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Schule für Große

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Lebenskunde Anfang November

Wir hatten in Lebenskunde über St. Martin gesprochen und auf Schülerseite war die Meinung vorherrschend, dass es mit einem Stück Mantel nicht getan sein könnte.

Er hätte dem Bettler mindestens noch ein paar Goldstücke zustecken müssen, sagte Barbara. Als Heiliger muss man großzügig sein, da geht nicht Geiz ist geil.

Der Lehrer schüttelte den Kopf.

Ihr müsste die Geschichte historisch richtig einordnen. Das war doch finsterstes Mittelalter, da war das Leben eines armen Teufels gar nichts wert. Kennt ihr denn nicht die germanischen Sagen, die nordischen Heldenepen? Da wurden Menschen abgeschlachtet wie heutzutage die Schweine und die Hühner.

Und die Puten!, rief Jens dazwischen.

Exakt, sagte der Lehrer. Da galt das Recht des Stärkeren und sonst gar nichts. Und Martin war Soldat, vergesst das bitte nicht. Ihr habt doch noch die Bilder dieser deutschen Soldaten in Afghanistan vor Augen, die neulich für Empörung sorgten. Und die Soldaten damals waren noch viel härter drauf, oder glaubt ihr, die hätten mit Holzschwertern gekämpft?

Das verstehe ich nicht, sagte Lola. Wie kann denn ein Heiliger Soldat sein?

Gute Frage!, rief der Lehrer. Hat jemand eine Antwort?

Ich meldete mich und sagte, dass im Prinzip jede Berufsgruppe Heilige stellen könne, bis auf die Zuhälter vielleicht.

Der Lehrer sagte: Ja, schon. Doch das hilft uns nicht weiter. Wir überlegten.

Ich hab’s!, rief Heiko. Der wurde erst in dem Moment zum Heiligen, als er den Mantel teilte, oder?

Exakt!, rief der Lehrer. Das war die Wende! Vorher war Martin ein ganz normaler römischer Offizier, für den so ein Bettler ein atmendes Stück Dreck darstellte. Und plötzlich sieht er in ihm den leidenden Mitmenschen und hilft. Das ist der Punkt. Sehr gut, Heiko!

Wir alle sahen Heiko an. Er lächelte.

Bist du jetzt stolz?, fragte Linda.

Was soll das, Linda?, rief der Lehrer. Selbst beteiligst du dich kaum am Unterricht. Nimm dir an Heiko ruhig ein Beispiel. Wenn ihr alle so konzentriert mitarbeiten würdet, hättet ihr vom Leben schon viel mehr kapiert.

Ich will das nicht kapieren, sagte Linda kühl und ruhig. Was soll denn daran toll sein, wenn ein Bedürftiger von einem Besatzer einen halben Umhang kriegt? Da hat der Staat doch wohl voll versagt, wenn jemand halbnackt im Schnee rumsitzen muss.

Du hast Recht, sagte der Lehrer. Die Römer hatten kein funktionierendes Sozialsystem. Aber das können wir ihnen nicht vorwerfen, weil so etwas noch gar nicht erfunden war. Es gab weder Hartz IV noch Sozialhilfe. Das hieß damals Almosen und lief auf Spendenbasis.

Almosen?, fragte Lennart. Was ist das denn für ein komisches Wort? Hat das was mit Moos zu tun?

Wird mit nur einem O geschrieben, sagte der Lehrer. Das kommt aus dem Griechischen und bedeutet so viel wie Erbarmen.

Na, passt doch!, rief Linda. Ist ja auch erbärmlich, was es bei uns an Sozialhilfe gibt!

Linda!, rief der Lehrer. Sei nicht ungerecht. Unser Sys­tem ist eins der besten der Welt und es ist nicht unsere Schuld, wenn viele der Bedürftigen ihr Geld für Unterhal­tungselektronik, Telefone, Tabak und Drogen ausgeben, anstatt ihren Kindern dafür gesundes Essen zu kaufen.

Die haben wenigstens noch Kinder!, rief Jens. Die anderen sind nicht so doof.

Jens, bitte!, rief der Lehrer. Das ist ja unerträglich. Du weißt ja gar nicht, wie dumm diese Bemerkung war. Es sind doch nicht nur sozial schwache und geistig benachteiligte Leute, die Kinder bekommen. Unsere Verteidigungsministerin z.B., das weiß doch jeder, die ist achtfache Mutter.

Sieben!, riefen alle.

Ich wollte nur testen, sagte der Lehrer, ob ihr euch überhaupt für Politik interessiert. Bravo! Also Jens, das war nichts. Wenn du selbst Kinder hättest, wüsstest du, wie viel Freude sie machen. Du siehst das viel zu negativ. Du müsstest dich generell mal fragen, ob du das Leben liebst oder ob du mehr darunter leidest. Und wenn du mehr darunter leidest, dann solltest du dich der Frage stellen, ob du mehr an anderen leidest oder an dir selbst. Und wenn ...

Da ging die Pausenklingel. Wir standen auf.

Stellt euch alle diese Fragen!, rief der Lehrer. Das ist die Hausaufgabe.

An der Grenze zur Realität

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