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XII.

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Der Re­gie­rungs­rat Heid­ling hör­te von al­len Sei­ten, dass sei­ne Toch­ter sich durch­aus eine Er­ho­lung gön­nen müs­se. Er selbst hat­te nichts der­glei­chen be­merkt, sie war ja doch nicht krank und tat ihre Pf­licht. Aber da der Haus­arzt es auch mein­te, so soll­te na­tür­lich et­was ge­sche­hen. Ihm wür­de ein we­nig Zer­streu­ung auch wohl­tä­tig sein. Er ver­miss­te sei­ne arme Frau mit je­dem Tage mehr. Aga­the gab sich ja alle Mühe – aber die Frau konn­te ihm so ein jun­ges Mäd­chen ja doch nicht er­set­zen. Sei­ne Ge­wohn­hei­ten wa­ren trost­los ge­stört.

So reis­te er denn mit Aga­the nach der Schweiz.

Auf dem Wege be­such­ten sie Wo­szens­kis für ein paar Stun­den. Sie la­gen noch, im­mer in har­tem Kampf mit der Tücke, der Häss­lich­keit und Dumm­heit ih­rer le­ben­den und to­ten Um­ge­bung. Noch im­mer hin­der­ten bos­haf­te, mit selt­sa­men Ge­bre­chen des Lei­bes und Geis­tes Be­haf­te­te Kö­chin­nen Frau von Wo­szen­ski am Ar­bei­ten. Noch im­mer wur­den auf dem Kunst­markt la­chen­de Ne­ger und gut fri­sier­te Jä­ger mehr be­gehrt als nacken­de Anacho­re­ten und ek­sta­ti­sche Non­nen. Noch im­mer war es ein Lei­den, dass Mi­chel nichts es­sen moch­te. Der Blöd­sinn sei­ner frü­he­ren Gym­na­si­al­leh­rer wur­de aber noch über­trof­fen von dem Stumpf­sinn der Aka­de­mie­pro­fes­so­ren, un­ter de­nen er jetzt stu­dier­te. Noch im­mer hat­te Herr von Wo­szen­ski die ba­rocks­ten Plä­ne und Ein­fäl­le, und noch im­mer fehlt es ihm an Stim­mung zu ih­rer Aus­füh­rung.

Sein lan­ger Bart und das wir­re Haar wa­ren er­graut, die Ad­ler­na­se trat noch schär­fer her­vor, die blau­en Au­gen sa­hen aus tie­fen Höh­len schwer­mü­tig in die när­ri­sche Welt. Mehr als je glich er sei­nen von wun­der­li­chen Vi­sio­nen heim­ge­such­ten Anacho­re­ten.

Als Aga­the auf dem mit ei­nem ver­schos­se­nen per­si­schen Tep­pich be­deck­ten Di­van saß, ihre Bli­cke über die bunt­be­mal­ten, stei­fen Kir­chen­hei­li­gen, die dunklen Ra­die­run­gen an den Wän­den und die gel­ben Ein­bän­de fran­zö­si­scher Ro­ma­ne auf den ge­schnitz­ten Stüh­len glit­ten, als sie den schar­fen des Ter­pen­tin und der ägyp­ti­schen Zi­ga­ret­ten in der Woh­nung spür­te, war es ihr zu Mut, als keh­re sie aus ei­ner sehr lan­gen, öden und ge­halt­lo­sen Ver­ban­nungs­zeit in ihre Hei­mat zu­rück.

Aber es war Tor­heit, sich dem hin­zu­ge­ben. Sie muss­te noch an dem­sel­ben Abend wie­der Ab­schied neh­men. Und sie konn­te so tie­fe Emp­fin­dun­gen, wie sie sie einst in die­sem Hau­se durch­lebt, jetzt kaum noch in der Erin­ne­rung ver­tra­gen.

Sie hör­te, dass Adri­an Lutz sich ver­hei­ra­tet habe mit ih­rer al­ten Pen­si­ons­ge­fähr­tin Klo­til­de, der Toch­ter des Ber­li­ner Schrift­stel­lers. Die Ehe war nicht glück­lich, – man sprach be­reits von Schei­dung. In Aga­the reg­te sich Ver­ach­tung und Wi­der­wil­len der wohl­er­zo­ge­nen Bür­ger­s­toch­ter ge­gen das Un­si­che­re, Schwei­fen­de sol­cher Künst­ler­exis­ten­zen. Eine ge­schie­de­ne Frau – hät­te es so ge­en­det, wenn sie die Sei­ne ge­wor­den wäre?

Als Ma­ler habe Lutz bei wei­tem nicht er­reicht, was er einst ver­spro­chen. Sei­ne Schü­le­rin, Fräu­lein von Hen­ning, habe ihn förm­lich über­holt. »Das heißt – von Geist und Gra­zie hat die Per­son ja kei­nen Schim­mer«, sag­te Frau von Wo­szen­ski. »Aber die Ener­gie! Da­mit macht sie mehr, als hät­te sie Ta­lent! Stellt in Pa­ris im Sa­lon aus …«

»Nun, Ta­lent hat sie doch auch«, mein­te Wo­szen­ski gü­tig.

»Ach, mein Mann nimm­t’s mit den Da­men nicht so ge­nau«, rief Ma­rie­chen und lach­te scharf und laut.

Aga­the be­merk­te wohl, dass ih­rem Va­ter die Art von Wo­szens­kis nicht sym­pa­thisch war. Wie soll­te sie auch.

Sie frag­te, was aus dem Bil­de ge­wor­den sei, an dem Herr von Wo­szen­ski da­mals ar­bei­te­te – die Ek­sta­se der No­vi­ze. Ob er es ver­kauft habe.

»Ach, ver­kauft! Ich ar­bei­te noch dar­an.«

Er blick­te über die Bril­le nach­denk­lich auf Aga­the.

»Wa­rum habe ich Sie nur da­mals nicht als Mo­dell ge­nom­men?«

Er brach­te eine Far­benskiz­ze zu dem neu­en Ent­wurf. Es war im Lau­fe der Zeit ein völ­lig an­de­res Bild ge­wor­den.

Statt des himm­li­schen Son­nen­sturm­win­des, der die üp­pi­ge rot und gol­de­ne Pracht des Hochal­tars wir­belnd be­weg­te und in dem Tau­sen­de von En­gels­köp­fen die nie­der­ge­sun­ke­ne Got­tes­braut se­lig-toll um­flat­ter­ten, glitt nun ein lei­chen­haf­tes, blau­es Mond­licht durch den Säu­len­gang ei­nes Klos­ters. In dem stil­len Geis­ter­schein schweb­te ein blei­ches Kind mit ei­ner Dor­nen­kro­ne zu ihr her­nie­der. Die Non­ne war nicht mehr das ro­si­ge Ge­schöpf, wel­ches den klei­nen Er­lö­ser in ih­ren Ar­men emp­fing und mit un­schul­dig strah­len­dem Lä­cheln an ihr Herz drück­te. Im Starr­krampf lag sie am Bo­den, die Arme steif aus­ge­streckt, als sei sie ans Kreuz ge­schla­gen – die ro­ten Wun­den­ma­le an der blas­sen Stirn und den wäch­ser­nen Hän­den.

»Man ver­sucht eben auf man­cher­lei Wei­se aus­zu­drücken, was man meint«, sag­te Wo­szen­ski lei­se: »Mit den Jah­ren ver­än­dern sich da­bei die Ide­e­en.«

Er seufz­te tief und stell­te die Lein­wand, die Aga­the schwei­gend und lan­ge be­trach­tet hat­te, bei­sei­te.

»Mein Freund Ham­let« nann­te Lutz ein­mal den grüb­le­ri­schen Künst­ler. Und der Tag, an dem sie Lutz zum ers­ten Male ge­se­hen, stand wie­der vor Aga­the. Zwi­schen da­mals und heu­te lag ihr Le­ben. Und nun nichts mehr? Ein lang­sa­mes Er­star­ren in Käl­te und Ent­sa­gung?

Sie blick­te nie­der auf ihre wäch­ser­nen Hän­de, und fast mein­te sie, das blu­ti­ge Stig­ma müs­se dort sicht­bar wer­den …

Was ihr für wun­der­li­che, sinn­lo­se Ge­dan­ken bis­wei­len ka­men …

*

Acht Tage spä­ter saß Aga­the auf der Ve­ran­da ei­ner Schwei­zer-Pen­si­on und sah über Gera­ni­en- und Nel­ken­töp­fe nach den ho­hen Ber­gen. Vom schwin­den­den Abend­licht wur­den sie in braun­vio­let­te Tin­ten ge­taucht und stan­den mit ih­ren ge­wal­ti­gen Li­ni­en ge­gen den süd­lich war­men blau­en Him­mel.

Gott – war das schön! – Auf alle erns­ten, tie­fen Men­schen wirkt die große Na­tur be­ru­hi­gend, er­he­bend, hei­lend. Sol muss­te denn auch Aga­the be­ru­higt, er­ho­ben, ge­heilt wer­den. Es war das letz­te Mit­tel. Es muss­te hel­fen!

War es um­sonst – dann – Ja dann? –

Sie woll­te nicht dar­an den­ken, an die schreck­li­che Angst, die im­mer in ih­rer Nähe lau­er­te, be­reit, über sie her­zu­stür­zen …

Nur die Näch­te …

Durch die lan­ge Zeit des Wa­chens am Kran­ken­la­ger ih­rer Mut­ter hat­te sie das ru­hi­ge Schla­fen ver­lernt. Zwar nach den wei­ten Spa­zier­gän­gen mit Va­ter sank sie, trun­ken von der Ge­birgs­luft, über­mü­det in ihre Kis­sen und ver­lor so­fort das Be­wusst­sein. Doch nach kur­z­em fuhr sie mit jä­hem Schre­cken em­por – es war, als hät­te sie einen Schlag emp­fan­gen. – Et­was Furcht­ba­res war ge­sche­hen …! Sie konn­te sich nicht be­sin­nen, was es ge­we­sen … Der Schweiß rie­sel­te an ihr nie­der, das Herz klopf­te ihr … O Gott, was war es denn nur?

Je­mand war im Zim­mer – dicht in ih­rer Nähe! – Es soll­te ihr et­was Bö­ses ge­sche­hen – sie fühl­te es deut­lich.

Mit weit auf­ge­ris­se­nen Au­gen starr­te sie in die Dun­kel­heit.

Sie muss­te sich ge­wal­tig zu­sam­men­neh­men, dass sie nicht laut auf­schrie in Furcht und Grau­en.

Dann re­de­te sie sich Ver­nunft ein. Ihr Va­ter war ja ne­ben­an. Sie horch­te, es drang kein Laut zu ihr. Papa schlief ganz fried­lich.

Die­be …? In dem frem­den Ho­tel. Es konn­te ja sein – es war so­gar wahr­schein­lich.

Wie­der horch­te sie an­ge­strengt.

Aber vo­ri­ge Nacht hat­te sie das­sel­be durch­ge­macht und die vo­ri­ge auch. Ein­bil­dung – al­les war nur Ein­bil­dung.

Kaum leg­te sie sich auf ih­rem La­ger zu­recht – da war es auch schon wie­der … Das Frem­de – Geis­ter­haf­te – Un­be­greif­li­che … Was konn­te es nur sein?

»O Gott, lie­ber, lie­ber Gott, hilf mir doch«, be­te­te sie schau­dernd und kroch mit dem Kopf un­ter die De­cke. »O Gott, lie­ber Gott, lass mich end­lich wie­der ein­schla­fen!«

Aber kein Ge­dan­ke an Schla­fen. Und sie lag und lausch­te auf das har­te Plät­schern des Spring­brun­nens vor ih­rem Fens­ter.

Er hat­te eine Spra­che – aber sie ver­stand sie nicht. Er sang einen Rhyth­mus – sie muss­te ihn doch end­lich her­aus­hö­ren … Ver­ge­bens. Im­mer das glei­che har­te Plät­schern. Wenn es doch ein­mal en­den woll­te – nur für eine Se­kun­de … Es war ihr, als läge sie dort im Brun­nen und das Was­ser plät­scher­te auf ihre Stirn – im­mer­fort – wie weh es tat.

Heut Mit­tag – der Herr ihr ge­gen­über an der Ta­ble d’hôte … Son­der­bar sah er sie an … Wenn er ihr auf ei­nem ein­sa­men Spa­zier­we­ge be­geg­ne­te.

Und der Schif­fer, der sie über­ge­fah­ren, hat­te sie auch mit dem Blick ver­folgt. Er war ei­gent­lich ein schö­ner Kerl …

Mein Gott, mein Gott – was er­griff sie denn?

War sie so tief ge­sun­ken, sich mit ei­nem Schif­fer­knecht zu be­schäf­ti­gen?

Straf­te Gott sie für ihr Ab­fal­len vom Glau­ben, in­dem er sie der Ge­walt des Teu­fels über­ließ? Wenn es nun doch eine Höl­le gab? Ewi­ge Ver­damm­nis – ewi­ge … Ewi­ges Be­wusst­sein sei­ner Qual … Schon fühl­te sie ihre Schre­cken in die­ser Ver­las­sen­heit – die­sem Ekel an sich selbst.

Adri­an … Adri­an Lutz … Ja, den al­lein hat­te sie ge­liebt. O du Ein­zi­ger, Schö­ner – Sü­ßer …

Nein – es war ja gar nicht Adri­an, an den sie eben dach­te – es war Rai­ken­dorf. Und Rai­ken­dorf auch nicht … Mar­tin – Mar­tin Gref­fin­ger! Da­mals in Bor­nau hat­te er sie doch lieb ge­habt! Hät­te sie ihm den Kuss ge­ge­ben, um den er sie bat … Sich dann mit ihm ver­lobt! So vie­le Mäd­chen ver­lo­ben sich mit Schü­lern … Mar­tin hät­te sie mit sich hin­aus­ge­nom­men in sein frem­des, aben­teu­er­li­ches Le­ben … Sie hät­ten für eine große Sa­che ge­kämpft, und sie wä­ren selbst groß und frei und stark da­bei ge­wor­den. O ja – sie hät­te schon eine ganz tüch­ti­ge So­zia­lis­tin ab­ge­ge­ben!

Wie konn­te sie nur von sei­ner war­men, schö­nen jun­gen Lie­be da­mals so un­ge­rührt blei­ben?

Wenn Adri­an sie ver­führt hät­te – wie die Da­niel?

O mein Gott!

Sie rich­te­te sich auf und zün­de­te Licht an. Die end­lo­se Nacht war nicht zu er­tra­gen! Mit blo­ßen Fü­ßen lief sie zum Fens­ter, lehn­te sich hin­aus und at­me­te die fri­sche, düf­te­ge­tränk­te Ber­g­luft.

Wie müde – wie müde …

In der Mor­gen­däm­me­rung schlief sie zu­wei­len noch ein.

Un­glück­li­cher­wei­se hat­te Papa die Lei­den­schaft der frü­hen Aus­flü­ge. So wur­de sie oft nach ei­ner hal­b­en Stun­de schon wie­der ge­weckt. Und sie wag­te ihm nicht zu sa­gen, dass sie schlecht schlief. Es wür­de ihm die Som­mer­fri­sche ver­dor­ben ha­ben.

Der Be­ginn des Ta­ges war ja auch köst­lich. Aber um zehn Uhr be­fand sich das Mäd­chen schon in ei­nem Zu­stand von Ab­span­nung und ner­vö­ser Un­ru­he, der nur durch eine krampf­haf­te An­stren­gung al­ler Selbst­be­herr­schung ver­bor­gen wer­den konn­te.

Es war auch so schwül. Früh brann­te und stach die Son­ne in das wei­te, schat­ten­lo­se, von den ho­hen Fel­sen­ge­bir­gen um­schlos­se­ne Tal. Abends ent­lu­den sich schwe­re Ge­wit­ter. Sie kühl­ten die Luft kaum. Nur ein feuch­ter Dampf quoll von den Mat­ten, aus den Obst­gär­ten, schweb­te über dem wil­den rau­schen­den Berg­was­ser, das den Ort durch­ström­te, und der war­me Dunst senk­te sich er­mat­tend auf die nach Er­qui­ckung schmach­ten­den Men­schen nie­der.

Da­bei ver­ging dem Re­gie­rungs­rat die Lust, wei­te­re Par­ti­en zu un­ter­neh­men. Man saß auf der Ve­ran­da oder un­ter ei­ner Edel­kas­ta­nie des Ho­tel­gärt­chens – Aga­the mit ih­rer Hand­ar­beit, Papa mit ei­ner Zi­gar­re und der Zei­tung – so ziem­lich, wie man da­heim im Har­mo­nie­gar­ten auch ge­ses­sen hat­te.

War das Ge­wit­ter schon ge­gen Mit­tag ein­ge­tre­ten, so schlen­der­te man um die Zeit des Son­nen­un­ter­gan­ges zum See hin­aus.

Sie hat­ten eine Ge­richts­rats­fa­mi­lie mit ei­ner ält­li­chen Toch­ter zum Um­gang ge­fun­den – so blieb man hübsch in dem ge­wohn­ten Ge­lei­se der Un­ter­hal­tung.

Aga­the frag­te sich zu­wei­len, warum sie ei­gent­lich nach der Schweiz ge­reist wa­ren.

Sie sah die Fel­sen­ber­ge an in ih­rer stum­men, ge­wal­ti­gen Grö­ße – sie starr­te in das ei­lig brau­sen­de Ge­wäs­ser – sie be­trach­te­te die Kas­ta­ni­en und Nuss­bäu­me, die thau­fun­keln­den Far­ne – die Gra­na­ten in den Gär­ten – die gan­ze schon süd­lich sie an­mu­ten­de Ve­ge­ta­ti­on – und an alle tat sie die glei­che Fra­ge. Die Fel­sen schwie­gen in stei­ner­ner Ruhe, das Was­ser braus­te hin­ab zum See – die Gra­na­ten blüh­ten, und die Bäu­me reif­ten ihre Früch­te. Sie ga­ben Aga­the kei­ne Ant­wort. Und die auf­dring­li­che Schön­heit, die üp­pi­ge Pracht die­ser Na­tur er­mü­de­te, be­lei­dig­te, em­pör­te sie.

Gabriele Reuter – Gesammelte Werke

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