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X.

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Als Aga­the in ihr Gast­zim­mer­chen bei Wo­szens­kis zu­rück­kehr­te, schloss sie ei­lig die Tür hin­ter sich.

Sie blieb einen Au­gen­blick ste­hen, sah er­staunt und ver­wirrt um­her. Plötz­lich fiel sie vor dem Bett auf die Knie, drück­te ih­ren Kopf in die Arme und blieb so eine lan­ge Wei­le, das Ge­sicht in den wei­ßen De­cken ver­bor­gen, ohne sich zu re­gen. Sie wein­te nicht. Ein hef­ti­ges, an­hal­ten­des Zit­tern lief durch ih­ren Kör­per. Dann war es, als ob die Luft ihr feh­le. Sie warf den Kopf in den Na­cken und blick­te mit ge­öff­ne­ten, be­ben­den Lip­pen em­por.

»Ach Gott! Ach Gott – ach mein lie­ber Gott!«

Un­ge­dul­dig zerr­te sie die Hand­schu­he ab, sprang auf, schleu­der­te ihre Müt­ze, ihre Ja­cke von sich und lief plan­los, die Au­gen mit Trä­nen ge­füllt, in dem en­gen Raum um­her.

Sie blieb ste­hen …

… Wie eine Er­schei­nung sah sie das Pro­fil – die Li­ni­en sei­nes Kop­fes vor sich in der Luft.

All­mäh­lich er­blüh­te aus der Qual in ih­rem Ant­litz ein Lä­cheln, ein trun­ke­nes Leuch­ten der Au­gen. Tief aus der Brust rang sich seuf­zend der Atem, die Trä­nen quol­len und ran­nen klar über die glut­hei­ßen Wan­gen. Das Mäd­chen fal­te­te die Hän­de und sprach lei­se, fei­er­lich:

»Ich lie­be ihn.«

Er­schöpft saß sie auf dem Rand ih­res La­gers, press­te die ge­fal­te­ten Hän­de ge­gen die Brust und wie­der­hol­te ent­zückt:

»Ich hab’ ihn lieb – ich hab’ ihn lieb …«

So ver­sank sie in Träu­me. Wie war nur al­les ge­we­sen? – sie er­in­ner­te sich nicht mehr, was er mit ihr ge­spro­chen … Wie er den klei­nen schwar­zen Hut von dem hel­len Kopf ge­nom­men und ihr sei­nen Blick zu­ge­wandt – das wuss­te sie noch. Ja – hell und zart – mit sei­nen schlan­ken For­men, ein we­nig blass und müde um die Au­gen – so trat sei­ne Er­schei­nung wie hin­ter einen leich­ten Ne­bel, der al­les nur un­deut­lich er­ken­nen ließ, vor ihre Fan­ta­sie.

Sie hat­ten we­ni­ge Wor­te ge­wech­selt – er re­de­te mit Frau von Wo­szens­ka über sei­ne be­gon­ne­ne Ar­beit. Da ge­brauch­ten sie Aus­drücke, die Aga­the fremd wa­ren, die auch ihr Va­ter nie­mals be­nutz­te, wenn er über die Kunst sprach. Und sie mach­ten mit Hän­den und Fin­gern an­deu­ten­de, zeich­nen­de und fort­wi­schen­de Be­we­gun­gen in der Luft. Frau von Wo­szens­ka rühr­te an bun­te Stof­fe, die auf ei­nem weiß­la­ckier­ten Tisch­chen la­gen, und ent­schul­dig­te sich ernst­haft, als habe sie eine große Rück­sichts­lo­sig­keit be­gan­gen. Er lä­chel­te und be­merk­te, das habe nichts auf sich. Er hob einen der Stof­fe in die Höhe und lieb­kos­te ihn gleich­sam mit sei­nen un­ru­hi­gen Hän­den – eine wei­che, wei­ße, tür­ki­sche Sei­de von küh­len, blau­grü­nen Strei­fen durch­zo­gen. Sie war auf dem Bil­de wie­der­ge­ge­ben, ein bron­ze­ner Amor sprang aus ih­ren Fal­ten.

Aga­the wag­te zu sa­gen, sie möge Still­le­ben nicht lei­den – aber die­se Idee wäre lus­tig.

Da sah er sie noch ein­mal schnell und flüch­tig an. »Ja? – Mei­nen Sie? Ich den­ke auch.«

Sie hör­te, dass er Herrn von Wo­szen­ski »mein Freund Ham­let« nann­te und ihm riet, nach Mün­chen zu zie­hen. Hier wür­de er kein Mo­dell zu der Non­ne fin­den. »Das Nai­ve ist hier im­mer gleich roh!«

Schüch­tern hat­te Aga­the sich in dem Ate­lier um­ge­se­hen. Eine klei­ne Chai­se­longue mit blau­em Sei­den­plüsch be­zo­gen – Kis­sen von ver­blass­tem, blu­men­durch­wirk­tem Da­mast auf gra­zi­ös ge­schweif­ten Stüh­len – al­les an­de­re war ein Ge­wirr von wei­chen, ein­schmei­cheln­den Far­ben – For­men – Stof­fen – Dun­kel­hei­ten, die durch alte Ra­die­run­gen und Bron­zen in die lich­te Ele­ganz ge­bracht wur­den. Die Ein­rich­tung un­ter­schied sich stark von dem her­ben Künstl­er­ge­schmack, der bei Wo­szen­ski herrsch­te.

Nie­mals hat­te Aga­the der­glei­chen ge­se­hen. Aber in ihr tauch­te eine Erin­ne­rung auf, als habe sie da­von ge­träumt – als habe sie das al­les un­be­wusst ge­sucht.

*

Sie hob ihre Hand, die der Ma­ler beim Ab­schied flüch­tig ge­drückt – ein sü­ßes, lie­bes Ge­fühl war ihr in den Ner­ven ge­blie­ben. Zit­ternd nä­her­te sie sie den Lip­pen – es war kein Kuss, nur ein lei­ses, be­hut­sa­mes Ru­hen des Mun­des auf der Stel­le, die er be­rührt hat­te. –

Ihr Stau­nen, von der längst er­war­te­ten, ge­fürch­te­ten, er­hoff­ten Ge­walt be­rührt, er­grif­fen, ein­gehüllt und ge­fan­gen zu sein, wich mehr und mehr ei­ner schel­mi­schen Neu­gier auf al­les, was nun fol­gen muss­te.

Und die Fan­ta­sie mit ih­ren trü­ge­ri­schen Spie­ge­lun­gen ließ sie im Stich.

Es gab für Aga­the nur noch zwei Men­schen auf der Welt. Sie muss­ten sich ver­ei­ni­gen, und das Ge­heim­nis der Ve­rei­ni­gung muss­te ihr ent­hüllt wer­den. Die Neu­gier wich auch von ihr. Sie war Ent­wei­hung.

Das Mäd­chen stand mit­ten im Al­ler­hei­ligs­ten des Ge­fühls – sie war be­reit – wie Ju­lia be­reit war für den Ge­lieb­ten.

*

Wäh­rend des Mit­tags­mah­les streif­te Frau von Wo­szens­ka ih­ren Gast zu­wei­len mit auf­merk­sa­mem Blick. Aga­the aß kaum et­was. Auch am Abend nicht. Sie war sehr schweig­sam. Doch ein er­höh­tes Wohl­ge­fühl vi­brier­te in ihr. Das Blut klopf­te ihr mit stär­ke­rem Puls­schlag in den Adern, es schim­mer­te röt­li­cher, ge­sun­der durch die fei­ne Haut der Wan­gen. Ihr Gang hat­te et­was Frei­es, Leich­tes, sie trug den Kopf stol­zer und die brau­nen Haar­löck­chen flat­ter­ten keck um die Schlä­fe – um die klei­nen hei­ßen Ohren. Wenn das Mäd­chen ir­gend eine gleich­gül­ti­ge Ant­wort ge­ben soll­te, lä­chel­te sie den Fra­gen­den mit ei­nem schö­nen fro­hen Aus­druck an. Ju­gend und Le­ben spra­chen be­weg­lich aus ih­ren feucht­glän­zen­den Au­gen.

*

… Nein – das war ja nicht mög­lich Herr von Lutz konn­te sich nicht in dunk­ler Nacht aus himm­li­schen Hö­hen zu ihr nie­der­sen­ken, wie Amor die be­ben­de Psy­che fand … Auf der Trep­pe, die zu Wo­szens­kis Woh­nung führ­te, mach­te Aga­the es sich mit in­ni­ger Hei­ter­keit klar, dass Lutz die­sel­ben Stu­fen em­por­stei­gen müs­se, wenn er sie wie­der­se­hen wol­le. Da­bei be­schlich sie die ers­te ban­ge Fra­ge, ob das je ge­sche­hen wür­de.

*

Das Ge­dächt­nis für die­se Zeit ih­res Le­bens war spä­ter fast in ihr er­lo­schen. Sie hat­te kei­ne Erin­ne­rung mehr, wann das trun­ke­ne Glück sich in Ver­wun­de­rung, wann die Ver­wun­de­rung sich zu Angst und die Angst zu dump­fem, quä­len­dem Kum­mer sich wan­del­te.

Es ge­sch­ah al­les nicht so, wie sie er­war­tet hat­te. Er kam nicht. Doch sie muss­ten sich ja wie­der­fin­den. Er war­te­te wohl auf eine Be­geg­nung, die ihm der Zu­fall brin­gen soll­te.

Zwei­fel an dem Ein­druck, den sie emp­fan­gen hat­te, ka­men Aga­the nicht.

Sie lieb­te ihn.

All­mäh­lich be­gann sie zu ah­nen, dass Lie­be für ge­wis­se Na­tu­ren nicht Glück, son­dern Lei­den ist, und wenn sie nicht zum Hö­he­punk­te ge­sun­den Le­bens führt, zur Krank­heit wird, an der die Ju­gend zu Tode welkt.

*

In ei­nem Kon­zert sah Aga­the ihn un­er­war­tet dicht vor sich sit­zen. Sie hat­te ihn nicht ein­mal gleich er­kannt; dar­über war sie sehr er­schro­cken.

Er trug den Kopf ein we­nig ge­neigt. Zu­wei­len wand­te er ihn mit der An­mut, die ge­ra­de die­se Be­we­gung bei ihm aus­zeich­ne­te, zu der Dame an sei­ner Sei­te und sprach ein lei­ses Wort.

Aga­the war­te­te in er­sti­cken­der Span­nung, ob er sich aus sei­nem Stuhl um­dre­hen und ob sein Blick dann auf sie fal­len wer­de. Er tat es nicht. Er schi­en sehr hin­ge­nom­men von dem lei­sen, aber leb­haf­ten Ge­spräch, das er in den Pau­sen mit sei­ner Nach­ba­rin führ­te.

Ein un­ge­mein zier­li­ches klei­nes We­sen war sie und trug ein schwar­zes Kleid mit win­zi­gen Per­len be­stickt, die leicht glit­zer­ten, so­bald sie sich be­weg­te. Dazu ein brau­nes Hüt­chen mit weißem Krepp.

In der Form ih­res Kop­fes lag eine ge­wis­se Ähn­lich­keit mit der des Ma­lers, und auch in der Fär­bung ih­rer Haut, die nichts von dem ro­si­gen An­hauch ei­nes Blon­di­nen-Teints be­saß, son­dern an den mat­ten Ton des El­fen­beins er­in­ner­te.

Aber Lutz hat­te ein rich­ti­ges Mär­chen­prin­zen­pro­fil – und sie zeig­te am Ende des Kon­zer­tes Aga­the ein drol­li­ges Näs­chen und einen brei­ten Mund.

Nun er­kann­te Aga­the sie. Es war die Schau­spie­le­rin, die sie vor ein paar Ta­gen in ei­ner Kna­ben­rol­le be­wun­dert hat­te. Ihre af­fek­tier­te Gra­zie war die ei­ner klei­nen Ro­ko­ko­fi­gur aus ei­nem Fä­cher, des­sen Far­ben schon ein we­nig ver­blasst sind.

Frau von Wo­szens­ka hat­te kei­nen Platz ne­ben Aga­the be­kom­men und saß meh­re­re Rei­hen wei­ter nach vorn. Als Aga­the beim Hin­aus­ge­hen nur noch durch ei­ni­ge Per­so­nen von ihr ge­trennt war, sah sie, wie Lutz zu ihr trat, um sie zu be­grü­ßen. Sein fei­nes ner­vö­ses Ge­sicht nahm einen lie­bens­wür­di­gen Aus­druck von Güte, ja von Ehr­furcht an. Wäh­rend er der Schau­spie­le­rin folg­te, be­merk­te er auch Aga­the und lüf­te­te noch ein­mal leicht den Hut. Er lä­chel­te, sei­ne Au­gen wa­ren träu­me­risch, die Erin­ne­rung der Mu­sik lag noch dar­in.

»Ist Fräu­lein Da­niel mit Herrn von Lutz ver­wandt?« frag­te Aga­the Frau von Wo­szens­ka.

»Nein – ich weiß nichts da­von – ich glau­be durch­aus nicht … Wa­rum?«

»Weil sie sich ähn­lich se­hen.«

»Ja – Du hast recht! Das ist doch när­risch! Sie ist sei­ne Freun­din. Ein ge­scheid­tes Frau­en­zim­mer!«

*

Wo­szen­ski zeich­ne­te Aga­the meh­re­re Male als Stu­die zu sei­ner No­vi­ze. Lutz habe ihn auf den Ge­dan­ken ge­bracht – sie habe so from­me Au­gen …

Er seufz­te viel bei der Ar­beit, durch­wühl­te sein Haar und sei­nen wir­ren Bart, starr­te über die Bril­le hin­weg und un­ter ihr her­vor.

»So ein wei­ches Köpf­chen, wo noch nichts drin ist – das ist sein – aber schwer – schwer.«

Ihre hel­le ro­si­ge Far­be pass­te ihm auch nicht in den Ton des Bil­des.

Dann ließ er es plötz­lich ganz, ohne einen Grund da­für an­zu­ge­ben. Hol­ten die Da­men ihn aus dem Ate­lier, so fan­den sie ihn, ver­sun­ken in Grü­belei­en, vor sei­nem Wer­ke sit­zend. Ma­rie­chen mach­te ein erns­tes, sor­gen­vol­les Ge­sicht.

Abends er­zähl­te er ih­nen die tolls­ten Ent­wür­fe zu neu­en Ar­bei­ten. Oder er be­riet mit sei­ner Frau, was er ma­len wür­de, wenn er das Ta­lent zum Geld­ver­die­nen hät­te, was er nicht be­saß.

»Moh­ren ge­hen – die ge­hen im­mer … Jä­ger mit Hun­den wer­den auch gern ge­kauft.«

Frau von Wo­szens­ka be­kam ei­nes ih­rer Bil­der von der Mün­che­ner Aus­s­tel­lung zu­rück. »Das Zeug will sich ja kei­ner in die Stu­be hän­gen – na – es war ’mal so ’ne Idee«, sag­te sie phi­lo­so­phisch, in­dem sie es aus­pack­te. Ein Turm­fens­ter, das in dem Be­schau­er den Ein­druck von schwin­deln­der Höhe, von Er­den­fer­ne und Him­mels­nä­he er­weck­te. Im Hin­ter­grun­de die Um­ris­se der großen Kir­chen­glo­cke. Und ein Kind blickt im Bo­gen des Fens­ters, den Kopf auf das run­de di­cke Ärm­chen ge­legt, ru­hig hin­ab. Über ihm, an ei­nem der­ben Ha­ken, hängt eine tote Gans, auf ih­rem flau­mi­gen, mit der größ­ten künst­le­ri­schen De­li­ka­tes­se be­han­del­ten Ge­fie­der glän­zen still die letz­ten Son­nen­strah­len.

»– Tan­te Ma­rie­chen«, frag­te Aga­the, »woll­test Du da­mit sa­gen, dass ein voll­kom­me­ner Frie­de nur durch eine Gans und ein Kind dar­ge­stellt wer­den kann?«

Frau von Wo­szens­ka lach­te. »So klu­ge Be­mer­kun­gen musst Du den Häss­li­chen über­las­sen, dazu bist Du viel zu hübsch«, ant­wor­te­te sie er­freut.

Aga­the wur­de es viel leich­ter, ihre Ge­dan­ken Wo­szens­kis aus­zu­spre­chen als ih­ren El­tern. In der un­si­cher tas­ten­den Zag­heit ih­rer Emp­fin­dun­gen ver­wirr­te sie schon die Ah­nung ei­nes Wi­der­spruchs. Zu Hau­se war sie noch im­mer von Päd­ago­gik um­ge­ben. Hat­te Frau Wo­szens­ka eine ab­wei­chen­de An­sicht, dann stell­te sie sie als eine mensch­li­che An­schau­ung ei­ner an­de­ren ge­gen­über. Und Kas war noch fein­füh­li­ger als sei­ne Frau. Wo sie Phi­lis­ter­haf­tig­kei­ten be­merk­te, wur­de ihr gan­zes Ge­sicht gleich grau­sa­mer Hohn, auch wenn sie kein Wort sprach.

Nun ge­sch­ah das selt­sa­me, dass Aga­the un­ter ih­rem an­ge­lern­ten Ge­schmack et­was in sich fand, das da­mit gar nicht zu­sam­men­hing, das selbst­stän­dig, wenn auch sehr be­schei­den und ängst­lich, ein ihr selbst nur halb be­wuss­tes Da­sein ge­führt hat­te. Sie be­merk­te mit fro­hem Er­stau­nen, dass ihr Wi­der­wil­le ge­gen die Lan­ge­wei­le, Gleich­för­mig­keit und Enge der ge­sell­schaft­li­chen Sit­ten ih­res Krei­ses, ja ge­gen die Grund­sät­ze ih­rer ei­ge­nen El­tern von Wo­szens­kis völ­lig ge­teilt wur­de.

Vie­les, was ihr Va­ter als ab­surd und ma­nie­riert ver­damm­te, stand hier in ho­hen Ehren.

So hat­te Aga­the ganz aus ei­ge­ne Hand ent­deckt, dass es einen großen Künst­ler gab, der Böck­lin hieß, und des­sen Bil­der je­des Mal Sehn­sucht und Glück in ihr weck­ten. Mit un­be­hag­li­chem Schwei­gen, als ver­leug­ne sie et­was Hei­li­ges, hat­te sie Wal­ters und Eu­ge­nies Wit­ze über ihn an­ge­hört. Die Trä­nen schos­sen ihr in die Au­gen, als sie Wo­szen­ski zum ers­ten Mal sei­nen Na­men nen­nen hör­te und er, was sie dun­kel emp­fun­den, mit geist­rei­chem Ver­ständ­nis pries. Ihr We­sen streck­te sich gleich­sam und wuchs und brei­te­te sich aus in die­sen Wo­chen.

Aber am meis­ten lern­te sie doch von Lutz. Wie er war, und was er lieb­te, und wo­von er be­wegt wur­de, such­te sie lis­tig und müh­sam zu er­fah­ren. Es dünk­te sie, als käme sie ihm auf eine ge­heim­nis­vol­le Wei­se nä­her, in­dem sie ihn ver­ste­hen lern­te.

Ihrem ers­ten Ge­lieb­ten ver­dank­te Aga­the den Na­tur­rausch, der sie bei je­dem Son­nen­un­ter­gang in mys­ti­sche Ex­ta­sen ver­setz­te – das Ver­ständ­nis für die großen Kon­tu­ren der Din­ge und die schwär­me­n­de Be­geis­te­rung für eine weit, weit von al­lem Er­den­weh ent­fernt woh­nen­de Frei­heit.

Der Don Juan, der sie durch sei­ne Iro­nie ver­letz­te, und den sie bis auf we­ni­ge Stel­len nicht lei­den moch­te, hat­te ihr den­noch den Blick für die Lä­cher­lich­keit der Kon­ven­ti­on ge­schärft.

Von ih­rem zwei­ten Ge­lieb­ten er­lausch­te sie nun den raf­fi­nier­ten Ge­nuss an den Me­lo­di­en der Far­ben, an ih­ren ferns­ten Ab­tö­nun­gen, und der Wir­kung von Licht und Schat­ten – an den selt­sa­men Be­zie­hun­gen zwi­schen Far­be und See­len­stim­mung.

Adri­an Lutz be­deu­te­te ihr: in ei­nem wei­ten Dun­kel mit den be­ängs­ti­gen­den Um­ris­sen un­ge­heu­rer, un­be­stimm­ter Ge­stal­ten ein schma­ler wei­ßer Licht­streif – eine zart­leuch­ten­de grün­blas­se Wal­dorchis.

Aus drei Ra­die­run­gen und ein Paar Land­schafts­stu­di­en, die Wo­szen­ski von Lutz be­saß und sehr hoch hielt, bil­de­te Aga­the sich eine Ge­schmacks­rich­tung: Mo­d­erns­te fran­zö­si­sche Schu­le mit et­was ner­vö­ser Ro­man­tik, die der Künst­ler aus dem ihm Ei­ge­nen hin­zu­ge­tan.

Das war ein frem­des, schar­fes Ge­würz in ih­rer bis­he­ri­gen Nah­rung. Ob der Re­gie­rungs­rat Heid­ling ge­ra­de die­se bei­den Män­ner zu Er­zie­hern sei­nes Kin­des ge­wählt ha­ben wür­de?

Vor­sich­ti­ge El­tern pfle­gen sich wohl einen Plan für die Bil­dung ih­rer Töch­ter zu ent­wer­fen. Aber die heim­li­chen Ein­flüs­se, die am stärks­ten auf einen jun­gen Frau­en­geist wir­ken – die kön­nen sie nicht be­rech­nen.

*

Ein­mal noch wäh­rend ih­res Auf­ent­hal­tes bei Wo­szens­kis sah Aga­the Lutz von wei­tem in ei­ner men­schen­lee­ren Stra­ße. Sie war dort auf und nie­der ge­gan­gen, um die Zeit zu er­war­ten, wo sie ihm zu be­geg­nen hoff­te. Es war das ers­te Mal, dass sie so et­was tat, und sie konn­te es auch nicht wie­der­ho­len – es zer­riss sie zu sehr.

Er kam, die Zi­ga­ret­te zwi­schen den Lip­pen, aus sei­nem Ate­lier, traf auf den Post­bo­ten und nahm ihm einen Brief ab. Mit sei­nen has­ti­gen Be­we­gun­gen riss er den Um­schlag auf und schritt le­send ihr nä­her. Aga­the ging lang­sam an ihm vor­über, ohne dass er sie be­merk­te. Er blick­te in die Höhe, sein be­weg­tes Ge­sicht strahl­te vor Freu­de über die Nach­richt, die er so­eben emp­fan­gen hat­te. Da fühl­te sie tief, dass er mit­ten in ei­nem rei­chen Da­sein voll man­nig­fa­cher Er­leb­nis­se stand – und sie hat­te kei­nen An­teil dar­an – ihr war es ganz fremd.

Als fünf Wo­chen ver­flos­sen wa­ren, reis­te sie nach Haus zu­rück.

Gabriele Reuter – Gesammelte Werke

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