Читать книгу Gabriele Reuter – Gesammelte Werke - Gabriele Reuter - Страница 23

XV.

Оглавление

In der Char­wo­che fuhr Aga­the nach Bor­nau. Wäh­rend sie ihr Bil­let lös­te, stand eine klei­ne Dame in dis­kre­ter schwar­zer Toi­let­te ne­ben ihr und war­te­te, bis der Zu­gang zum Schal­ter frei wur­de. Ein grau­er Ga­ze­schlei­er ver­hüll­te ihr Ge­sicht, doch er­kann­te Aga­the Fräu­lein Da­niel.

Wo­hin moch­te sie fah­ren? Wenn sie nun bei­de in das­sel­be Coupé ge­rie­ten? Ob Lutz in der Nähe war?

Er hat­te sie nicht be­glei­tet!

Das hef­tigs­te Tri­umph­ge­fühl durch­drang Aga­the.

Die Da­niel war viel vor­neh­mer ge­klei­det, als sie selbst. Und Lutz leg­te so großen Wert auf die­se Äu­ßer­lich­kei­ten!

Aga­the wur­de vom Schaff­ner in ein schon fast ge­füll­tes Da­men­coupé ge­scho­ben. Wo die Da­niel ein­stieg, konn­te sie nicht mehr be­ob­ach­ten. Sie war ent­täuscht, als ihr die Sen­sa­ti­on ent­ging, mit der Schau­spie­le­rin zu­sam­men zu fah­ren. Ihre Ge­dan­ken be­schäf­tig­ten sich, eine Sze­ne aus­zu­ma­len, die zwi­schen ih­nen hät­te ent­ste­hen kön­nen, wenn die Da­niel, al­lein mit ihr im Wa­gen, ihr vor­ge­wor­fen hät­te, sie rau­be ihr Adrians Herz.

Es war schon spä­ter Nach­mit­tag. Ehe man die Sta­ti­on er­reich­te, wo Aga­the den Zug wech­seln muss­te, hielt die Lo­ko­mo­ti­ve auf of­fe­nem Fel­de. War­tend, mit­ein­an­der flüs­ternd, stan­den die Schaff­ner im Re­gen.

Und das ist Früh­ling, dach­te Aga­the, die flach sich deh­nen­de, brau­ne, von blass­grü­nen Feld­strei­fen durch­zo­ge­ne, ne­bel­feuch­te Land­schaft be­trach­tend, – das soll Früh­ling sein. –

Sie in­ter­es­sier­te sich nicht be­son­ders für die Ur­sa­chen ih­res un­vor­her­ge­se­he­nen Auf­ent­hal­tes. Ir­gend­wie muss­te die Sa­che schon in Ord­nung ge­bracht wer­den und man ans Ziel kom­men.

Pfei­fen und lang­sa­mes Wei­ter­fah­ren – nach kur­z­er Zeit stand der Zug aber­mals, die Tü­ren wur­den auf­ge­ris­sen.

»Aus­s­tei­gen!!«

Bahn­be­am­te, ein paar Schutz­leu­te wie­sen den Weg und ga­ben Ant­wort.

Das Gleis war nicht frei. Ein Zu­sam­men­stoß von Gü­ter­wa­gen hat­te statt­ge­fun­den. Pas­sa­gie­re wa­ren nicht ver­un­glückt – nur ein Hei­zer tot. Dort – rechts lag die Un­glücks­stät­te. Die zer­trüm­mer­ten Wa­gen, wie im To­des­kamp­fe sich ge­gen­ein­an­der bäu­men­de Un­ge­heu­er, hoch und schwarz in die graue Luft ra­gend. Ru­fen und Lau­fen von Men­schen. Der Re­gen pras­sel­te stär­ker. Die Men­ge dräng­te dem Bahn­hofs-Ge­bäu­de ent­ge­gen. Zwi­schen zwei Be­am­ten kam eine Frau ge­schwankt, das Ge­sicht in eine blaue Schür­ze ge­presst, das Haar durch­nässt, hin und her tau­melnd in fas­sungs­lo­sem Wei­nen. Die Frau des ver­un­glück­ten Hei­zers. Man blick­te ihr in scheu­em Mit­leid nach.

Als die hohe, glas­be­deck­te Hal­le er­reicht war, son­der­te sich ein Teil der Men­schen nach dem Aus­gan­ge ab. Die Zu­rück­blei­ben­den, un­ter ih­nen Aga­the, ström­ten eine brei­te Trep­pe hin­un­ter, um durch einen Tun­nel den jen­sei­ti­gen Bahn­steig und wo­mög­lich noch den Schnell­zug er­rei­chen zu kön­nen.

Jun­ge Män­ner mit ko­ket­ten Rei­se­müt­zen und flat­tern­den Ha­ve­locks eil­ten ge­wandt vor­aus, sich die bes­ten Plät­ze zu si­chern, Kof­fer­trä­ger schaff­ten ru­fend und schel­tend Platz für ihre Bür­de. Die gel­ben Ge­päck­kar­ren ras­sel­ten, Kin­der wur­den an der Hand von Müt­tern und Vä­tern rück­sichts­los wei­ter­ge­zerrt, alte Da­men mit Schach­teln und Schir­men trip­pel­ten und rann­ten keu­chend vor­wärts. Eile tat not – man hat­te sich sehr ver­spä­tet.

Aga­the fiel ein klei­ner Jun­ge auf in ei­nem hüb­schen Män­tel­chen, der schon se­kun­den­lang mit dem Strom in ih­rer Nähe fort­ge­scho­ben wur­de, wo­bei er sich furcht­sam nach al­len Sei­ten um­sah. Und nun blieb er ste­hen, ein win­zi­ges Hin­der­nis für die Vor­wärts­drän­gen­den, das un­sanft aus dem Wege ge­sto­ßen wur­de. Er be­gann zu wei­nen. Aga­the wen­de­te sich zu ihm zu­rück.

»Klei­ner, Du hast Dich wohl ver­lo­ren?«

Er schluchz­te aus und nick­te mit dem Kop­fe.

Was war zu tun? Man konn­te doch das klei­ne Kind hier nicht al­lein las­sen.

»Mit wem bist Du denn ge­kom­men? Mit Dei­ner Mama?«

Er schüt­tel­te den Kopf.

»Wie heißt Du denn?«

»Didi.«

Aga­the führ­te das Kind ins Re­stau­rant und sah da­bei durch die großen Fens­ter, wie drau­ßen ihr Zug ab­fuhr. Sie wand­te sich zu der Büf­fet­da­me, um zu fra­gen, was man tun kön­ne. Au­gen­schein­lich war das Kind in der Ver­wir­rung vom an­de­ren Per­ron her­über­ge­kom­men. Ein Dienst­mann soll­te den Fund bei den Por­tiers und in den ver­schie­de­nen War­te­sä­len des weit­läu­fi­gen Zen­tral­bahn­ho­fes be­kannt ma­chen. In­zwi­schen be­hielt Aga­the den Klei­nen un­ter ih­rer Ob­hut. Der nächs­te Zug für sie ging erst in ei­ner Stun­de.

Hier auf die­ser Sei­te spür­te man schon nichts mehr von dem Un­glücks­fall, der jen­seits des Tun­nels die Ord­nung stör­te. Hier ging al­les sei­nen ein­för­mig ru­he­lo­sen Gang wei­ter.

Neue Züge ras­sel­ten don­nernd in die ge­wal­ti­ge Hal­le – Läu­ten – Pfei­fen. Neue Men­schen­strö­me dran­gen die Trep­pen hin­ab und in die Säle.

Aga­the zog sich mit ih­rem Schütz­ling ins Da­men­zim­mer zu­rück. Sie nahm ihm das nas­se Män­tel­chen ab und wi­ckel­te ihn in ihr Plaid, dann setz­te sie sich ne­ben das Kind auf das Sofa und füt­ter­te es mit ei­ner Tas­se Scho­ko­la­de. Ganz still und trau­lich war es hier. Der Kell­ner hat­te eine Gas­flam­me an­ge­zün­det und die Tür ge­schlos­sen.

Ein Kind wie die­ses – und von der Rei­se kom­men … Von Lutz ab­ge­holt wer­den, in ei­nem ge­schlos­se­nen Wa­gen, an die Schei­ben schlägt der Re­gen, in sei­nen Arm sich drücken, mit dem schläf­ri­gen Klei­nen auf dem Schoß … Wie tru­gen denn Men­schen nur sol­che Won­ne? Sie wur­de doch man­chem zu teil. Aber mehr zu füh­len, als bei der Vor­stel­lung, wie das sein könn­te … das war ja nicht mög­lich.

Aga­the zog den klei­nen Bu­ben an sich – fest – fest, und küss­te ihn auf die Stirn, auf das fei­ne blon­de Haar, auf die Au­gen­brau­en.

Er­schro­cken ließ sie ihn los, als habe sie et­was Un­rech­tes ge­tan, weil die Tür auf­ge­ris­sen wur­de. Zwei Frau­en ka­men ei­lig her­ein. Aga­the sah eine dis­kre­te, schwar­ze Toi­let­te – einen grau­en Ga­ze­schlei­er, von ei­nem blas­sen, ver­schmink­ten Ge­sicht­chen fort­ge­scho­ben – Didi sprang vom Sofa, aus dem Plaid und jauchz­te ih­nen ent­ge­gen:

»Mama! Mei­ne Mama!«

»Da ist er, der Un­glücks­bu­be! wahr­haf­tig!« rief die Da­niel. »Mein Schatz! O Du Schat­zerl – ha­ben wir Dich ge­sucht!«

Sie hob ihn auf und hielt ihn am Her­zen – fest – fest. Küss­te ihn auf die Stirn – auf das fei­ne blon­de Haar und auf die Au­gen­brau­en.

Die Frau, die mit ihr kam, ent­schul­dig­te sich bei Aga­the, sie habe das Kind nur einen Au­gen­blick al­lein ge­las­sen, ge­ra­de un­ter der großen Uhr, wo sie die Mama er­war­te­ten, weil sie gern das Un­glück se­hen woll­te – und der Schre­cken, als das Kind ver­schwun­den war!

Aga­the hör­te nichts.

Die Da­niel – sie, eine Mut­ter!

Und Adri­an Lutz?

Es wur­de mit ei­nem Mal hell und klar und eis­kalt in ihr. Sie sah al­les Vor­her­ge­gan­ge­ne – sie wuss­te al­les.

Die Schau­spie­le­rin wand­te sich mit aus­ge­streck­ten Hän­den zu Aga­the, um ihr zu dan­ken. »Ich bin Ih­nen sehr ver­pflich­tet –«

Sie fand ihre Wor­te nicht wei­ter vor dem ver­let­zen­den Hoch­mut in Aga­thes Hal­tung.

»Sie sind lieb zu dem Kin­de ge­we­sen«, stam­mel­te sie un­si­cher und er­regt. »Es ist nun ein­mal … Ich bin im­mer so in Angst um das Kind, weil ich nicht bei ihm sein kann … Wenn ich einen Tag kei­ne Nach­richt habe, ge­bär­de ich mich wie eine Un­sin­ni­ge.«

Sie war ganz ver­weint und zer­stört. Sie sah Aga­thes stum­me, star­re Ab­wehr schon nicht mehr. Sie band dem Kin­de das Män­tel­chen um, setz­te ihm die run­de Müt­ze auf. Die Frau, bei der das Kind in Pfle­ge war, woll­te ihr hel­fen, aber sie ließ es nicht zu.

Aga­the folg­te dem müt­ter­li­chen Tun der klei­nen Sou­bret­te mit den Bli­cken, wie sie sie oft auf der Büh­ne be­ob­ach­tet hat­te. Nicht an­ders. Al­les Emp­fin­den schi­en plötz­lich in ihr aus­ge­löscht.

Der Klei­ne war be­reit zum Ge­hen.

»Komm, Adri­an, küss’ der Dame die Hand und sag’ Adieu!«

Aga­the wich zu­rück. Aber es war ja gleich – al­les war gleich­gül­tig. Und sie bück­te sich und be­rühr­te des Kin­des Wan­ge mit ih­ren kal­ten, er­starr­ten Lip­pen. Sie reich­te auch der Da­niel die Hand – ganz me­cha­nisch.

Über das er­reg­te Ge­sicht­chen der Schau­spie­le­rin ging ein Aus­druck von Er­schre­cken. Un­schlüs­sig stand sie vor Aga­the.

»Ich glau­be – kom­men wir nicht aus der­sel­ben Stadt?«

»Wir sind uns wohl öf­ter be­geg­net«, ant­wor­te­te Aga­the.

Die Da­niel wur­de plötz­lich sehr rot, ihr Mund be­gann zu zit­tern.

Auch Aga­the er­rö­te­te und sah zur Sei­te. Jetzt kam er plötz­lich – der Schmerz.

»Fräu­lein – ich bit­te Sie – ver­ra­ten Sie mein ar­mes Ge­heim­nis nicht!«

Die Au­gen der bei­den Mäd­chen blick­ten in­ein­an­der und ström­ten plötz­lich über von Trä­nen – von ei­ner un­end­li­chen Trau­rig­keit. Sie ver­stan­den sich in et­was Ge­heim­nis­vol­lem, in ei­nem Lei­den, für das es kei­nen Laut gab – das auch durch kein Wort hat­te be­zeich­net wer­den kön­nen und das weit hin­aus­ging über ihr ei­ge­nes Schick­sal.

»Sie sind gut«, flüs­ter­te die Da­niel. »Es ist nicht mei­net­we­gen. Nur er – es ist ihm so pein­lich!«

Bit­ter und has­tig sag­te sie, in­dem sie die Hand auf des Kin­des Kopf leg­te:

»Man be­greift eben nicht, wie ein Va­ter sol­chen Bu­ben ver­leug­nen will. Al­les lernt man ver­ge­ben – schließ­lich, wenn man im­mer fürch­tet, al­les zu ver­lie­ren.«

Aga­the ver­moch­te sich fast nicht mehr auf­recht zu hal­ten. Frös­telnd emp­fand sie einen Rest von Büh­nen­rou­ti­ne in der Art, wie die Da­niel ihre Wor­te be­ton­te.

Nur sich selbst nicht ver­ra­ten – nicht die­ser! Alle ihre Kräf­te ran­gen mit dem Ver­lan­gen, das wie ein Schwin­del sie über­ström­te, sich zu ent­blö­ßen und in arm­se­li­gem Jam­mer der, die ihn auch lieb­te, um den Hals zu fal­len, zu schrei­en, zu ver­zwei­feln.

Aber ru­hig blei­ben – Dame blei­ben – das hat­te Aga­the le­bens­lang ge­übt – das we­nigs­tens ge­lang ihr.

Mit erns­ter, mäd­chen­haf­ter Wür­de ant­wor­te­te sie der Schau­spie­le­rin:

»Ich könn­te nicht ver­ge­ben, wo ich ver­ach­ten müss­te.«

»Ver­ach­ten? Das ver­stehn Sie ja nicht. – Ach – er –! Er liebt mich ja nicht mehr. Aber er liebt auch die an­de­ren nicht – kei­ne – kei­ne. Sie wer­den ihm eben alle so schnell zu­wi­der. Und wenn ich st­er­be und man öff­net mir das Herz – ich glau­be, man fin­det sei­nen Na­men da mit glü­hen­den Buch­sta­ben ein­ge­brannt.«

»Gnä­di­ge Frau – re­gen sich doch nicht auf, das Kind fängt auch schon an zu wei­nen«, mahn­te die Bür­gers­frau, wel­che Didi an die Hand ge­nom­men hat­te.

Die Da­niel schluchz­te auf, trock­ne­te sich das Ant­litz und zog den grau­en Schlei­er vor.

»Wa­rum denn auch dar­über re­den – es ist ja um­sonst. Ver­zei­hen Sie, dass ich Sie mit mei­nem Kum­mer be­läs­tig­te. Nicht wahr – ich habe Ihr Ver­spre­chen?«

Aga­the neig­te den Kopf. Die Frau­en ver­lie­ßen mit dem Kin­de das War­te­zim­mer. Nach ei­ni­gen Mi­nu­ten ka­men an­de­re Leu­te her­ein, es läu­te­te – man rief zum Ein­stei­gen.

Gabriele Reuter – Gesammelte Werke

Подняться наверх