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II.

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Der Kreis von Aga­thes Freun­din­nen hat­te sich im letz­ten Jah­re recht ge­lich­tet. Dem klei­nen Schwarz­köpf­chen, das sich so gern von On­keln und Vet­tern küs­sen ließ, hat­te sie als Fee der Ju­gend den Myr­ten­kranz ge­reicht. Auf Lot­te Wimp­fens Pol­ter­abend stell­te sie den Frie­den des Hau­ses dar, und Klä­re Dürn­heim be­grüß­te sie beim Schei­den von der Mäd­chen­zeit als Ge­ni­us des Glückes. Und je­des Mal hat­te sie sich bei die­sen Fes­ten himm­lisch amü­siert. Das galt als Ehren­punkt un­ter den jun­gen Da­men – ge­ra­de auf ei­nem Pol­ter­abend … man hät­te ja sonst den­ken kön­nen … Nein – es wäre ge­ra­de­zu fei­ge ge­we­sen, sich auf den Pol­ter­aben­den der Freun­din­nen nicht himm­lisch zu amü­sie­ren.

Spä­ter ver­kehr­te Aga­the nicht mehr all­zu gern mit den Ver­hei­ra­te­ten. Fast ging es ihr da, wie einst in der Pen­si­on un­ter den er­fah­re­ne­ren Ge­nos­sin­nen: kaum wa­ren ein paar von den jun­gen Frau­en bei­ein­an­der, so steck­ten sie die Köp­fe zu­sam­men, flüs­ter­ten eif­rig, lach­ten und hat­ten end­lo­se Ge­heim­nis­se, die Aga­the um al­les in der Welt nicht er­fah­ren durf­te. Denn sie war ein jun­ges Mäd­chen.

Lis­beth Wend­ha­gen frei­lich, die ruh­te nicht und sag­te so lan­ge: Pfui – Ihr seid scheuß­lich! bis sie al­les wuss­te, wor­auf sie neu­gie­rig war. Mit ih­rem som­mer­spros­si­gen, spit­zi­gen Alt­jung­fern­ge­sicht­chen und ih­ren prü­den klei­nen Aus­ru­fen war sie die Ver­trau­te in den meis­ten jun­gen Haus­hal­ten. Es mach­te den Her­ren großen Spaß, sie zu ne­cken und zu hän­seln. Man ließ sich ge­flis­sent­lich vor ihr gehn in zwei­deu­ti­gen Scher­zen und über­mü­ti­gen Zärt­lich­kei­ten. Lis­beths ent­zück­te Em­pö­rung war zu ko­misch.

Aber Aga­the flö­ßte den Pär­chen un­be­hag­li­che Scheu ein. Ihr Mund konn­te so her­be und ver­ächt­lich zu­cken, ihre Au­gen wa­ren so trau­rig. Und sie war so fromm!

Da hieß es: »Schäm’ Dich doch vor Aga­the!« Dann ging der jun­ge Ehe­mann ins Ne­ben­zim­mer und rief von dort: »Schat­zi, komm schnell mal rein!«

Schat­zi husch­te fort.

Aga­the saß al­lein, blät­ter­te in ei­nem Al­bum und hör­te er­stick­tes Ge­ki­cher und das Geräusch zahl­lo­ser Küs­se.

Es war wirk­lich bes­ser, mit streb­sa­men äl­te­ren Mäd­chen zu ver­keh­ren.

Sie wur­de auf­ge­for­dert, an ei­nem ita­lie­ni­schen Kur­sus teil­zu­neh­men und lern­te auch eine Wei­le flei­ßig die Spra­che, ob­schon sie bei der zu­neh­men­den Kränk­lich­keit ih­rer El­tern kei­ne Aus­sicht hat­te, je­mals nach Ita­li­en zu kom­men.

Auch nahm sie un­auf­hör­lich Mu­sik­un­ter­richt. Aber warum sie das tat, war ihr noch we­ni­ger klar. Bei ih­rer ner­vö­sen Be­fan­gen­heit wür­de sie es nie­mals bis zum Vor­spie­len brin­gen. Und sin­gen konn­te sie schon gar nicht mehr. Seit ih­rer Krank­heit klang ihre Stim­me zum Er­bar­men dünn und zit­te­rig. Woll­te sie es trotz­dem ver­su­chen, so über­wäl­tig­te sie je­des Mal eine Trau­rig­keit, ge­gen die kein An­kämp­fen mehr mög­lich war. Sie fürch­te­te sich förm­lich vor den al­ten lie­ben Me­lo­di­en, aus de­nen die Geis­ter­stim­men so vie­ler ge­stor­be­ner und be­gra­be­ner Hoff­nun­gen ihr ent­ge­gen­klan­gen.

Aga­thes Leh­re­rin ver­an­stal­te­te zu­wei­len mu­si­ka­li­sche Aben­de. Sie ver­band da­bei den dop­pel­ten Zweck, mit ih­ren Schü­le­rin­nen ein Ex­amen ab­zu­hal­ten und sich ih­rer ge­sell­schaft­li­chen Ver­pflich­tun­gen zu ent­le­di­gen.

Auch Aga­the wur­de schon eine Wo­che zu­vor auf das Drin­gends­te von Fräu­lein Krieb­ler ge­be­ten, ihr die Ehre zu schen­ken.

Es war ein hei­ßer Som­mer­abend, kurz vor Be­ginn der großen Fe­ri­en.

Alle drei Fens­ter des mö­blier­ten Zim­mers mit Schlaf­ka­bi­nett, wel­ches die Kla­vier­leh­re­rin in ei­nem Hin­ter­hau­se bei ei­nem Ge­richts­schrei­ber be­wohn­te, wa­ren weit ge­öff­net. Den­noch schlug Aga­the, als sie aus der Kü­che der Frau Ge­richts­schrei­be­rin in den mit Da­men ge­füll­ten Raum trat, eine Luft ent­ge­gen, die von dem Ge­ruch von Bra­ten, Käse und He­rings­sa­lat durch­zo­gen war. Nie­mand ließ sich von der Hit­ze an­fech­ten. Die Stim­men surr­ten fröh­lich durch­ein­an­der.

Klei­ne Back­fi­sche in hel­len Klei­dern, die spä­ter sin­gen soll­ten, sa­ßen vor­läu­fig zu­sam­men­ge­drängt in Fräu­lein Krieb­lers Schlaf­käm­mer­chen auf dem von ei­nem Rei­ses­hawl be­deck­ten Bett. Sie mach­ten un­ter sich Be­mer­kun­gen von un­ehr­er­bie­tig ju­gend­li­chem Witz über das Buf­fet, das auf dem Wasch­tisch ar­ran­giert war.

Das Wohn­zim­mer wur­de von Fräu­lein Krieb­lers Kol­le­gin­nen und Gön­ne­rin­nen ein­ge­nom­men. Au­ßer Aga­the war noch eine äl­te­re Schü­le­rin da, die sich seit zehn Jah­ren aus­bil­de­te, an­fangs für die Büh­ne, dann als Kon­zert­sän­ge­rin. Es ging auch das Gerücht, sie sei ein­mal ir­gend­wo öf­fent­lich auf­ge­tre­ten.

Für Fräu­lein Krieb­ler wa­ren die Mu­si­ka­ben­de ein Er­eig­nis – eine höchst auf­re­gen­de Sa­che. Sie hat­te ihre klei­nen Zim­mer dazu gänz­lich um­räu­men müs­sen. Die ge­stick­ten De­cken, mit de­nen sie Ti­sche und Stüh­le, die bun­ten Pa­pier­blu­men, mit de­nen sie die Wän­de ge­schmückt hat­te, über­all, wo Fo­to­gra­fi­en, Bü­cher­bret­ter, Staub­tuch­körb­chen und ge­mal­te Sprü­che ein Plätz­chen freilie­ßen, fan­den un­ge­teil­te Be­wun­de­rung.

Zwei hei­ße, rote Fle­cken auf den spit­zen Ba­cken­kno­chen des kränk­li­chen, von ru­he­lo­ser Lei­den­schaft ver­zehr­ten Ge­sich­tes, lief sie un­auf­hör­lich vom Kla­vier in die Schlaf­kam­mer, flüs­ter­te den jun­gen Kin­dern Er­mah­nun­gen ins Ohr, ord­ne­te ihre No­ten, frag­te, ob ihre Gäs­te viel­leicht jetzt schon Tee ha­ben möch­ten, sie däch­te, es wäre bes­ser, wenn er erst spä­ter käme – aber wenn sie woll­ten, dann hät­te sie ihre bei­den Pe­tro­le­um­ko­cher be­reit­ge­stellt …

Eine di­cke, buck­li­ge Leh­re­rin mit kurz­ge­schnit­te­nen Haa­ren hat­te schon ein paar­mal ge­fragt, warum sich Fräu­lein Krieb­ler nur den Um­stand ma­che? Sie riet jetzt, da sie doch alle bei­sam­men wä­ren, das Kon­zert nur zu be­gin­nen.

Fräu­lein Krieb­ler warf noch einen hilflo­sen Blick auf eine Dame in Sei­de, die ge­ra­de auf­ge­rich­tet im Sofa saß und mit kal­ten Dor­schau­gen den zum In­stru­ment ge­trie­be­nen blon­den und brau­nen seuf­zen­den und sich schä­men­den Kin­dern folg­te. Sie hat­te die meis­ten der jun­gen Mäd­chen un­ter ih­rer müt­ter­li­chen Lei­tung und war da­her eine schreck­li­che und ein­fluss­rei­che Per­sön­lich­keit in dem Krei­se.

Die zit­tern­den, vor Er­re­gung klam­men Fin­ger der Leh­re­rin schlu­gen an. Dün­ne, lie­be Stimm­chen be­gan­nen aus­drucks­los und ängst­lich vor die­ser Run­de stren­ger Rich­te­rin­nen zu er­tö­nen und zu sin­gen von Lie­be und Lenz und der se­li­gen Ge­walt heim­li­cher Glu­ten …

Kaum war das ge­en­det, da rausch­ten und flat­ter­ten die hel­len Kleid­chen ei­lig, ei­lig in die enge Schlaf­kam­mer. Und wie vor­hin Seuf­zen und Ki­chern der Furcht, so nun Seuf­zen und Ki­chern der Er­leich­te­rung. Es war ent­setz­lich ge­we­sen! Ach wie gut, dass es vor­bei war! Und Erna stahl ein Schin­ken­bröt­chen vom Buf­fet. Nein, aber – so un­ver­schämt zu sein!

Lin­chen ver­schwand hin­ter der Gar­de­ro­ben-Gar­di­ne, die sich in­fol­ge­des­sen un­för­mig bläh­te, und aus der ab und zu ihre nack­ten Arme her­aus­grif­fen, bis sie in schief an­ge­zo­ge­nem Zer­li­nen­ko­stüm wie­der­er­schi­en.

Sie soll­te mit der Dame, die sich für die Büh­ne aus­bil­de­te, das Duett aus Fi­ga­ros Hoch­zeit sin­gen.

Ja – Fräu­lein Krieb­ler ver­stand ihre Gäs­te zu über­ra­schen.

Sie hat­te der lo­sen Grä­fin wie dem lo­se­ren Kam­mer­kätz­chen förm­lich so et­was wie Ko­ket­te­rie bei­zu­brin­gen ver­sucht. Man ap­plau­dier­te na­tür­lich so viel man nur konn­te.

Nach­dem noch ein paar Kla­vier­vor­trä­ge statt­ge­fun­den hat­ten, wur­de das Buf­fet frei­ge­ge­ben. Aus den bei­den Pe­tro­le­um­ko­chern bro­del­te das Tee­was­ser. Fräu­lein Krieb­ler schenk­te un­auf­hör­lich ein. Sie schrie der Schar der Back­fi­sche, die ihr beim Ser­vie­ren hal­fen, ihre Be­feh­le zu. Eine lau­te Fröh­lich­keit griff um sich. Die klei­nen Fräu­leins im Schlaf­ge­mach hör­te man kaum noch, seit sie bei den Schin­ken­bröt­chen und dem Flam­me­rie sa­ßen. Jetzt be­gan­nen die Leh­re­rin­nen sich zu amü­sie­ren. Sie hat­ten sich nicht um­sonst mit ih­ren bes­ten Klei­dern und wei­ßen Spit­zen her­aus­ge­putzt – sie woll­ten nun auch ihr Ver­gnü­gen ha­ben! Die rau­en tie­fen und die schar­fen kräf­ti­gen Or­ga­ne der ener­gi­schen, äl­te­ren Mäd­chen tön­ten in leb­haf­ten Un­ter­hal­tun­gen durch­ein­an­der. Fräu­lein Krieb­ler lief zwi­schen ih­ren Gäs­ten um­her, nö­tig­te zum Zu­lan­gen und schrie mit ih­rer ho­hen, lei­den­schaft­li­chen Stim­me: »Neh­men Sie für­lieb – a gi­psy tea! Sie müs­sen sich selbst be­die­nen. Mei­ne La­kai­en sind auf Ur­laub! Ein Löf­fel fehlt? Es wa­ren doch ge­nug Löf­fel da! Spü­len Sie mal einen Löf­fel ab, Lin­chen – ein jun­ges Mäd­chen muss schnell bei der Hand sein! Nein – ent­schul­di­gen Sie nur, Fräu­lein Heid­ling – a gi­psy tea

Die buck­li­ge Leh­re­rin mit den kur­z­en, krau­sen Haa­ren er­zähl­te, von Asth­ma pfei­fend, die lau­nigs­ten Ge­schich­ten. Ein sehr kurz­sich­ti­ges Mäd­chen ließ vor La­chen den Knei­fer in die Ma­jo­nai­se-Sau­ce fal­len. End­lich for­der­te eine blas­se Per­son mit ei­ner ko­los­sa­len Nase und de­mü­ti­gen Au­gen, die je­der­mann um Ver­zei­hung für die­se Nase zu bit­ten schie­nen, die all­ge­mei­ne Auf­merk­sam­keit. Sie hat­te den Plan, an ih­rem ge­mein­sa­men Wohn­sitz ein Heim für al­lein­ste­hen­de, in­va­lid ge­wor­de­ne Mäd­chen zu grün­den. Mit ver­ein­ten Kräf­ten. Was sag­ten die Da­men dazu?

Leb­haf­ter, stim­men­rei­cher Bei­fall folg­te. Als hät­te sie eine neue, herr­li­che Lust­bar­keit vor­ge­schla­gen, so dräng­te man sich, um Auf­ru­fe zu er­las­sen und zu ver­brei­ten, Lot­te­ri­en zu ver­an­stal­ten, rei­che Kauf­leu­te um Bei­trä­ge an­zu­ge­hen, den Ma­gis­trat um Über­las­sung ei­nes Bau­grun­des an­zu­ge­hen. Lau­ter Din­ge, die den von ih­rer Hän­de und ih­res Kop­fes Ar­beit le­ben­den Mäd­chen nur neue Las­ten auf­leg­ten. Aber ihre Tage be­stan­den doch schon in ei­nem so un­auf­hör­li­chen, ei­li­gen Ja­gen um den Le­bens­un­ter­halt, dass es nicht dar­auf an­kam, noch mehr Lau­fe­rei und Het­ze­rei auf sich zu neh­men. Es galt ja ein ge­mein­sa­mes In­ter­es­se, zu je­der ein­zel­nen Vor­teil.

Wa­rum sind nur alle so lus­tig, dach­te Aga­the, sie ha­ben doch gar kei­nen Grund dazu.

Für den Bra­ten und die sü­ßen Spei­sen, die ih­nen vor­ge­setzt wur­den, muss­te Fräu­lein Krieb­ler mit ih­rer ner­vö­sen Hast vie­le Male die gan­ze Stadt durch­tra­ben und min­des­tens fünf­zehn Stun­den ge­ben. Das wuss­ten sie alle. Aber sie wuss­ten auch, dass es Fräu­lein Krieb­lers Stolz war – ein nicht un­we­sent­li­cher Teil ih­rer Men­schen­wür­de, die Kol­le­gin­nen ei­ni­ge Mal im Jahr bei sich zu be­wir­ten. Jede von ih­nen hielt auf die­se Sit­te. Und sie lie­ßen es sich be­hag­lich schme­cken, wäh­rend sie von dem Mäd­chen­heim re­de­ten, das ih­nen eine Aus­sicht auf eine ge­si­cher­te Zu­kunft er­öff­ne­te. Die Zu­kunft, die sie sich im bes­ten Fal­le mit ih­rer ener­gi­schen Ar­beit bei Tage und die hal­be Nacht hin­durch, mit al­lem ängst­li­chen Sor­gen und Spa­ren schaf­fen konn­ten – eine Stu­be mit ei­nem Ofen in ei­nem öf­fent­li­chen Stift, wo sie ihre paar An­den­ken um sich sam­meln und dar­auf rech­nen konn­ten, dass ein Frem­des ih­nen eine Sup­pe brach­te, falls sie krank wur­den – denn da­für soll­te ja die Stu­be sein: um, ohne je­mand zu stö­ren, ein­sam die letz­ten Ar­beits­ta­ge hin­zu­brin­gen und dann zu ster­ben.

Ihre Hei­ter­keit war ein we­nig laut und ge­walt­sam. Alle die Da­men spra­chen mit ei­ner ge­wis­sen Auf­dring­lich­keit von ih­rer in­ne­ren Be­frie­di­gung, von ih­ren se­gens­rei­chen Be­rufs­pflich­ten, von den Be­schwer­den der Ehe und der Schön­heit ih­res frei­en Mäd­chen­le­bens.

Schön­heit – ach Du lie­ber, gü­ti­ger Gott – wo war denn da wohl ein Fünk­chen Schön­heit zu fin­den? Wie ge­heim­nis­vol­le Schuld, die an­de­re Ge­schlech­ter ih­nen auf­ge­bür­det, muss­ten die ar­men Ge­schöp­fe ihre kör­per­li­chen Ge­bre­chen, den an­mut­ba­ren Frau­en­leib mit sich schlep­pen.

Aga­the ver­such­te ver­ge­bens, sich zum Mit­leid zu zwin­gen. Ihre tiefs­ten In­stink­te em­pör­ten sich – ihre zärt­lich ge­schon­te See­le wand und krümm­te sich vor Ent­set­zen, un­ter die­se Schar ge­zählt zu wer­den. Und man rech­ne­te sie schon bei­na­he dazu … Sie durf­te sich doch nicht zu den halb­wüch­si­gen Kin­dern in die Kam­mer set­zen wol­len?

In­ter­es­se und Be­geis­te­rung für das Frau­en­heim? – Es schau­der­te ihr da­vor, wie vor be­gin­nen­der Ver­we­sung.

… Ge­schen­ke für die Lot­te­rie – ja, die ver­sprach sie zu lie­fern, und Lose wür­de sie gern neh­men.

Sie stand auf, denn sie er­trug es nicht län­ger – es kam ihr vor, als über­schlei­che sie die An­ste­ckung von Häss­lich­keit und Al­ter in die­ser har­ten, glück­lo­sen Hei­ter­keit.

Fräu­lein Krieb­ler zeig­te sich emp­find­lich über ih­ren frü­hen Ab­schied.

»Wir sind doch so ge­müt­lich bei­sam­men! Frei­lich – viel kann ich ja nicht bie­ten. A gi­psy tea

*

Aga­the hat­te dar­auf ge­rech­net, sich der ver­wach­se­nen Leh­re­rin an­zu­schlie­ßen, die in ih­rer Nähe wohn­te. Sie fühl­te ein leich­tes Ban­gen, weil sie sich des Abends nie­mals al­lein auf der Stra­ße be­fand. Doch war es noch fast hell, und gan­ze Strö­me von Men­schen be­weg­ten sich auf dem Pflas­ter. Hand­wer­ker, La­den­mäd­chen, Ar­bei­ter, Bür­ger­fa­mi­li­en mit Kin­dern kehr­ten aus den Bier­gär­ten, wo sie bei Mi­li­tär­mu­sik in Hit­ze und Zi­gar­ren­qualm den Som­mer ge­nos­sen hat­ten, nach Haus zu­rück. –Som­mer …

War es zu glau­ben, dass ir­gend­wo auf der Welt, gar nicht so fern von hier, wei­te Fel­der blass­gol­de­nen Kor­nes in schwe­ren, lan­gen Wo­gen, vom duf­ten­den Abend­win­de durch­stri­chen, der Ern­te ent­ge­gen­reif­ten? Dass der Som­mer heut, zu die­ser Stun­de, in vo­gel­stil­len Wäl­dern den rei­nen Würz­ge­ruch des Har­zes aus dunklen Fich­ten sog – und durch das hohe Gras der Obst­gär­ten schrei­tend, ihre Früch­te mit Saft und Fül­le form­te.

Auf den Bän­ken der Pfer­de­bahn­wa­gen lag der Staub, wie auf den Rö­cken und Stie­feln der Män­ner, der Frau­en. Er be­deck­te ih­ren kläg­li­chen Putz – ihr Haar, das glanz­los durch ihn ge­wor­den war. Und auf den Ge­sich­tern der Kin­der zog er graue Schat­ten­strei­fen. Schläf­rig, mit Schelt­wor­ten über­häuft, wur­den sie an der Hand der El­tern vor­wärts­ge­zo­gen, der schwü­len Nacht in der wid­ri­gen Luft ih­rer un­ge­sun­den Heim­stät­te ent­ge­gen.

Som­mer …

Wa­rum tauch­te er die gan­ze Na­tur in Gold und Grün und rei­fen­de Fül­le und mach­te nur die Men­schen müde, wei­ner­lich oder zän­kisch?

War es, weil sie al­lein sich Kin­der Got­tes nen­nen durf­ten und ge­prüft – ge­quält – ge­läu­tert wer­den muss­ten?

Mit vor Trau­rig­keit aus­drucks­lo­sen Au­gen sah Aga­the in das Ge­wim­mel des Vol­kes, das sich schweiß­düns­tend und schwer­fäl­lig an ihr vor­über­dräng­te. Sie war durs­tig, ihre Lip­pen wa­ren tro­cken und zer­sprun­gen. Sie träum­te von Was­ser, das un­ter Farn­kräu­tern hell über glat­te Kie­sel sprang.

Aber die vie­len, vie­len Men­schen hin­der­ten sie, dort­hin zu ge­lan­gen. Sie war eine von ih­nen – nur ein Glied die­ser Men­ge – der Staub des Abends lag auch auf ihr, der Schweiß duns­te­te auch aus ih­ren Po­ren.

Und sie war sehr mil­de … Die klei­nen Back­fi­sche hat­ten ge­ki­chert, die tüch­ti­gen Leh­re­rin­nen wa­ren lus­tig ge­we­sen – die fre­chen, an­ge­mal­ten Mäd­chen, die mit ih­ren bun­ten Klei­dern das Trot­toir ein­nah­men, lach­ten laut …

Wa­rum konn­te sie al­lein sich nicht freu­en? Nie­mals wie­der? Wa­rum sah sie über­all mehr als an­de­re, die doch klü­ger wa­ren und schär­fer und die Welt bes­ser kann­ten, die et­was leis­te­ten – die un­ge­heu­re Arm­se­lig­keit und Ab­scheu­lich­keit die­ses gan­zen Ge­sell­schafts­le­bens, und trug das heim­li­che Wis­sen wie einen Stein auf der Brust? – Wa­rum hör­te sie im­mer­fort vor ih­ren Ohren ganz aus der Fer­ne me­lo­di­sche Lust und klin­gen­des Glück? – –

Das war wie­der krank­haft. Und sie woll­te nicht krank sein. Sie woll­te ge­sund sein. Mit al­ler Ge­walt woll­te sie ge­sund sein! Was es auch kos­ten moch­te – ein­mal nur sich an des Le­bens Tisch set­zen und frisch und fröh­lich ge­nie­ßen, was sie nur er­raf­fen konn­te … War sie denn dazu gar nicht mehr im stan­de?

Vor Aga­the gin­gen zwei Frau­en die Stra­ße ent­lang. Die eine von ih­nen trug ein grau­es Kleid, ein Rei­se­hüt­chen und eine Hand­ta­sche. Un­ter dem Hut sah Aga­the einen klei­nen Kno­ten rot­brau­nen Haa­res. Die an­de­re hielt sich schlecht und ging mit nach­läs­sig schlei­fen­den Schrit­ten.

»Nein, nein«, sag­te die klei­ne zier­li­che Rei­sen­de, »jede Frau kann einen Mann in sich ver­liebt ma­chen, so­bald er nicht ge­ra­de eine an­de­re große Lie­be hat.«

»Das scheint mir doch ge­wagt … Da­mit be­haup­ten Sie ja, dass je­des Mäd­chen hei­ra­ten könn­te?«

»Das kann sie auch – wenn sie ih­ren gan­zen Wil­len auf das eine Ziel setzt. Na­tür­lich darf sie nicht …«

Die bei­den bo­gen um die Ecke und Aga­the sah sie nicht mehr.

Sie hat­te nun auf einen da­her­kom­men­den Pfer­de­bahn­wa­gen zu ach­ten, in dem sie die letz­te Hälf­te ih­res We­ges zu­rück­le­gen woll­te. Als sie ein­ge­stie­gen war, mach­te ein Herr ihr Platz ne­ben sich. Sie er­kann­te Rai­ken­dorf.

»Mein gnä­di­ges Fräu­lein, so ganz al­lein in die­ser spä­ten Stun­de?«

Rai­ken­dorf reich­te ihr die Hand mit ei­nem zärt­lich zö­gern­den Druck. Da Aga­the die­se sei­ne Art, Da­men die Hand zu ge­ben, seit un­ge­fähr sie­ben Jah­ren an ihm kann­te, mach­te sie ihr na­tür­lich nicht den ge­rings­ten Ein­druck mehr.

Jetzt hat­te sie Rai­ken­dorf lan­ge nicht ge­se­hen. Er war in ei­ner be­nach­bar­ten klei­nen Stadt Lan­drat. Aber sie freu­te sich je­des Mal, ihm zu be­geg­nen, wenn sie ihn auch im Grun­de ver­ach­te­te. Er ver­stand es, sie zum Wi­der­spruch zu rei­zen, sie wur­de im­mer leb­haft und be­kam rote Ba­cken, wenn sie mit ihm zu­sam­men­kam.

»Ach«, sag­te sie ver­trau­lich zu ihm, »ich bin sehr schlech­ter Lau­ne – ganz me­lan­cho­lisch! Ich war in ei­nem Tee mit al­ten Jung­fern.«

»Schreck­lich!« rief er schau­dernd. »Wie kam denn das? Da ge­hö­ren Sie doch nicht hin!«

»Es wa­ren al­les sehr vor­züg­li­che Mäd­chen«, seufz­te Aga­the. »Nein – es ist schlecht von mir, dass ich so über sie rede.«

»Ach sei­en Sie nicht zu ge­wis­sen­haft.«

Bei­de spra­chen halb­laut, da­mit ihre Um­ge­bung sie nicht be­auf­sich­ti­ge.

»Nein, wirk­lich – ich müss­te doch In­ter­es­se da­für ha­ben, dass sie ver­su­chen, un­ser Ge­schlecht wei­ter­zu­brin­gen. Es ist ober­fläch­lich und egois­tisch von mir – aber – ich kann es nicht er­klä­ren, was mich so ab­stößt. Se­hen Sie – zum Bei­spiel: wenn man harm­los sagt: ich habe Veil­chen ger­ne – da heißt es un­fehl­bar: Ja, wür­den die Frau­en ihre In­tel­li­genz mehr zu­sam­men­neh­men, dann könn­ten sie Veil­chen-Kul­tu­ren grün­den, die wür­den gu­ten Er­trag ge­ben. Macht man die Be­mer­kung: das Bild dort hängt schief an der Wand, muss man hö­ren: Das kommt da­von, dass kein Sys­tem in der weib­li­chen Er­zie­hung ist. Ha­ben wir erst Gym­na­si­en, so wird kein Bild in der Welt mehr schief hän­gen …«

Rai­ken­dorf lach­te.

»Ach, mein gnä­di­ges Fräu­lein – bei uns Män­nern ist es auch nicht viel an­ders. Je­der rei­tet eben sein Ste­cken­pferd – und schließ­lich – wohl dem, der eins hat. Aber in al­lem Ernst – ge­hen Sie nur da nicht wie­der hin! Zu der Ge­sell­schaft, die man fre­quen­tiert, wird man schließ­lich auch ge­zählt.«

»Ich ge­hö­re doch dazu!«

»Un­sinn! Par­don … Se­hen Sie mich ein­mal an. Na – Fält­chen sehe ich vor­läu­fig noch nicht – kein ein­zi­ges …!«

»Was ha­ben Sie da für wun­der­vol­le Ro­sen!«

»Nicht wahr? Frau von Thie­len hat sie mir ge­pflückt – ich war heu­te Nach­mit­tag drau­ßen auf dem Wer­der, in ih­rem Gar­ten. Jetzt wol­len wir ein­mal eine her­aus­su­chen für Sie? Eine, die Ih­nen ähn­lich sieht? Was?«

Sei­ne grün­li­chen Au­gen wa­ren nur klein und nicht be­son­ders hübsch, aber sie konn­ten sehr freund­lich bli­cken. Und er hat­te so et­was ein­fach Na­tür­li­ches beim Spre­chen.

Er wähl­te eine schö­ne, zar­te Tee­ro­se, gab sie ihr schwei­gend, und sie nahm die aus­er­le­se­ne Blu­me mit ei­nem flüch­ti­gen »O dan­ke sehr.«

Ihre Wan­gen rö­te­ten sich leicht vor Ver­gnü­gen.

»Sie wer­den mir doch ge­stat­ten, Sie nach Haus zu be­glei­ten?«

»Ja, sehr gern! Ich fürch­te mich des Abends al­lein auf der Stra­ße.«

»Es ist auch un­an­ge­nehm für eine Dame.«

»Wir soll­ten nicht so un­selbst­stän­dig er­zo­gen wer­den.«

»Aha – die Gym­na­si­en …? – Sie se­hen doch, dass Sie zu rech­ter Zeit einen Be­schüt­zer ge­fun­den ha­ben.«

»Ja – das war aber nur Zu­fall.«

»Al­les Gute in der Welt ist Zu­fall.«

»So müs­sen Sie nicht re­den.«

»Was wol­len Sie – ich möch­te auch gern an eine hö­he­re Fü­gung glau­ben – aber ich sehe sie zu sel­ten wal­ten. Sie sind fromm – ich fin­de das sehr schön! Ich könn­te Sie mir gar nicht an­ders den­ken, mit Ihrem sanf­ten Ge­sicht­chen! – Hier müs­sen wir aus­stei­gen. So – ge­ben Sie mir die Hand. Vor­sich­tig!«

Sie wa­ren schon ein Weil­chen die letz­ten Pas­sa­gie­re ge­we­sen und hat­ten un­ge­stört plau­dern kön­nen.

»Wol­len Sie nicht mei­nen Arm neh­men?« frag­te der Lan­drat. Aga­the zö­ger­te eine Se­kun­de – es war ei­gent­lich, nicht üb­lich … Sie hat­te so große Lust …

»Man geht bes­ser in Schritt und Tritt«, sag­te er über­re­dend, und sie folg­te ihm. Er drück­te ih­ren Arm leicht an sich, sie fühl­te sei­nen war­men kräf­ti­gen Kör­per und ging be­hag­lich an sei­ner Sei­te. Es war ihr sehr wohl, ru­hig und still fühl­te sie sich.

»Fah­ren Sie heut Nacht noch nach Evers­ha­gen zu­rück?« frag­te sie.

»Nein, ich blei­be in Mengs Ho­tel. Da habe ich ein stän­di­ges Ab­stei­ge­quar­tier. Auf die Wei­se kann man die länd­li­che Ein­sam­keit schon er­tra­gen.«

»Ich kann Sie mir gar nicht auf dem Lan­de vor­stel­len.«

»O jetzt im Som­mer ist es hübsch da drau­ßen. Viel Ver­kehr mit den Gü­tern. Und Wald in der Nähe. Ich habe mir einen Pony­wa­gen an­ge­schafft. Sie soll­ten mich wirk­lich ein­mal be­su­chen. Dann fah­ren wir mit den Po­nys in den Wald. Was? Wol­len Sie?«

»O ja – ich weiß nur nicht, ob Papa …«

»Wenn ich däch­te, dass Sie Lust hät­ten, wür­de ich an Ihre El­tern schrei­ben und mir das Ver­gnü­gen er­bit­ten … Vi­el­leicht kämen Ihre Ge­schwis­ter auch?«

»Eu­ge­nie will an die See und hat noch große Schnei­de­rei«, sag­te Aga­the, es er­hob sich in ihr der Wil­le, Eu­ge­nie von der Par­tie fern­zu­hal­ten.

… Jede Frau kann einen Mann in sich ver­liebt ma­chen, so­bald er nicht eine an­de­re große Lie­be hat …

Und Rai­ken­dorf? Hat­te er eine an­de­re große Lie­be? –

»Also – zu wann wol­len wir Ihren Be­such ver­ab­re­den?« frag­te er.

»Bald«, ant­wor­te­te Aga­the schnell, »sonst kommt es ge­wiss nicht dazu.«

Un­ter dem Schein der Gas­la­ter­ne hob sie den Kopf und blick­te Rai­ken­dorf in die Au­gen. Nie­mals hat­te sie einen Mann auf die­se Wei­se an­ge­se­hen. Auch nicht Lutz.

Es wur­de ihr ganz schwin­de­lig vor Scham über sich selbst.

»Nun wol­len wir den Him­mel um Son­ne bit­ten – Sie ste­hen bes­ser mit ihm, tun Sie es für mich«, sag­te Rai­ken­dorf, nach­dem er ih­ren Blick gleich­sam mit den Au­gen fest­ge­hal­ten hat­te.

»Auf Wie­der­se­hen!« Er drück­te ihr die Hand. Und sie emp­fing das leich­te Zei­chen von au­gen­blick­li­cher Zu­nei­gung nicht gleich­gül­tig wie sonst un­zäh­li­ge Male.

Als Rai­ken­dorf »Auf Wie­der­se­hen« sprach, er­schrak sie, wie über eine böse Vor­be­deu­tung – es wa­ren die­sel­ben Wor­te, die sie zu­letzt von Lutz ge­hört hat­te.

Woll­te der Herr, ihr Hei­land, sie war­nen?

Gabriele Reuter – Gesammelte Werke

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