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VIII.
ОглавлениеZur Zeit, als die Kinder noch klein waren, hatte Frau Heidling nach dem Tode ihrer Schwiegermutter deren Köchin ins Haus genommen. Schon damals hieß sie die alte Dorte. Mit den Jahren hart und dürr geworden, gleich einem verwitterten Zaunstecken, und von galliger Gemütsart, arbeitete sie für die Familie mehr in zähem Eigensinn als in linder Treue. Wie oft sie schon gekündigt hatte und trotzdem geblieben war, konnte niemand mehr nachrechnen. Hörte man sie in der Küche vor sich hinbrummen und schelten, so musste man ihren Ausdrücken nach die Überzeugung gewinnen, ihre Herrschaft gehöre eigentlich in ein Narrenhaus. Den jungen Stubenmädchen, die ihr zur Hilfe gehalten wurden, bezeigte Dorte gleichfalls die grimmigste Verachtung und wurde von ihnen sehr gefürchtet; denn die alte Dorte war unermüdlich in der Arbeit und verlangte von den jungen Dingern das Gleiche. Deshalb beneideten die Rätinnen sämtlich Frau Heidling um den Schatz, den sie in der alten Küchendorte gefunden.
Ein Ehrgeiz hatte sich in dem verdorrten Gemüt der alten Magd herausgebildet. Sie wollte die Belohnung für fünfundzwanzigjährige Dienstleistung in ein und derselben Familie erwerben. Die Königin schenkte in solchen seltenen Fällen ein silbernes Kreuz und eine Bibel.
Und weil die Rätin Heidling Dortes Hoffnungen teilte, ja, weil im Grunde diese öffentliche Anerkennung der Herrin ebensoviel Ehre brachte, als der Dienerin, darum behielt sie sie geduldig im Haus, obwohl Dorte sich durchaus nicht geneigt erwies, Agathe Einblicke in ihre Kunst zu gestatten.
Konnte Agathe von Dorte nichts lernen, so nahm sie sich desto eifriger der Erziehung des kleinen Hausmädchens an, welches mit ihr zusammen konfirmiert worden war. Pastor Kandler hatte ihr die Verantwortung für das unverdorbene Landkind warm ans Herz gelegt. Sie gab also Wiesing Groterjahn am Sonntag Nachmittag Geschichten von Frommel und Marie Nathusius zu lesen, und hielt ihr kleine moralische Vorträge über die Schädlichkeit und die Gefahren der Tanzböden. Während Frau Regierungsrat es passender fand, das Mädchen Luise zu rufen, obwohl dem heimwehkranken Kinde anfangs jedes Mal die Tränen in die Augen schossen, nannte Agathe sie nach wie vor mit der traulichen Abkürzung »Wiesing«. Nahmen sie zusammen eine Arbeit vor, so unterhielt sie sich freundlich mit Wiesing und suchte ihr begreiflich zu machen, wie gut es für sie sei, in einem Hause zu dienen, wo keine Sorge und nichts von dem Elend, welches die Arbeiterinnen in Fabriken erwarte, an sie herantreten könne. Es bekümmerte Agathe zuweilen, dass trotz ihrer liebreichen Bemühungen Wiesing ihr kein rechtes Vertrauen zu schenken schien.
»Die Mädchen betrachten Euch als ihre natürlichen Feinde, und im Grunde haben sie recht darin«, hatte Martin einmal gesagt. Das konnte Agathe doch nicht verstehen.
Indessen interessierte sie sich nach und nach weit mehr für ihren imaginären Geliebten, als für die Seelenbildung des Hausmädchens, und bekümmerte sich nur noch um sie, wenn diese ihre Dienste brauchte.
»Fräulein«, sagte Wiesing eines Morgens, als sie Agathe warmes Wasser in ihr Schlafzimmer brachte, und dabei stand sie mit gesenkten Augen, »an meiner Tür is kein Riegel, könnte da nicht einer angemacht werden?«
»Ja – hast Du denn keinen Schlüssel?«
»Den hat der junge Herr abgezogen«, stotterte Wiesing.
»Der junge Herr? Was ist denn das für dummes Zeug! Du hast ihn sicher verloren!«
»Ne, Frölen!«
»Lüge nicht, Wiesing. Als ob Du jemals sagen würdest, wenn Du etwas zerbrochen oder verloren hast!«
»Ne, Frölen – ach mien leiwer Gott – ick wet mie jo gor nich mehr tau helpen!«
»Ich verstehe Dich gar nicht. Was willst Du denn – so rede doch hochdeutsch«, sagte Agathe ungeduldig und goss das warme Wasser in ihre Waschschüssel.
»De junge Herr – seggen Se man nix tau de Fru Regierungsräten – ik hew jo da ok nix von seggt, un Dorte die seggt, ik redte mir das man bloß ein!«
Das runde, kindische Gesicht des Mädchens verschwand in ihrer weißen Schürze, sie schluchzte erbärmlich.
Agathe sah sie erstaunt an. Plötzlich wurde sie dunkelrot.
»Walter hat Dich wohl nur erschrecken wollen«, sagte sie leise. »Ich will ihm sagen, dass Du solche Späße nicht magst!«
Wiesing hob das nasse Gesicht und sah Agathe mit verstörten blauen Augen hilflos an. »Fräulein – das war ja wull kein Spaß!«
»Ach, was denn sonst. Du dummes Ding. Denkst Du denn … mein Bruder ist ja verlobt!«
»Det hew ik den jungen Herrn ok seggt, he sullt sich de Sünd’ schämen, hew ik seggt. He wull un wull nich hören … Frölen, wenn he wieder kimmt – ik wet mie nich tau helpen!«
»Wieder kommt?« fragte Agathe, wie in einem beängstigenden Traum erstarrend. »Wo hat er Dir das gesagt?«
»In mien lütt’ Kammer.«
»Luise, Du lügst«, schrie Agathe zornig.
Das Mädchen schluchzte nur noch heftiger.
Agathe ging von ihr fort, an das andere Ende des Zimmers.
»Mein Gott – mein Gott!« stammelte sie nach einer Weile und wand die Hände in einander.
»Wiesing, wir wollen Mama nichts sagen«, flüsterte sie, ihre Tränen strömten dabei. »Mama könnte das nicht ertragen, sie ist ohnehin so kränklich – und sie hat Walter so lieb!«
»Jo Frölen!«
»Du musst aus dem Haus, Wiesing.«
»Jo Frölen!«
»Wie fangen wir das nur an?«
Wiesing antwortete nicht.
»Ich muss mit Walter reden. Mein Gott – das kann ich ja nicht – das kann ich ja nicht – Was ist denn nur über ihn gekommen!«
»So’n fiener jung’ Herr«, sagte Wiesing nachdenklich und trocknete sich die Augen.
»Zum Donnerwetter! wo sind nur meine Stiefel wieder! Luise!« rief Walter im Flur.
Die beiden Mädchen schraken zusammen und blickten sich erschrocken an.
»Er hat doch seinen Burschen zur Bedienung«, murmelte Agathe.
»Luise!« scholl des Lieutenants grollende Stimme aufs Neue über den Flur. Das kleine Hausmädchen lief in der Gewohnheit des Gehorsams hinaus.
Agathe horchte, mit einem Gefühl, als seien ihr die Glieder abgestorben, was draußen zwischen den beiden vor sich ging.
Walter sagte jedoch nur kurz und scharf: »Luise, rufen Sie mir den Burschen.« Wiesing antwortete mit ihrem mühsamen Hochdeutsch: »Ja, Herr Lieutenant.« Da war es Agathe plötzlich, als habe sie das eben Gehörte alles nur geträumt.
So leicht ging es doch nicht, sich darüber hinwegzusetzen.
Jetzt musste sie überlegen, ohne mit Rat unterstützt zu werden, ganz allein nach ihrem Ermessen, unter ihrer Verantwortung. Sie musste mit Walter reden, es gab keinen anderen Ausweg. Wenn sie das ihrem Vater sagte, es musste eine furchtbare Szene werden – etwas so Ehrloses würde Papa seinem Sohne nie und nie verzeihen.
Zuerst ging sie zu einem Schlosser und kaufte einen Riegel mit großen Krampen. Sie konnte kaum ihr Anliegen hervorbringen, denn sie meinte, man müsse ihr im Laden ansehen, zu welchem Zweck sie den Riegel brauchen wollte. Dann hämmerte sie ihn mit Wiesings Hilfe an deren Kammertür fest, zitternd in der Furcht, Mama möchte sie dabei treffen und fragen, was das zu bedeuten habe.
Wiesing hatte das Fenster in dem engen Raum seit dem Morgen noch nicht geöffnet, es war eine abscheulich dumpfe Luft darin. Schmutziges Wasser stand in der Schüssel, ausgekämmtes Haar und allerlei armseliger Plunder lag auf dem Boden herum. Und Walter – ihr peinlich sauberer, eleganter Bruder, in seiner glänzenden Uniform war hier gewesen … wie war es nur möglich?
Es schüttelte sie ein Grauen, ein Ekel.
Wie sollte sie Walter anreden? Er kam ihr vor wie ein Verworfener, zu dessen Gefühlen sie keine Brücke mehr fand. Auch wenn sie Wiesing ansah, empfand sie eine heftige Abneigung gegen das Mädchen, durch welches sie ihren Bruder verloren hatte.
Sie las in ihrem neuen Testament und betete um Kraft. Sie erinnerte sich, dass Pastor Kandler ihr einmal gesagt hatte: in jedem Menschen lägen die Keime zu allen Sünden verborgen. Sie wollte versuchen, ihrem Bruder in Liebe zuzureden. Sie hatte eine Empfindung, als tappte sie in die schwarze Finsternis und ergreife etwas Widerliches.
So quälte sie sich den ganzen Tag hin und wünschte, Walter möge so viel Dienst haben, dass eine Unterredung mit ihm unmöglich werde. O war sie feige!
Nachmittag kam Eugenie auf eine Viertelstunde. Als sie noch dasaß und Eugenie nicht wusste, was sie mit ihr sprechen sollte, trat Walter ein. Er war geritten, das krause Haar klebte ihm feucht an der Stirn. Er sah ein wenig verdrießlich aus. Doch küsste er Eugenie. Sie ordnete mit ihren hübschen, geschickten Fingern sein Haar, sah ihm mit ihrem kühlen, spöttischen Lächeln in die Augen und fragte: »Ärger gehabt?« Und dann strich sie leicht über seine Uniform, wie einst ihre Hände beruhigend über Agathes Schläfe geglitten waren, wenn diese Zahnschmerzen hatte, in der Pension.
Durch die Erinnerung kamen Agathes Gedanken auf den Kommis, der Eugenies erste Liebe gewesen, und auf das Zimmer mit den Zigarrenproben.
Ach, wenn sie doch hätte fortlaufen können – weit, weit fort von allen Menschen.
Eugenie nahm Abschied, Walter brachte sie hinaus. Der Vater machte seinen täglichen Spaziergang, Mama hatte ihn heute begleitet, weil sie einen Besuch damit verbinden wollten. Walter kam ins Zimmer zurück. Da war Agathe allein mit ihm, und nun musste sie reden, es half ihr niemand.
»Was machst Du nur heute für ein Gesicht? Eugenie fragte auch, was Dir wäre?« Damit begann Walter unvermutet das Gespräch. Sie nahm ihre Kraft zusammen – übrigens verstand er sie schon nach den ersten halblaut hingestammelten Worten.
Aber es kam ganz anders, als sie erwartet hatte! Er zeigte keine Spur von Scham oder Reue, wurde zornig, ging mit klirrenden Sporen im Zimmer hin und her und rief halblaut, vor Ärger heiser:
»Kümmere Dich nicht um Dinge, die Du nicht verstehst! Hörst Du? Hiervon verstehst Du garnichts. Keinen Schimmer! Darum hast Du auch kein Recht, abzuurteilen.«
»Ich verstehe, dass Du verlobt bist! Ich finde es ehrlos …«
»Untersteh’ Dich …!« Agathe sah die drohend erhobene Faust ihres Bruders vor ihren Augen.
»Schlag’ mich nur«, rief sie, »darum ist Dein Betragen doch ehrlos. O pfui – pfui – dass Du mein Bruder bist!«
Sie brach in leidenschaftliches Weinen aus. Er hatte seine Hand sinken lassen, aber er war jetzt ganz weiß und knirschte mit den Zähnen.
»Ich verbiete Dir, Dich in meine Angelegenheiten zu mischen – hörst Du? Du beträgst Dich nicht wie eine Dame, sondern wie ein exaltiertes Frauenzimmer. Es ist unpassend von Dir, an solche Dinge zu rühren! Verstehst Du mich?« Damit riss er die Tür auf und warf sie gleich darauf krachend zu.
Agathe saß eine Zeit lang still und betäubt von großem Kummer auf einem Stuhl.
Später am Abend fragte sie Wiesing, ob sie nicht zu ihren Eltern gehen könne, ob sie nicht sagen wolle, ihre Mutter wäre krank und brauche sie. Aber das kleine Hausmädchen schüttelte den Kopf und antwortete mit unbegreiflicher Ergebung: »Ach, wat meinen Frölen, – mien Modder wull mi schön schelten, wenn ik nach Hus käme. Un’ Dorte seggt ok, dat’s all gliek bei de Herrschaften. De jung’ Herr hat ja och woll bald Hochtied und dann kümmt he jo ok weg.«
Was konnte Agathe weiter tun? Sie hoffte, dass ihr Bruder einen Eklat fürchten würde. Aber sie hatte jeden Maßstab für die Berechnung der Möglichkeiten verloren.
Sie konnte sich nicht entschließen, Wiesing jemals wieder nach dieser Angelegenheit zu fragen, doch nannte sie sie von nun ab wie die Mutter »Luise« Es war für sie etwas Gemeines an dem Mädchen haften geblieben.