deutschen Mädels, ihr angehören zu dürfen. Diese Jugend leistet freudig Verzicht auf jegliche Nebensächlichkeiten und Vorteile des Lebens, leistet Verzicht auf manche Jugendfreuden, mit denen Geschlechter vor uns gesegnet waren, da sie sich, erfüllt von der Idee ihres Führers diesem mit Leib und Leben verschworen und sich schon früh zu einem harten Weg des Opferns und Dienens bekannt hat … Sie kennt und will nichts anderes kennen, als Dienst am Volk. Hierin liegt ihre Ehre, das nur ist der Inhalt ihres Lebens.
Wenn zu dieser Zeit solche Ausführungen auch noch zum Teil die Wunschvorstellungen der Mächtigen widerspiegelten, so trafen sie doch in ihrer Tendenz durchaus auf die Gesinnungsentwicklung dieser Jugend mehr und mehr zu. Eines vertrug die Partei Hitlers überhaupt nicht, kritische Intelligenz. Da man der Massenbegeisterung so große Wertschätzung entgegenbrachte, ohne intelligente Menschen aber keinen Staat erhalten konnte, suchte man den Fanatismus besonders unter der noch unkritischen Jugend fest zu installieren. Im Mai 1934 hatte in Altenburg ein großes Treffen des Deutschen Jungvolks stattgefunden, an dem 3000 Pimpfe teilnahmen. Hier konnte man dazu sehr deutliche Worte hören und anschließend mit der Altenburger Landeszeitung schwarz auf weiß ins Haus geliefert bekommen:
Montag, 28. Mai 1934
Kundgebung des Jungvolks …Jungbannführer Rudolf Brauer begrüßte die Erschienenen … Gebietsführer Blum sagte in der folgenden Ansprache: „Diese 6 Millionen Jungen müssen gegen das Feige und Schleimige kämpfen, das die Jugend nicht versteht. Manches mag bei uns noch mangelhaft und falsch sein, eines aber hat die Jugend: Einen Fanatismus und eine Begeisterung, die von keinem kalten Guss mehr gelöscht werden kann …Wir wollen in dieser Zeit als Brücke von gestern zu morgen der Sauerstoff sein. Diese Bewegung wird alle Meckerer und Kritikaster vernichten. … Eines nur kann dieser junge Staat nicht vertragen, die Eiseskälte des nüchternen Verstandes, des Intellekts. Nicht diese soll das kommende Zeitalter beherrschen, sondern die Begeisterung, die seelische Bereitschaft zu Opfer und Tat … Die Jungens haben in ihren jungen Jahren schon eine Pflicht zu tun, der Dienst wird ihr ganzes Leben über andauern. Die Pflicht ist überall und immer zu erfüllen …“
Es ist heute kaum vorstellbar, mit welcher Deutlichkeit bei derartigen Veranstaltungen der Jugend die Ungeheuerlichkeiten vor Augen gestellt wurden, die sie in der Zukunft erwarten würde. Vermutlich war es auch der Mehrzahl der Zeitgenossen nicht denkbar, dass alles so ernst gemeint sein konnte, was hier mit äußerster Kälte angekündigt wurde. Dazu sei aus dem obigen Zeitungsbericht noch ein Ausschnitt über die in einer Morgenfeier vorgenommene Fahnenweihe vorgestellt. Dabei führte der Gebietsführer der Thüringer HJ folgendes aus:
Wenn nun heute eure Fahnen geweiht werden sollen, so denkt daran, dass der Tag, an dem diese Fahnen nicht mehr über euch wehen, nicht kommen darf. Ihr sollt euch um sie scharen, und sie soll euch voranwehen. Wenn euer Fahnenträger jetzt die Fahne entrollt, so weihe ich sie dem Reichsjugendführer Baldur von Schirach, in dem wir die Verkörperung des jungen kämpfenden Menschen sehen. Ihr Fahnenträger aber merkt es euch: „Wenn ich vorangehe, folgt mir, wenn ich zurückgehe, tötet mich, wenn ich falle, rächt mich.“
Am ersten August 1934 gab der Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Unterricht die Einführung des Staatsjugendtages bekannt. Diese Einrichtung sorgte in der Folge zunehmend dafür, dass es kaum noch eine Möglichkeit für eventuelle Zweifler gab, aus den einmal in Gang gesetzten Marschkolonnen der Hitlerjugend auszuscheren. Das Tor in die Zukunft war das Kasernentor. Was dahinter noch verborgen lag, ahnte keiner von uns. Im genannten Abkommen heißt es:
Für die Erziehung der Schuljugend im nationalsozialistischen Staate sind Schule, Reichsjugendführung (HJ - Bewegung) und Elternhaus nebeneinander berufen ….
1. Der Sonntag der Jugend gehört grundsätzlich dem Elternhaus und der Familie.
2. Für die Erziehungsarbeit der Reichsjugendführung (HJ-Bewegung) wird den ihr unterstellten Schülern der Sonnabend als schulfreier Tag eingeräumt (Staatsjugendtag). Daneben steht der Reichsjugendführung (HJ - Bewegung) der Mittwochabend als Heimabend zur Verfügung …
In ihrer Ausgabe Nr. 186 bringt dazu die Altenburger Landeszeitung einige bemerkenswerte Erläuterungen:
Der Mittwochnachmittag dient der weltanschaulichen Schulung, der Sonnabend der körperlichen Ertüchtigung der Jugend … Vier Gebiete werden besonders gepflegt: Allgemeine Leibesübungen, Geländesport, Schwimmen und Luftgewehrschießen. Jugend erzieht sich selbst zu gesteigerter Leistung, zu neuem, stärkeren Einsatz …
Die Militarisierung im ganzen Lande nahm einen raschen Fortgang und trotzdem war für uns Jungen alles noch wie ein emotionsgeladenes Spiel. Im September 1934 erlebten wir auf dem Markt eine Brandbombenvorführung. Einige Tage danach, in der Nacht vom 22. zum 23. September folgte für die Altenburger eine große Luftschutzübung mit Verdunkelung in der Nacht. Es gab viele Veranstaltungen, in denen über und zur Jugend Reden gehalten wurden.
Offenbar gab es unter den Eltern manche Bedenken und Ängstlichkeiten bezüglich der Jugendpolitik. Hitler hatte auch in der Augustwahl 1934 5% weniger Ja-Stimmen erhalten als im November 1933. Mag sein, dass unter den Erwachsenen allmählich einige Ängste aufkamen hinsichtlich der Zukunft. So sprach am 14. November 1934 der Reichsstatthalter Sauckel über den Reichssender Leipzig zur Jugend. Diese Rede war den Machthabern anscheinend so wichtig, dass man zuvor in der Altenburger Landeszeitung die folgende Notiz erscheinen ließ:
Mittwoch, 11. November 1934
Die Abteilung R (Rundfunk) der HJ Gebietsführung Thüringen gibt durch die Gebietspressestelle bekannt: „Wir weisen nochmals darauf hin, dass alle HJ-Einheiten(HJ, DJ und BDM) am Mittwoch, dem 14. November von 20.10 Uhr bis 20.30 Uhr die Rede des Reichsstatthalters Sauckel über den Reichssender Leipzig abzuhören haben.“
Bemerkenswert ist die Art und Weise, in der diese Forderung an die Jugend herangetragen wird. Sie ist an den Befehlston schon gewöhnt. Einige Tage später erscheint in der Altenburger Landeszeitung die Wiedergabe einer Rede, die offensichtlich an die Adresse der Eltern gerichtet ist:
Freitag, 16. November 1934
Fragen deutscher Jugenderziehung. Reichsminister Dr. Rust nimmt zu den dringendsten Fragen Stellung … Grundsätzlich sei es ihm immer bewusst gewesen, dass sofort nach der Machtergreifung die Umstellung der gesamten Erziehung auf den Gemeinschaftsgedanken erfolgen musste. In der Gemeinschaft musste durch körperlichen Einsatz bis zum Äußersten der neue Vollmensch gebildet werden, und das gelte besonders, wenn man eine Führerschicht schaffen wolle, sonst bekäme man eine Intelligenz, die dann fortliefe wie 1918 wenn die größten Aufgaben zu leisten seien .. .Der blasse , mit philologischen Kenntnissen überlastete Schülertyp solle verschwinden, um einem vollwertigen Menschen Platz zu machen. Abschließend wendete sich der Minister gegen die im Auslande manchmal vorkommende Umdeutung der neuen Erziehung als einer Erziehung zum Krieg. Die Jugend hänge am Wort des Führers, und der Führer wolle nichts anderes als den Frieden in Ehren, aber nicht den Krieg.
Feier meines 10. Geburtstages im Hause meiner Großeltern in Stendal Foto: 1934