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XIII.

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Ge­gen Ende des Win­ters ver­an­stal­te­te die Ge­sell­schaft von M., haupt­säch­lich auf Frau Eu­ge­nies Be­trei­ben, einen groß­ar­ti­gen Ko­stüm­ball. Man woll­te zu­gleich wohl­tä­tig sein, die Ein­nah­men ei­ner Rou­let­te soll­ten den un­ter der har­ten Käl­te lei­den­den Ar­men zu Gute kom­men.

Durch Fräu­lein von Hen­nings Ver­mit­te­lung gab Lutz Skiz­zen und Ra­die­run­gen zu die­sem Zwe­cke und er­teil­te aus der Fer­ne gu­ten Rat. Eine Auf­for­de­rung, dem Ko­mi­tee bei­zu­tre­ten, lehn­te er schau­dernd ab.

Durch ein ho­hes Ein­tritts­geld war da­für ge­sorgt, dass die Öf­fent­lich­keit des Fes­tes nicht miss­braucht wer­de und un­er­wünsch­te Ele­men­te fern blie­ben.

Men­schen­ge­wo­ge füll­te das größ­te Ball­lo­kal der Stadt, man fand das Ar­ran­ge­ment, das den Ko­stüm­fes­ten der Ma­ler­städ­te nach­ge­bil­det war, un­ge­heu­er ori­gi­nell.

Aga­the tanz­te mit dem As­ses­sor Rai­ken­dorf. Aus der sich sto­ßen­den und schie­ben­den Men­ge ret­te­ten sie sich bald und zo­gen es vor, nahe der Ein­gangs­tür des Saa­l­es plau­dernd ne­ben­ein­an­der zu ste­hen. Aga­the hat­te die Tech­nik ih­res Be­ru­fes als jun­ge Dame der Ge­sell­schaft end­lich, wenn auch schwe­rer als ihre Freun­din­nen, be­herr­schen ge­lernt.

Es kam zwar im­mer noch vor, dass sie sich im Ton ver­griff – sie gab in of­fen­ba­rer Ver­ach­tung ih­res Part­ners zu we­nig, warf ihm gleich­sam nur lee­re Nuss­scha­len zu, oder in be­leb­ter an­ge­reg­ter Stim­mung ent­hüll­te sie zu viel Per­sön­li­ches, und setz­te die jun­gen Re­fe­ren­da­re und Lieu­ten­ants, die nur auf kon­ven­tio­nel­le Ant­wor­ten ge­fasst wa­ren, in pein­li­che Ver­le­gen­heit. Sie war nun ein­mal kei­ne von den ein­fa­chen Mäd­chen, de­ren in­ne­res We­sen ge­nau in die Scha­blo­ne der fri­schen Tän­ze­rin passt, und die sich un­ge­scheut ge­ben kön­nen, wie sie sind, ohne Er­stau­nen oder Miss­fal­len zu er­re­gen.

Das hat­te der ge­wieg­te Frau­en­ken­ner, der As­ses­sor Rai­ken­dorf, zu­fäl­lig ent­deckt. Nun reiz­te es ihn. Man wuss­te schon, dass er sich gern mit Fräu­lein Heid­ling un­ter­hielt. Die­se heim­lich-lei­den­schaft­li­che Op­po­si­ti­on ge­gen ihre gan­ze Um­ge­bung, von der das Mäd­chen sel­ber noch nicht ein­mal die Tie­fe, die Aus­deh­nung und die Ge­fahr kann­te – das war sehr amüsant.

In Aga­the war noch ein ge­hö­ri­ges Teil von der Ab­nei­gung, wel­che sie auf ih­rem ers­ten Ball ge­gen ihn ge­fasst hat­te, zu­rück­ge­blie­ben. Der zor­ni­ge Hass mach­te sie ge­wandt und scharf.

Weil ihre El­tern fort­wäh­rend klag­ten, sie brau­che zu viel für ihre Toi­let­te, hat­te sie bei ei­ner al­ten Ver­wand­ten ein flo­ren­ti­ni­sches Ko­stüm ge­borgt, das schon in den drei­ßi­ger Jah­ren von Ita­li­en nach Deutsch­land ge­bracht wor­den war. Ver­b­lasst in den Far­ben, hat­te es sich doch sau­ber und voll­stän­dig er­hal­ten: der dunkle Tuch­rock, die rote Ja­cke, das aus Me­tall ge­bo­ge­ne, mit ver­gilb­ter Sei­de über­zo­ge­ne Brust­mie­der, das vol­le Spit­zen­tuch um Hals und Schul­tern – der sil­ber­ne Haar­pfeil und der ei­gen­tüm­li­che, des Mäd­chens Ant­litz mit zar­ten, wei­ßen Schlei­ern um­rah­men­de Kopf­putz – sie ahn­te nicht, wie aus­ge­zeich­net der An­zug zu ihr pass­te, wie sie so mit ih­ren schö­nen Zü­gen und den tie­fen brau­nen Au­gen das nor­di­ta­lie­ni­sche Mo­dell ei­ner ver­gan­ge­nen, his­to­risch ge­wor­de­nen Kun­strich­tung dar­stell­te.

Fremd und vor­nehm stand sie un­ter den schrei­end bun­ten mit Gold und Sil­ber über­la­de­nen Mas­ken.

Vor ei­ner Wei­le hat­te sie im Vor­zim­mer Lutz und Fräu­lein Da­niel be­merkt, die sich von ei­ni­gen Schau­spie­lern ver­ab­schie­de­ten. Fräu­lein Da­niel, in ein­fa­cher Ge­sell­schaft­stoi­let­te, war au­gen­schein­lich nur zu ei­nem kur­z­en Rund­gang er­schie­nen. Lutz trug schon den Win­ter­über­zie­her und den klei­nen schwar­zen Hut auf dem hel­len Kopf – er woll­te wohl die Da­niel heim­be­glei­ten. Aga­the glaub­te, er sei ge­gan­gen.

Plötz­lich – wäh­rend sie mit dem As­ses­sor schwatz­te, fühl­te sie et­was, das ei­ner leich­ten Berüh­rung glich, doch un­end­lich viel zar­ter und flüch­ti­ger war.

Sie wand­te den Kopf.

Lutz stand noch im­mer in der Tür – al­lein. Er be­ob­ach­te­te sie.

Nach ei­nem schnel­len, scheu­en Blick sprach sie wei­ter. Wie in­ner­lich gut ihr die­se kur­ze Be­ach­tung tat – wie es schon ein Er­le­ben von Freu­de war, ge­gen das al­les an­de­re nich­tig wur­de – ver­schwand.

Die Da­niel kam, in den Pelz und einen Spit­zens­hawl ge­wi­ckelt, wie­der zu ihm und re­de­te lei­se auf ihn ein. Er mach­te eine un­ge­dul­di­ge Be­we­gung, schließ­lich folg­te er ihr hin­aus.

Und gleich stand er aufs neue an der­sel­ben Stel­le, den Hut noch auf dem Kopf.

Aga­the war es mit ei­nem Mal, als habe sie un­ge­heu­er viel Cham­pa­gner ge­trun­ken. Sie lach­te zu al­lem, was Rai­ken­dorf sag­te und sah ihn mit glän­zen­den, über­mü­ti­gen Bli­cken an. Als sie da­zwi­schen her­um­tanz­ten, ver­lang­te sie keck, auf ih­ren al­ten Platz ge­führt zu wer­den. Da hat­te Lutz auf sie ge­war­tet, und an den frem­den Ge­sich­tern vor­über grüß­ten ihre Au­gen sich.

Je­mand frag­te den Ma­ler, ob er die Ab­sicht habe, wäh­rend des gan­zen Bal­les den Über­zie­her an­zu­be­hal­ten.

»Ja – so! – Ich woll­te längst ge­hen – ich muss ja fort«, ant­wor­te­te er.

… Sei­ne Stim­me – sei­ne lei­se, has­ti­ge, ab­son­der­li­che Stim­me wie­der zu hö­ren …

Nun wür­de er auf­ge­weckt sein, nun wür­de er ge­hen …

Nein, er ließ sich den Man­tel von ei­nem jun­gen Man­ne ab­neh­men und auch den Hut ent­rei­ßen. La­chend zeig­te er, dass er kei­nen Frack trug, ein paar Ko­mi­tee­her­ren klatsch­ten Bei­fall und zo­gen ihn tiefer in den Saal.

Aga­the wur­de von an­de­ren Tän­zern ge­holt, schlen­der­te mit Freun­din­nen in den Räu­men um­her, nahm un­ter Eu­ge­nies Schutz, die als ver­hei­ra­te­te Frau das Recht er­wor­ben hat­te, Mut­ter­stel­le an ihr zu ver­tre­ten, eine Por­ti­on Eis und ein Stück­chen Ku­chen zu sich – über­all fand sie Lutz in ih­rer Nähe.

Ob es nicht eine Selbst­täu­schung war? Das Glück hat­te et­was so Un­wahr­schein­li­ches.

»Traum­wand­le­rin«, rief Eu­ge­nie sie an, »sol­len wir Dich in un­sern Wa­gen nach Haus schi­cken? Wir wol­len im Re­stau­rant noch ein Glas Bier trin­ken. Oder möch­test Du auch noch blei­ben?«

»Blei­ben, blei­ben!«

Wal­ter lach­te. – Aga­thes Bit­te klang in­stän­dig, als hin­ge ein Schick­sal da­von ab. »Was wer­den die Al­ten sa­gen, wenn Du Dich un­ter un­serm Schutz so un­so­li­de be­trägst?«

»Lass das Würm­chen«, ent­schied Eu­ge­nie. »Siehst Du nicht, dass sie ohne Mut­tern gleich viel le­ben­di­ger ge­wor­den ist?«

*

Lutz hat­te Aga­the an­ge­spro­chen – im Ta­baks­qualm des Re­stau­rants – zwi­schen zwei und drei Uhr mor­gens – und sie ge­fragt, ob sie kürz­lich Nach­richt von Wo­szens­kis ge­habt habe. Und dann bat er sie, ihn mit ih­rer Schwä­ge­rin be­kannt zu ma­chen.

Er er­in­ner­te sich ih­rer also doch noch.

*

Aga­the muss­te am an­de­ren Mor­gen eine or­dent­li­che Straf­pre­digt über sich er­ge­hen las­sen. Für ein jun­ges Mäd­chen schi­cke es sich nicht, nach ei­nem Ball mit Män­nern in der Knei­pe zu sit­zen. Wenn Wal­ter es sei­ner Frau er­lau­be, so wäre das sei­ne Sa­che. Sie soll­te künf­tig nicht mehr mit Wal­ter und Eu­ge­nie aus­ge­hen.

Das Ko­mi­tee hat­te eine Art von Nach­fei­er ver­ab­re­det. – Lutz woll­te auch kom­men.

Wür­de Papa sie hin­dern – gut – so ging sie eben heim­lich. Aber sie bat Mama him­mel­hoch, wie sie noch nie­mals ge­be­ten hat­te – denn sie fand es un­wür­dig, dies Quä­len und Bet­teln, das die an­de­ren jun­gen Mäd­chen im­mer­fort mit ih­ren El­tern auf­führ­ten. Und die gute, süße, liebs­te Mama brach­te Papa schließ­lich dazu, ver­dros­sen ein »Ja« zu sa­gen.

Man blieb nur im klei­nen Saal – gar nicht viel Men­schen.

Es wur­de ge­ra­de­zu auf­fal­lend, wie Lutz ihr den Hof mach­te. Er tanz­te zwar nicht mit ihr – er tanz­te über­haupt nicht – aber er be­ob­ach­te­te sie, an die Tür zum Rauch­zim­mer ge­lehnt, mit ei­nem hei­te­ren und be­frie­dig­ten Lä­cheln. So völ­lig ging er in die­ser Be­schäf­ti­gung auf, dass er al­len Her­ren, die ihn be­grüß­ten, zer­streu­te und kur­ze Ant­wor­ten gab. Dann zog er sich zu ei­ner Zi­ga­ret­te zu­rück.

»Aga­the, kommst Du mit, ich su­che Wal­ter«, sag­te Eu­ge­nie, als die­ser Zeit­punkt ein­ge­tre­ten war, fass­te ihre Schwä­ge­rin un­ter den Arm und zog sie ins Rauch­zim­mer.

»Lass Dir nicht zu sehr mer­ken, dass Du ihn gern hast«, flüs­ter­te sie ihr ins Ohr und ver­ließ sie nach we­ni­gen Se­kun­den in ei­ner lan­gen Un­ter­hal­tung mit dem Ma­ler. Lutz sprach viel und leb­haft, Aga­the hat­te nur halb­lau­te, kin­di­sche Töne als Ant­wort, wie ein furcht­sa­mes klei­nes Mäd­chen. Er muss­te sie für dumm und al­bern hal­ten … die schö­ne, ein­zi­ge Ge­le­gen­heit, ihm zu ge­fal­len, ging un­ge­nützt vor­über.

Eu­ge­nie hat­te sich für den Abend einen treu­her­zi­gen Fähn­rich zum Op­fer er­ko­ren. Es mach­te ihr den größ­ten Spaß, da­mit ih­ren Mann und den kahl­köp­fi­gen Haupt­mann, der vier­mal in der Wo­che bei ih­nen vor­sprach, zu är­gern. Sie ging auf die Pas­sio­nen des rot­bä­cki­gen Kna­ben in Uni­form ein, ließ sich von sei­ner Mut­ter er­zäh­len und von sei­nen Leib­ge­rich­ten. Und dem wur­de sehr heiß, der rote stei­fe Tuch­kra­gen er­stick­te ihn fast, sei­ne Brust durch­glüh­te tie­fe rit­ter­li­che Ver­eh­rung für die­se an­be­tungs­wür­di­ge Frau.

*

Wie son­der­bar – Aga­the sah sich schon bei­na­he am Ende ih­rer Kraft, nun das wah­re Le­ben doch erst be­gin­nen soll­te. Sie war oft ent­setz­lich müde: bei wei­te­ren We­gen in der Stadt wuss­te sie plötz­lich gar nicht mehr, wo sie sich be­fand und ver­moch­te sich nur mit der größ­ten An­stren­gung zu be­sin­nen. Dann kam ihr das Stra­ßen­trei­ben, an das sie doch von Kind­heit auf ge­wöhnt war, un­heim­lich fremd vor, die Häu­ser und die Schil­der an den Lä­den, als habe sie sie nie­mals vor­her ge­se­hen und die Men­schen wie Ma­schi­nen, die nicht aus ei­ge­nem Wil­len gin­gen und sich be­weg­ten, son­dern von ir­gend ei­nem ge­heim­nis­vol­len Mit­tel­punkt aus ge­lei­tet, see­len- und leb­los an ihr vor­über­schnurr­ten und glit­ten.

*

In die­ser Zeit er­fuhr Aga­the, ein jun­ger Mann aus ih­rem Krei­se lie­be sie. Er war­te nur auf eine An­stel­lung als Rich­ter und wol­le dann um sie an­hal­ten, sag­ten ihr die Freun­din­nen, und die hat­ten es von sei­ner Mut­ter. Sei­ne Nei­gung war ver­schwie­gen und be­schei­den. Schon jah­re­lang kann­te ihn Aga­the, war ihm im­mer freund­lich be­geg­net und hat­te nie ge­ahnt, dass in ih­rer Nähe ein erns­tes, aus­dau­ern­des Ver­lan­gen nach ih­rem Be­sitz leb­te.

Der Ge­dan­ke war ihr un­er­träg­lich. Er em­pör­te sie. Kein Fun­ke von Mit­leid er­wach­te in ihr – sie be­han­del­te den jun­gen Mann von dem Au­gen­blick an mit ei­si­gem Hoch­mut. Er wur­de irre an ih­rem Cha­rak­ter, sie schi­en ihm Freu­de an der Grau­sam­keit zu ha­ben. Aber das war ihr gleich­gül­tig, denn er be­lei­dig­te sie. Er soll­te sich nicht un­ter­ste­hen, sie zu lie­ben – er soll­te sich nicht mit sei­nen Träu­men in den Zau­ber­kreis wa­gen, der um sie und den einen ge­zo­gen war, dem ihr Herz ge­hör­te.

*

»Ges­tern bin ich in den An­la­gen der Da­niel be­geg­net«, sag­te Re­fe­ren­dar Dürn­heim, »ist die aber ab­ge­fal­len! Die Trep­pe bei dem chi­ne­si­schen Tem­pel­chen kam sie her­auf, hielt sich am Ge­län­der und schleif­te sich nur noch so vor­wärts. Was hat denn die?«

»Nichts mehr hat sie«, wur­de ihm geant­wor­tet, »mit ihr und Lutz soll’s aus sein.«

»Ach so – na – we­gen dem …«

»Er spricht ja jetzt vom Hei­ra­ten.«

Ein lau­tes Ge­läch­ter folg­te.

»Der eig­net sich auch schon zum Ehe­mann!«

»Die alte Schweid­nitz – die ex­al­tier­te Per­son, läuft ihm ja nach wie ’ne Wahn­sin­ni­ge.«

»Das war doch kost­bar, als er die Vil­la be­schrieb, die er mit ih­rem Gel­de bau­en woll­te, wenn er sich ent­schlie­ßen könn­te … Da hät­ten Sie da­bei sein müs­sen. Ein fa­mo­ser Kerl …«

Der Spre­cher wur­de an­ge­sto­ßen. Aga­the Heid­ling war in der Nähe. Vor jun­gen Da­men re­de­te man doch nicht in dem Ton.

Sie hat­te den Ton ge­hört. Die­se wi­der­wär­ti­gen Män­ner!

Nein – die Schwes­ter von Lutz war Fräu­lein Da­niel doch wohl nicht. Aber eine Schau­spie­le­rin konn­te sich un­mög­lich ein­ge­bil­det ha­ben, sein Weib wer­den zu wol­len … die selbst er­zählt hat­te, dass sie mit ei­ner Wan­der­trup­pe auf den Dör­fern her­um­ge­zo­gen war und mit drei­zehn Jah­ren den al­ten Moor ge­spielt hat­te – die sich schmink­te und von wer weiß wie vie­len Män­nern alle Aben­de vor dem Pub­li­kum im Arm ge­hal­ten und ge­küsst wur­de … Die war doch kaum als ein rich­ti­ger Mensch zu be­trach­ten – als ein Mensch wie Aga­the selbst.

*

Es kam ein Sonn­tag, an dem Eu­ge­nie in der Brei­ten Stra­ße mit Herrn von Lutz ver­ab­re­de­te, ihn zum Kaf­fee bei sich zu er­war­ten.

Und wenn es nicht ein be­deu­tungs­vol­les Merk­mal war, dass der Ma­ler, der für das We­sen und die For­men der bür­ger­li­chen Pro­vinz-Ele­ganz stets eine lä­cheln­de Ver­ach­tung zeig­te, sich ihr in die­sem Fal­le so­weit an­be­quem­te, zwi­schen zwölf und ein Uhr mit­tags der Brei­ten Stra­ße sei­ne Ge­gen­wart zu gön­nen – dann wuss­te Aga­the nicht, wel­che Zei­chen sie sonst noch er­war­ten soll­te. Eu­ge­nie gab ihr recht.

Wie oft, seit Ada sich für Kain mit grü­nen Blät­tern kränz­te, ha­ben Mäd­chen vor kla­ren Bä­chen und Me­tall­plat­ten, vor ve­ne­zia­ni­schen Kris­tal­len und zer­bro­che­nen Scher­ben ge­stan­den … Wie oft ha­ben sie se­lig und zwei­felnd, in zau­dern­der Un­si­cher­heit oder lä­cheln­dem Selbst­be­wusst­sein sich für den Ge­lieb­ten ge­schmückt … Und wie oft ha­ben sie fehl­ge­grif­fen in der Ban­gig­keit ih­res Her­zens – den Schmuck ge­wählt, der dem un­be­kann­ten Ge­schmack des er­war­te­ten Ge­bie­ters am we­nigs­ten zu­sag­te! Wie schwer ist die Wahl zwi­schen dem schöns­ten An­zug und dem kleid­sams­ten – zwi­schen Putz­sucht und Ei­tel­keit. Und er soll ja nicht ah­nen, was man für ihn ge­tan – das Fest­lichs­te soll all­täg­li­che Ge­wohn­heit schei­nen. Aber die Hand bebt und Flim­mer­fun­ken tanz­ten vor den Au­gen – warum fällt heu­te – nur heu­te, das Löck­chen am Ohr so ab­sicht­lich – warum will an die­sem ein­zi­gen von al­len Ta­gen die Schlei­fe nicht ge­lin­gen?

Schon stan­den die Mok­ka­täß­chen ge­leert auf Eu­ge­nies sil­ber­glän­zen­dem Kaf­fee­tisch – der Haupt­mann und der Fähn­rich rauch­ten – Wal­ter rauch­te – Eu­ge­nie hielt eine Zi­ga­ret­te zwi­schen den Fin­gern und Aga­the saß still und steif, die Hän­de im Schoß ge­fal­tet. Der Haupt­mann schlug einen ge­mein­sa­men Spa­zier­gang vor – Lutz war noch nicht er­schie­nen.

Die Her­ren emp­fah­len sich.

Aga­the blieb zum Abend bei den Ge­schwis­tern. Nach Mit­ter­nacht muss­te sie doch end­lich ge­hen.

Nun war es wohl zu Ende.

*

Er hat­te sein Bild nach Pa­ris ab­sen­den wol­len, der Tisch­ler ließ ihn im Stich – es war der letz­te Ter­min zur An­nah­me bei der Jury – er hat­te es selbst pa­cken und am Sonn­tag Nach­mit­tag zur Bahn hin­aus­fah­ren müs­sen.

Herr von Lutz er­zähl­te es Aga­the, als er sie acht Tage spä­ter im Kunst­ver­ein traf. In ihr war al­les still und stumm – es moch­te ja so ge­we­sen sein. Ein ab­ge­stor­be­nes Ge­fühl im Her­zen … Sie wun­der­te sich über ihre große Ruhe.

Lutz frag­te, ob ihre Schwä­ge­rin je­den Sonn­tag Gäs­te emp­fan­ge? Ob er heu­te kom­men dür­fe? Er wür­de sie doch auch tref­fen?

»Ich bin meis­tens dort«, ant­wor­te­te sie ohne Freu­de.

Sie be­rei­te­te sich nicht vor – sie än­der­te nichts an ih­rem An­zug. Am liebs­ten wäre sie über­haupt zu Haus ge­blie­ben, so sehr fürch­te­te sie sich, noch ein­mal Ähn­li­ches durch­lei­den zu müs­sen, wie am letz­ten Sonn­tag.

Und ge­ra­de heu­te woll­ten die El­tern auch mit­gehn.

Wäh­rend sie zwi­schen ih­nen in der Pfer­de­bahn saß, be­te­te sie in krampf­haf­ter An­dacht alte Ge­sang­buch­ver­se.

Eins ist Not, ach, Herr, dies Eine

Leh­re mich er­ken­nen doch.

Al­les and­re, wie’s auch schei­ne,

Ist ja nur ein schwe­res Joch,

Dar­un­ter das Her­ze sich na­get und pla­get

Und den­noch kein wah­res Ver­gnü­gen er­ja­get –

Er­lang’ ich dies Eine, das al­les er­setzt,

So werd’ ich mit Ei­nem in Al­lem er­götzt.


See­le, willst Du die­ses fin­den,

Such’s bei kei­ner Krea­tur –

Lass, was ir­disch ist, da­hin­ten.

Schwing Dich über die Na­tur,

Wo Gott und die Mensch­heit in Ei­nem ver­ei­net,

Wo alle un­s­terb­li­che Fül­le er­schei­net –

Da, da ist Dein bes­tes, Dein se­ligs­tes Teil,

Dein Ein und Dein Al­les – Dein ewi­ges Heil!

Wenn sie sich so­weit be­zwin­gen konn­te, nichts mehr zu er­war­ten – gar nichts – dann viel­leicht – dann hat­te Gott viel­leicht Er­bar­men – –.

Im Flur bei Wal­ters hing der wohl­be­kann­te Pa­le­tot von Lutz am Ha­ken, und dar­un­ter stan­den die großen när­ri­schen Über­schu­he.

Ängst­lich horch­te Aga­the auf sei­ne Un­ter­hal­tung mit Mama – die bei­den hat­ten doch auch gar kei­ne Berüh­rungs­punk­te. Wa­rum woll­ten die El­tern sie heu­te durch­aus be­glei­ten? Wie kam es nur? Es war ganz un­mög­lich, sich vor­zu­stel­len, dass Lutz je­mals mit den El­tern auf freund­schaft­li­chem Fuß ver­keh­ren konn­te, trotz­dem er doch fein und ge­schmei­dig war. – Ach, du lie­ber Him­mel, nun fing Papa so­gar an, mit ihm über Kunst zu spre­chen – so ganz von oben her­ab. Wie pe­dan­tisch das al­les klang, und Lutz hör­te ihm auch nur zer­streut zu, bis er plötz­lich le­ben­dig wur­de und sich für einen Fran­zo­sen, den ihr Va­ter als über­spannt be­zeich­ne­te, lei­den­schaft­lich be­geis­ter­te. In sei­ner Ge­gen­wart trat Wal­ters geis­ti­ge Un­be­deu­tend­heit pein­lich her­vor, und Eu­ge­nies We­sen wirk­te auf­dring­lich, ab­sicht­lich. Hät­te sich Aga­the nun der Un­ter­hal­tung be­mäch­ti­gen kön­nen, rei­zen­de, über­ra­schen­de Sa­chen sa­gen – ihn fes­seln – ihn in Er­stau­nen ver­set­zen … Aber sie wuss­te es schon im vor­aus – al­les war ver­ge­bens. Was konn­te ihn denn ent­zücken? – Ihn? – Ihre Stim­me war auch wie­der fort.

Wä­ren nur ein paar Freun­de noch da ge­we­sen, die Auf­merk­sam­keit ab­zu­len­ken. Eu­ge­nie be­ob­ach­te­te sie – Mama ahn­te auch schon – warum wa­ren die El­tern mit­ge­kom­men, wenn ih­nen nicht je­mand ver­ra­ten hät­te, dass sich et­was an­spann …

Und doch, und doch – ihn ne­ben sich, ganz nahe zu ha­ben, ihn ru­hig be­trach­ten zu dür­fen – das war tie­fe Freu­de. Und sie ver­such­te, sich zu la­ben, sich zu sät­ti­gen und ru­hig zu wer­den in der Freu­de.

Er war ihr fremd – so bei Tage und im häus­li­chen Krei­se. Er und das fie­ber­haft ge­lieb­te Traum­bild wa­ren nicht ganz ein und der­sel­be – es hat­te un­ter ih­rer zärt­li­chen Pfle­ge Züge an­ge­nom­men, die mit dem Le­ben nicht ge­nau über­ein­stimm­ten. Aber der Le­ben­di­ge be­saß doch die grö­ße­re Macht.

Er sah nicht so weiß und zart aus, wie in der dunklen Thea­ter­lo­ge – sei­ne Far­be war eher fahl, die Au­gen von leicht ge­röte­ten Rän­dern um­ge­ben. Die Art, wie er sei­nen klei­nen, wei­chen Schnurr­bart mit den Fin­gern miss­han­del­te, konn­te einen ner­vös ma­chen – es zeig­te sich dar­in et­was Fried­lo­ses. Und auch in dem fort­wäh­ren­den Wech­sel des Aus­druckes auf dem be­weg­li­chen Ge­sicht. Aber das Mär­chen­prin­zen­pro­fil …

Der Ma­ler und Heid­lings wur­den auf­ge­for­dert, zum Abend zu blei­ben. Bei Tisch ge­riet plötz­lich die Rede auf Hei­ra­ten.

Wal­ter sag­te, vor der Ehe wis­se man über­haupt nicht, was Lie­be sei.

Aga­the blick­te er­staunt zu ih­rem Bru­der hin­über, sei­ne Au­gen ruh­ten mit in­ni­gem Stolz auf Eu­ge­nie.

»Der Trau­schein vom Stan­des­amt muss eine große Si­cher­heit ge­ben«, rief Lutz la­chend. Re­gie­rungs­rat Heid­ling zog die Stirn miss­bil­li­gend in Fal­ten.

»Wie das kommt«, warf Lutz hin, »man sieht ein Mäd­chen so und so oft und hat sie doch nicht be­merkt – da hört man aus der Fer­ne ein Wort von ihr zu ei­nem an­de­ren – das trifft – ir­gend­wie – ir­gend­wo – man sieht sie ei­gent­lich in die­sem Au­gen­blick zum ers­ten Mal.«

Aga­the saß ver­wirrt und ban­ge lä­chelnd ne­ben ihm. Wie son­der­bar – er konn­te sie doch nicht mei­nen? In al­lem, was er sag­te, ent­deck­te sie einen ge­hei­men Sinn, für sie al­lein be­rech­net.

Ja – ganz ge­wiss – er wen­de­te sich am meis­ten zu ihr. Eu­ge­nie, wel­che die Män­ner sonst so sehr an­zog, schi­en ihn nicht zu in­ter­es­sie­ren.

*

Frau Heid­ling sag­te ih­rer Toch­ter ei­nes Abends sanft und scho­nend:

»Lie­bes Kind – Du bist ein ver­stän­di­ges Mäd­chen – Papa hat mir ges­tern er­zählt: Herr von Lutz steht gar nicht in gu­tem Ruf, und Papa wünscht nicht, dass er in un­ser Haus kommt.«

On­kel Gu­stav aber be­such­te Lutz in sei­nem Ate­lier und mach­te Aga­the eine aus­führ­li­che Be­schrei­bung von der sil­ber­blau­en Chai­se­longue, den Louis-quin­ze-Stüh­len, dem gan­zen In­te­rieur, das – ach wie lan­ge schon – Her­ber­ge und Hei­mat ih­rer lei­den­schaft­li­chen Träu­me war.

Aga­the frag­te sich trot­zig, warum Adri­an Lutz schlim­mer sein soll­te als ihr Bru­der Wal­ter? Wenn die El­tern nur wüss­ten … si­cher­lich wür­den sie dann Adri­an nicht so un­ge­recht ver­ur­tei­len. Er war ih­nen nicht sym­pa­thisch – das war’s im Grun­de.

Un­be­stimm­te Erin­ne­run­gen al­ter Volks­mär­chen, die aus tie­fen, ver­bor­ge­nen Quel­len ihre Fan­ta­sie tränk­ten, weil sie des klei­nen Mäd­chens ers­te Geis­tes­nah­rung ge­we­sen, re­de­ten ihr nun tröst­lich von den Prü­fun­gen zur Treue, zum Aus­har­ren, der der Kö­nig die Ge­lieb­te un­ter­wirft – durch bren­nen­des Feu­er und ste­chen­de Dor­nen muss sie wan­dern und durch tie­fe, dunkle Nacht – al­les muss sie ver­las­sen, was ihr lieb war – an der Hand der an­de­ren, der Fal­schen, tritt er ihr ent­ge­gen … Und am Schlus­se läu­ten doch die Hoch­zeits­glo­cken, und er hebt sie zu sich em­por – sie, die nicht an ihm ge­zwei­felt hat.

Lass ad­ler­mu­tig Dei­ne Lie­be schwei­fen

Bis dicht an die Un­mög­lich­keit hin­an.

Kannst Du des Freun­des Tun nicht mehr be­grei­fen,

So fängt der Freund­schaft from­mer Glau­be an.

Das flüs­ter­te Aga­the sich zu mit der Nei­gung des jun­gen emp­fin­dungs­vol­len Men­schen für das Pa­thos, für die ho­hen, tö­nen­den Wor­te und die ho­hen, be­geis­te­rungs­trun­ke­nen Ge­füh­le.

Sie lieb­te Lutz – und sie glaub­te an sei­ne Rein­heit wie an sei­ne Schön­heit, wie an ihre Lie­be – glaub­te blind, mit Fa­na­tis­mus – dem Mär­ty­rer gleich, der sei­nem Got­te Ju­bel­lie­der singt, wäh­rend die wil­den Tie­re sei­ne Glie­der zer­rei­ßen und er das Herz­blut zu des Herrn Ehre op­fern darf.

Gabriele Reuter – Gesammelte Werke

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