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XIII.

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Papa spiel­te Do­mi­no mit ei­nem Herrn, der ihn kürz­lich an­ge­re­det hat­te, ei­nem viel­sei­tig ge­bil­de­ten Mann, Pro­fes­sor in Zü­rich. Heut war er von ei­ni­gen sei­ner Schü­ler im Vor­über­wan­dern auf­ge­sucht wor­den. Die jun­gen Män­ner tran­ken ih­ren Wein und aßen ih­ren Käse gleich­falls auf der Ve­ran­da.

Die Tü­ren nach dem Ess­saal wa­ren ge­öff­net.

Plötz­lich setz­te ei­ner der Stu­den­ten has­tig sei­nen Knei­fer auf und beug­te sich vor. Drin­nen ging ein Mann in ei­nem grau­en An­zug mit ei­nem Stroh­hut vor­über.

»Herr Pro­fes­sor«, rief der Stu­dent eif­rig, »da ist er – ich hat­te doch recht! War­ten Sie – er wird gleich un­ten aus der Tür tre­ten.«

Der Zü­ri­cher Pro­fes­sor warf sei­ne Do­mi­no­stei­ne um in der Hast, mit der er auf­sprang und sich über das ei­ser­ne Ge­län­der bog. Auch die jun­gen Män­ner sa­hen hin­aus. Dann wand­te der Pro­fes­sor sich zu­rück und setz­te sich wie­der nie­der.

»So – so – also das war der Gref­fin­ger … Hat mich doch in­ter­es­siert, ihn ge­se­hen zu ha­ben!«

»Wel­chen Na­men nann­ten Sie da?« frag­te der Re­gie­rungs­rat.

»Gref­fin­ger!« sag­te der Pro­fes­sor, als ge­nü­ge das und es brau­che kei­ne wei­te­re Er­klä­rung hin­zu­ge­fügt zu wer­den.

»Papa!« rief Aga­the mit der plötz­li­chen Leb­haf­tig­keit, die sie zu­wei­len er­fass­te, »ob es am Ende Mar­tin war?«

»Ich habe einen Nef­fen die­ses Na­mens«, er­klär­te Re­gie­rungs­rat Heid­ling oben­hin.

Die schwei­zer Stu­den­ten be­ob­ach­te­ten den al­ten Herrn und die Dame mit In­ter­es­se. Es schie­nen wahr­haf­tig Ver­wand­te von Mar­tin Gref­fin­ger zu sein – und da­bei wuss­ten sie es selbst nicht ein­mal ge­nau!

Heid­ling spiel­te mit der Hand in dem wei­chen grau­en Bart.

»Ich habe lan­ge nichts von dem jun­gen Man­ne ge­hört«, sag­te er, über­le­gend, wie viel er den Frem­den von sei­nen Be­zie­hun­gen zu Mar­tin mit­tei­len dür­fe, »es freut mich aber, zu be­mer­ken, dass Sie mit Ach­tung von ihm re­den. Wenn wir in der Tat die­sel­be Per­sön­lich­keit mei­nen …«

»Ha­ben Sie Mar­tin Gref­fin­gers letz­tes Buch nicht ge­le­sen?«

»Hal­ten Sie et­was da­von?« er­kun­dig­te sich der Re­gie­rungs­rat.

»Zwei­fel­los! Ich bin nicht mit al­lem ein­ver­stan­den. Aber es ist ein tüch­ti­ges und be­deu­ten­des Buch. Es wird sei­nen Weg schon ma­chen – in zwan­zig Jah­ren wird man mehr da­von re­den als heut. Die­ser Gref­fin­ger ist eine gan­ze, fes­te Per­sön­lich­keit. Ich woll­te, wir hät­ten mehr ih­res­glei­chen.«

»Nun – das freut mich – das freut mich.« Der Re­gie­rungs­rat be­schloss, ge­le­gent­lich ein­mal in das Werk hin­ein­zu­se­hen. Er hielt es für rich­ti­ger, die Fra­ge, ob er es ken­ne, of­fen zu las­sen.

»Ich den­ke mir, dass Gref­fin­ger heut Abend wie­der hier vor­spricht«, mein­te der Stu­dent, der den Pro­fes­sor auf den Vor­über­ge­hen­den auf­merk­sam ge­macht hat­te.

»Wir wol­len doch un­se­re Frau Wir­tin fra­gen, ob er Nacht­quar­tier ge­nom­men hat«, rief der Pro­fes­sor leb­haft. »Es soll­te mich wirk­lich freu­en, wenn ich durch Sie Ge­le­gen­heit fän­de, den Mann per­sön­lich ken­nen zu ler­nen!«

»Wir sind uns ziem­lich, fremd ge­wor­den«, be­merk­te der Re­gie­rungs­rat aus­wei­chend.

Aga­the amü­sier­te sich heim­lich. Ihr Va­ter wur­de den Men­schen be­deu­tungs­voll, weil er ein Ver­wand­ter von Mar­tin war! Man er­bat sich von ihm die Freu­de, Mar­tin ken­nen zu ler­nen! Wer das je ge­dacht hät­te … Das war­me Ge­fühl für den Ju­gend­freund er­wach­te wie­der. Käme er doch!

Der Nach­mit­tag wur­de ihr lang bei dem stil­len War­ten. Sie nahm ih­ren Hut, ein Stück­chen durchs Dorf zu ge­hen.

Die Stu­den­ten stan­den jetzt vor dem Ho­tel bei­ein­an­der und un­ter­hiel­ten sich la­chend.

»Köst­li­cher al­ter Kun­de«, hör­te Aga­the den Äl­tes­ten sa­gen, als sie vor­über­ging.

Sie wuss­te, dass er da­mit ih­ren Va­ter mein­te – ih­ren Va­ter, der ihr trotz al­lem, wo­durch er sie ge­kränkt, als ein Mann er­schi­en, an den ein ab­fäl­li­ges Ur­teil sich über­haupt nicht her­an­wa­gen wür­de.

Köst­li­cher al­ter Kun­de – sag­te der Stu­dent von ihm … Das Wort schnitt Aga­the ins Herz. Sie fand es roh. Doch der jun­ge Mann hat­te ihr vor­her kei­nen ro­hen Ein­druck ge­macht – er sah im Ge­gen­teil in­tel­li­gent und be­geis­tert aus.

Trau­rig ging sie an ho­hen Stein­mau­ern ent­lang. Sie um­grenz­ten die Gär­ten der wohl­ha­ben­den schwei­zer Bür­ger, wel­che hier ihre Vil­len be­sa­ßen, und schlos­sen sie vor al­lem Frem­den ab. Di­cker, al­ter Epheu hing an ih­nen nie­der. So be­stand der Ort aus ei­nem weit­läu­fi­gen La­by­rinth en­ger Gän­ge. Nie­mals konn­te Aga­the sich zu­recht­fin­den und wuss­te sel­ten, in wel­chem Teil sie her­aus­kom­men wür­de.

Am Ende der feuch­ten, grau­en Gas­se schim­mer­te bläu­lich der See.

Aga­the ging schnell und im­mer schnel­ler, als flie­he sie vor et­was hin­ter ihr Lie­gen­dem, die­sem fer­nen blau­en Schein ent­ge­gen. Frei­lich wür­de es zu spät sein, ihn heut noch zu er­rei­chen, aber sie woll­te we­nigs­tens einen un­ge­hemm­ten Aus­blick ge­win­nen.

Und sie konn­te nicht mehr trau­rig sein. Wenn sie heim kam, wür­de sie Mar­tin fin­den! Sie war ganz si­cher, dass sie ihn se­hen wür­de!

Plötz­lich ließ sie den Ge­dan­ken an den See, wen­de­te sich um und lief ei­lig heim­wärts. Aber nun hat­te sie einen falschen Gang ein­ge­schla­gen, und es dau­er­te ziem­lich lan­ge, bis sie das Ho­tel er­reich­te.

Als sie heim kam, sah sie am Ge­län­der der Ve­ran­da einen Herrn ne­ben der Kell­ne­rin ste­hen und über die ro­ten Nel­ken zu ihr hin­un­ter bli­cken.

Sie er­kann­te Mar­tin gleich, ob­schon er vol­ler und äl­ter ge­wor­den war. Mit aus­ge­streck­ten Hän­den kam er ihr ent­ge­gen.

»Aga­the! Das freut mich aber, Dich hier zu se­hen!«

La­chend, be­wegt und er­hitzt stan­den sie vor­ein­an­der und blick­ten sich glück­lich an. Es war, als sei­en die Jah­re aus­ge­löscht und sie wie­der der be­geis­ter­te Schü­ler und der fri­sche Back­fisch, die un­ter der Som­mer­son­ne im ho­hen Gra­se la­gen und von Frei­heit und Men­schen­glück träum­ten.

Mar­tin ließ Aga­thes Hän­de nicht aus den sei­nen.

»Du hast Dich gar nicht ver­än­dert«, be­haup­te­te er kühn.

»Ist es denn wirk­lich so lan­ge her, dass wir uns nicht ge­se­hen ha­ben? Un­glaub­lich!«

Sie konn­ten nicht mehr nach­rech­nen, wie lan­ge es wohl war.

»Seit ich Dir die ver­bo­te­nen Bü­cher brach­te? – Ach, war das ein Un­sinn! Du warst doch viel zu fest an­ge­ket­tet. Sag’ mal – bist Du denn jetzt al­lein hier?«

»Nein – na­tür­lich mit mei­nem Va­ter«, ant­wor­te­te Aga­the er­staunt.

»Ach so – na­tür­lich! Ich ver­gaß – jun­ge Da­men rei­sen ja nicht al­lein.«

Er sah sie schalk­haft von der Sei­te an. Die Stel­le sei­ner frü­he­ren Herb­heit nahm nun eine lä­cheln­de Iro­nie ein, wel­che Aga­the sehr gut ge­fiel.

»Ja – also, den­ke Dir: Ich kom­me von mei­nem Spa­zier­gang zu­rück, da sagt mir die Kell­ne­rin, eine Ge­sell­schaft war­te auf mich, und eine jun­ge Dame wäre mir ent­ge­gen ge­gan­gen.«

»Aber – kei­ne Rede … Ich bin Dir nicht ent­ge­gen ge­gan­gen«, rief Aga­the.

»Was – kei­ne Rede … Und ich ste­he hier und ver­ge­he vor Neu­gier­de, wer die schö­ne jun­ge Dame sein kann, die mich su­chen will! – Da mögt ihr am Ende gar nichts von mir wis­sen?«

»O doch – vor­hin ha­ben uns ein paar Her­ren ge­sagt, Du hät­test so ein be­deu­ten­des Buch ge­schrie­ben?«

Mar­tin Gref­fin­ger lach­te hell auf.

»Und Ihr dach­tet, ich säße ir­gend­wo im Zucht­haus? Das ist ja aus­ge­zeich­net! – Wer wa­ren die Her­ren?«

»Pro­fes­sor Bürkner aus Zü­rich.«

»So – ja! Der hat mein Buch der Frei­heit be­spro­chen. – Ist er noch hier?«

»Ja – er hat sich mit Papa an­ge­freun­det. Sage nur, Mar­tin – bleibst Du heut Abend?«

»Heut Abend?« rief Gref­fin­ger ver­gnügt, »ich habe mich vor­hin für eine Wo­che hier in Pen­si­on ge­ge­ben.«

»Ach, das ist hübsch!«

»Ihr wohnt auch hier im Haus?«

»Ja.«

Ein Schat­ten ging über Gref­fin­gers cha­rak­ter­vol­les Ge­sicht. Sei­ne Au­gen blick­ten nach­denk­lich zu Bo­den. Und als sie dann wie­der auf sei­ner Cou­si­ne weil­ten, war die Freu­de und der Glanz aus ih­nen ver­schwun­den.

*

Das Ur­teil des schwei­zer Pro­fes­sors über Gref­fin­ger blieb nicht ohne Ein­fluss auf den Ton, in dem der Re­gie­rungs­rat Heid­ling sei­nen Nef­fen be­grüß­te. Mar­tin schi­en sich ja doch aus sei­nen frü­he­ren Ver­ir­run­gen her­aus­ge­ar­bei­tet zu ha­ben! Man be­fand sich zu­dem im Aus­land, und an der Car­rie­re war nichts mehr zu ver­der­ben. Der Re­gie­rungs­rat un­ter­nahm es, die Her­ren mit Gref­fin­ger be­kannt zu ma­chen.

Bei dem schwan­ken­den Schein der Wind­lich­ter ver­leb­te man einen ver­gnüg­ten Abend un­ter der Edel­kas­ta­nie des Ho­tel­gar­tens.

Gol­de­nen Asti im Gla­se, stieß Gref­fin­ger mit Aga­the an, auf ihr Wie­der­se­hen in der frei­en Schweiz.

Eine Fül­le von Kind­heits­er­in­ne­run­gen über­ka­men den Hei­mat­lo­sen – ein Ge­den­ken an die ers­ten be­klem­men­den sü­ßen Ge­füh­le, an den ers­ten Sin­nen­rausch, den das Mäd­chen da ne­ben ihm ge­weckt … Was hat­te er emp­fun­den, als sie mit­ein­an­der den Her­wegh de­kla­mier­ten im som­mer­hei­ßen Par­ke von Bor­nau!

Er fand plötz­lich wie­der In­ter­es­se für alle die Men­schen, an die er jah­re­lang nicht ge­dacht.

»Wie geht es Eu­ge­nie?«

»Drei Kin­der – und Wal­ter wird dem­nächst Haupt­mann.«

»Mimi? – Dia­ko­nis­sin? Wenn es sie glück­lich macht. Der Ge­schmack ist ver­schie­den!«

»Und Du, Aga­the, wie lebst Du?«

»Wie’s so geht … On­kel Gu­stav war krank, ein hal­b­es Jahr, dann Mama ein Vier­tel­jahr.«

»Du hast es schwer ge­habt.«

Es ant­wor­te­te ihm kein Blick. Ihre Au­gen senk­ten sich, und ihr ver­blüh­tes Ant­litz wur­de noch dürf­ti­ger und spit­zer.

»Aga­the, soll ich Dich mor­gen auf dem See ru­dern?«

»Ach Mar­tin, willst Du wirk­lich?«

*

Sie fuh­ren auf dem Was­ser, oder sie sa­ßen in der Ve­ran­da der klei­nen Wirt­schaft un­ten am See und spra­chen man­cher­lei. Aga­the war dem Pro­fes­sor Bürkner un­end­lich dank­bar, dass er ih­ren Va­ter zu wei­ten Aus­flü­gen be­re­de­te, an wel­chen Da­men nicht teil­neh­men konn­ten. Auch Mar­tin hielt sich zu­rück. Er hat­te zu ar­bei­ten. Dann kam er spä­ter und hol­te Aga­the ab. Der Ge­richts­rä­tin ält­li­che Toch­ter sah ih­nen nei­disch nach.

Gref­fin­ger be­han­del­te Aga­the wie eine alte Freun­din, der man Ver­trau­en schen­ken konn­te.

Und sie war nicht ver­liebt in ihn – Gott sei Dank!

Aber was er ihr von sei­nem Le­ben, sei­nem Stre­ben und Den­ken sag­te, in­ter­es­sier­te sie bren­nend und reg­te sie bei­na­he eben­so auf, als mach­te er ihr den Hof. Es war ihr al­les so neu, so über­ra­schend, so ganz ver­schie­den von dem, was sie sich vor­ge­stellt hat­te.

Die Par­tei­ban­de der So­zi­al­de­mo­kra­tie hat­te er schon längst durch­bro­chen.

»Das ist auch ein Wahn und eine Form der Ty­ran­nei, die die arme Mensch­heit erst gründ­lich durch­kos­ten und dann über­win­den muss …«

Wa­rum er Aga­the so tief in sein ab­son­der­li­ches Grü­beln hin­ein­se­hen ließ? Das frag­te sie sich mit Ver­wun­de­rung. Sie konn­te ihm sel­ten ant­wor­ten, sie re­de­te nicht sei­ne Spra­che. Sie ver­stand sei­ne Aus­drücke oft nicht ein­mal und stell­te sich et­was an­de­res un­ter sei­nen Wor­ten vor, als er mein­te.

Und doch er­füll­te sei­ne Freund­schaft sie mit tiefer, hei­ßer Be­frie­di­gung.

… Nein, sie lieb­te Mar­tin nicht, Gott sei Dank.

Da­rum konn­te sie ihm auch viel von dem sa­gen, was sie be­drück­te. Nicht al­les. Aber von dem Ver­hält­nis zu ih­rem Va­ter sprach sie, und er hör­te den an­ge­sam­mel­ten Zorn in ih­rer Stim­me klin­gen.

»Der alte Mann wird Dich stets an al­lem hin­dern, wo­mit Du Dir hel­fen willst. Wenn er sei­nen Bü­cher­schrank vor Dir ab­schließt, und wenn er Dir das Le­ben ab­schließt … Du musst Dich von ihm frei ma­chen! Geh’ von ihm fort und su­che Dir Ar­beit und Freu­de, die Dich be­frie­digt.«

»O Mar­tin! Das ist ganz un­mög­lich.«

»Ja – Du fühlst Dich doch un­glück­lich bei ihm. Man sieht es Dir an. Dein Da­sein ist un­er­träg­lich. Gut – so än­dere es.«

»Aber lie­ber Mar­tin, sei doch nur ver­nünf­tig. Wie soll ich denn plötz­lich mei­nen Va­ter al­lein las­sen – ohne Geld und ohne Kennt­nis­se in die wei­te Welt hin­ein­lau­fen? Er braucht mich. Wer soll ihn er­hei­tern und pfle­gen? Da drau­ßen in der Frem­de, da braucht mich nie­mand.«

»Nein!« ant­wor­te­te Mar­tin sehr ernst, »da braucht Dich nie­mand, und Du wirst Zeit be­kom­men, Dich end­lich ein­mal auf Dich selbst zu be­sin­nen – Dich wie­der­zu­fin­den – die Du Dich ganz ver­lo­ren hast!«

»Da­mit fän­d’ ich auch was Rech­tes!« klag­te Aga­the klein­laut.

»Kannst Du noch gar nicht wis­sen! Glau­be mir, es ist sehr über­ra­schend, sich selbst ken­nen zu ler­nen.«

Sie woll­te ihm doch zei­gen, dass es wert sei, sich um ihr Wohl zu sor­gen. Ging er, müde und ab­ge­ar­bei­tet, nur schwei­gend ne­ben ihr, so be­gann sie, ihm vor­zu­plau­dern. Die klei­nen Küns­te wen­de­te sie auf, mit de­nen sie ih­ren Va­ter un­ter­hielt. Das war nun ein Ge­biet, auf dem sie Übung be­saß. Sie konn­te mit harm­los-drol­li­gen Be­mer­kun­gen auch Mar­tin oft zum La­chen rei­zen und sei­ne düs­tern Stim­mun­gen ver­scheu­chen.

Der Re­gie­rungs­rat sah den Um­gang sei­ner Toch­ter mit Mar­tin nicht un­gern. Es war ihm eine tie­fe Krän­kung ge­we­sen, dass der Sohn sei­ner ein­zi­gen Schwes­ter sich so ganz sei­nem Ein­fluss ent­zog. Vi­el­leicht war er jetzt durch die Toch­ter wie­der­zu­ge­win­nen.

»Die­sen jun­gen Män­nern, die toll ins Le­ben stür­men, tut es am Ende doch wohl, ein­mal wie­der mit ge­bil­de­ten Frau­en zu ver­keh­ren«, setz­te er Aga­the aus­ein­an­der. »Du hast da eine schö­ne Auf­ga­be zu er­fül­len, mein Kind. Es wür­de mich freu­en, wenn es Dir ge­län­ge, Mar­tin wie­der mehr in un­se­re Krei­se zu zie­hen.«

So ar­bei­te­ten in dem stil­len Ber­gasyl zwei Wel­ten dar­an, sich ge­gen­sei­tig zu ret­ten.

Zu­wei­len woll­te es Aga­the schei­nen, als ver­fol­ge Mar­tin einen heim­li­chen Plan. Im Ge­spräch ver­sank er oft in Nach­den­ken oder blick­te sie lan­ge for­schend an.

Man­ches an­de­re Mäd­chen wür­de sich auf sei­ne Freund­schaft viel ein­ge­bil­det ha­ben. Ging er nicht durch den Gar­ten, stieg über den Zaun und kam her­aus in den Wald, wo sie saß und las, wäh­rend der Pro­fes­sor aus Zü­rich vorn in der Ve­ran­da auf ihn war­te­te, um sich mit ihm zu un­ter­hal­ten?

Nun – Gott sei Dank – sie war nicht ver­liebt in ihn. Sie sah gern auf sei­ne Hän­de, wenn er die Wor­te mit aus­drucks­vol­len Be­we­gun­gen be­glei­te­te. Es freu­te sie, dass er gut­ge­pfleg­te wei­ße Hän­de be­saß, die da­bei kräf­tig und männ­lich wa­ren. Aber das konn­te man doch nicht Ver­liebt­heit nen­nen.

Sie prüf­te sich ehr­lich.

Ganz ge­wiss nicht? Un­ter kei­nen Um­stän­den? – Sie war doch noch wi­der­stands­fä­hig! Glück­li­cher­wei­se.

Es han­del­te sich jetzt auch um ganz an­de­re Din­ge als um Lie­be.

*

Wie sich die Be­zie­hun­gen zu Mar­tin durch ihr gan­zes Le­ben zo­gen.

Das ers­te kin­di­sche Wohl­ge­fal­len und Seh­nen, es hat­te ihm ge­gol­ten, wenn sie es sich auch da­mals nicht zu­ge­stand.

Die ers­te Prü­fung ih­rer jun­gen, sprö­den Tu­gend – von ihm.

Die große Lei­den­schaft hat­te sie aus­ein­an­der­ge­ris­sen – zur sel­ben Zeit die glei­chen Schmer­zen ih­nen bei­den.

Und dann der ein­sa­me Kampf, sich auf­recht zu hal­ten: er drau­ßen in wil­den Wet­tern und Stür­men die See­le ge­wei­tet und be­freit – sie da­heim im en­gen Raum die See­le wund­ge­sto­ßen und zer­mürbt.

O – es war et­was weit Hö­he­res als Lie­be, das sie jetzt zu­sam­men­führ­te.

Nichts von al­le­dem, was sie von Mar­tin er­war­tet und ge­fürch­tet, war aus ihm ge­wor­den. Kein Volks­ver­füh­rer und Auf­wieg­ler zu wil­den Ta­ten – kein Ver­schwö­rer und Bom­ben­wer­fer – und auch kein fei­ge und vor­sich­tig zum Al­ten Zu­rück­krie­chen­der – kein mü­der Ent­sa­ger.

Nur ein frei­er Mensch war er ge­wor­den. Wei­ter nichts.

Und was das hei­ßen woll­te – ein frei­er Mensch. Wel­che Kluft zwi­schen ei­ner ganz auf sich ge­stell­ten Per­sön­lich­keit, die nach ei­ge­nem Ge­setz und ei­ge­ner Wahl das ei­ge­ne Le­ben führt, und den Krei­sen ih­rer Ge­sell­schaft! An sol­chem Maß ge­mes­sen – be­saß jede Tat, je­der Ge­dan­ke ih­res Da­seins über­haupt noch Wert? Das ahn­te sie nun erst. Es war ein schau­dern­des Auf­wa­chen mit un­ge­dul­di­gem Flü­gel­schla­gen ih­rer See­le.

Wie reif und fest und ru­hig er ge­wor­den, fiel Aga­the be­son­ders auf, wenn sie ihn im Ver­kehr mit dem Va­ter be­ob­ach­te­te. Nichts mehr von dem zor­ni­gen Auf­trump­fen. Zwar such­te Mar­tin kein län­ge­res Zu­sam­men­sein mit dem On­kel. Und der Froh­sinn, die Ju­gend­lich­keit sei­nes We­sens tra­ten nur her­vor, so­bald er al­lein mit Aga­the in die Ber­ge wan­der­te. Aber er wuss­te un­ge­fähr­li­che Ge­sprächss­tof­fe zu fin­den. Er ver­stand auch zu schwei­gen bei den sen­ten­zi­ösen Aus­fäl­len des Re­gie­rungs­rats ge­gen die Im­mo­ra­li­tät und die man­geln­de Idea­li­tät der jun­gen Ge­ne­ra­ti­on.

»Du musst es mir hoch an­rech­nen, dass ich hier­blei­be«, sag­te er ein­mal zu Aga­the. »Aber ich habe noch viel zu tun, bis ich alle Rau­pen aus die­sem dum­men, klei­nen Mäd­chen­kopf her­aus­ha­be. Ich Rau­pen­tö­ter!

Wenn Du nur ernst­lich woll­test!«

»Ich will ja, Mar­tin.«

»Willst Du wirk­lich? Ach – ich gebe mir ganz um­sonst Mühe mit Dir. Schließ­lich bist Du auch wie die an­de­ren alle.«

»Wenn Du das glaubst, warum gibst Du Dir da Mühe?«

»Ja, das fra­ge ich mich selbst! Ei­nes Mor­gens gehe ich doch auf und da­von.«

*

End­lich mach­te er ihr den Vor­schlag, den Va­ter al­lein heim­rei­sen zu las­sen und in der Schweiz zu blei­ben – bei ihm in Zü­rich. Sie sol­le sich dort ein Zim­mer neh­men. Er habe eine Ar­beit, bei der sie ihm hel­fen kön­ne. Das heißt, wenn es ihr zu­sag­te. Denn falls sie ihre Kräf­te al­lein er­pro­ben wol­le, so ste­he ihr das na­tür­lich frei. Nur kei­nen Zwang – kei­ne ge­gen­sei­ti­gen Rück­sich­ten.

Be­stürzt saß Aga­the ihm ge­gen­über, die Au­gen ge­senkt, ihre Hand­ar­beit im Scho­ße ru­hend, die Fin­ger ge­gen­ein­an­der ge­presst, mit ei­nem in­nern Er­zit­tern. Was mein­te er? – Was be­deu­te­te sein Aner­bie­ten?

Er brach­te es mit ei­ner so ru­hi­gen Stim­me vor.

Wuss­te er nicht, dass er ihr et­was Un­ge­heu­res zu­mu­te­te?

Er hat­te nach­ge­dacht. Das ging aus der Si­cher­heit her­vor, in der er auch auf die prak­ti­sche Sei­te zu re­den kam.

Er wis­se ein Re­stau­rant mit gu­ter Haus­manns­kost. Dort ver­kehr­ten vie­le Stu­den­tin­nen, tüch­ti­ge Mäd­chen, die das Le­ben ernst nah­men, von de­nen die eine oder die an­de­re ihr ge­fal­len wür­de.

Was ihr Un­ter­halt zu Haus kos­te­te, wür­de ihr Va­ter ihr doch nicht ver­wei­gern?

»O Mar­tin – das wür­de er auf je­den Fall. Er wür­de ja au­ßer sich sein!«

»Ja – ohne Kämp­fe geht so ein Schritt nicht ab. Sieht er, dass Dein Ent­schluss un­er­schüt­ter­lich fest steht, wird er schon nach­ge­ben. Sprich vor­läu­fig nur von ei­nem Jahr, mei­net­we­gen nur von ei­nem Win­ter!«

Aga­the schwieg.

… Ohne Un­ter­halt wür­de ihr Va­ter sie am Ende nicht las­sen. Er nahm zu viel Rück­sicht auf das Ur­teil der Men­schen und war ge­wohnt, har­te Tat­sa­chen zu ver­schlei­ern.

Aber fühl­te Mar­tin nicht, dass er selbst – sei­ne Ge­gen­wart in Zü­rich den größ­ten An­stoß er­re­gen muss­te?

Wie merk­wür­dig, dass er’s nicht fühl­te … Sie konn­te ihn doch un­mög­lich dar­auf hin­wei­sen?

Der Schritt war ein Bruch mit al­lem Vor­her­ge­gan­ge­nen. War er ge­tan, so gab es kei­ne Rück­kehr nach Haus – we­nigs­tens kei­ne in­ne­re Rück­kehr.

Woll­te sie denn über­haupt Rück­kehr? Si­cher nicht.

»Dein Va­ter ist ja nicht krank. Wür­dest Du hei­ra­ten, müss­te er sich auch be­hel­fen!«

»Da­rin hast Du Recht!«

»Du brauchst Dich in die­ser (Stun­de nicht zu ent­schei­den. Aber tue es bald. Und dann schnell ge­han­delt! Nicht erst noch zu­rück in die al­ten Ver­hält­nis­se.«

Er war doch stark er­regt. Sie sah es, als er auf­stand von der Bank, auf der er an lan­gem Bret­ter­tisch ihr ge­gen­über ge­ses­sen und die Wir­tin rief, um Wein und Brot zu be­zah­len.

Schwei­gend kehr­ten sie heim, einen wei­ten Weg über fahl­grü­ne, schwer­duf­ten­de Mat­ten, auf de­nen der Son­nenglanz flim­mer­te. Mar­tins Au­gen wa­ren tief ernst, sein Blick in sich ge­kehrt, sein Ant­litz ohne Freund­lich­keit. Zu­wei­len hob Aga­the den Kopf und be­frag­te stumm sein Pro­fil. Aber er ging schwei­gend vor­an. Er hat­te ge­spro­chen – sie muss­te wäh­len.

Nur noch einen auf­mun­tern­den, über­re­den­den Blick!

Sie fürch­te­te sich vor ihm.

Oft hat­te das Har­te, Her­ri­sche in sei­nem We­sen sie ab­ge­sto­ßen, nun emp­fand sie es wie­der.

Um sei­net­wil­len …?

Nein – nicht um sei­net­wil­len – was ge­sch­ah, soll­te sie für sich selbst tun. Konn­te sie das nicht auf­neh­men, ihr Den­ken und Füh­len da­von durch­drin­gen las­sen? Sie ver­gaß es im­mer wie­der, und die Ge­wohn­heit der frü­he­ren An­schau­ungs­wei­se be­hielt ihr Recht. Was man nicht um ei­nes an­de­ren wil­len tat, war ver­werf­lich.

Um ih­rer Selbst wil­len …

Wie dach­te er sich das Zu­sam­men­ar­bei­ten? Wuss­te er nicht, wo­für ein je­der sie hal­ten wür­de?

Das war ihm wohl ganz gleich­gül­tig, auf das Ur­teil der Welt hat­te er nie­mals viel ge­ge­ben. Dort in Zü­rich moch­te auch der Ver­kehr von jun­gen Män­nern und Mäd­chen frei­er sein, als bei ih­nen. Und sie war ja auch nicht mehr jung. Hielt er sie für so ganz un­ge­fähr­lich? – Aber wie wür­de man in der Hei­mat über sie ur­tei­len?

Im­mer hat­te sie ge­glaubt, der große Mensch, der he­ro­i­scher Ent­schlüs­se fä­hig sei, schla­fe nur in ihr. Jetzt rief Mar­tin ihn mit star­ker Stim­me an. Nun muss­te es sich zei­gen, ob er über­haupt noch da war – nicht längst ver­schrumpft und ver­dorrt.

Es war schau­er­lich auf­re­gend und an­zie­hend, sich das vor­zu­stel­len: Alle Welt hielt sie für eine Ge­fal­le­ne – nur sie selbst trug das Be­wusst­sein ih­rer küh­len Rein­heit in sich. Und Mar­tin, der hat­te na­tür­lich eine un­be­grenz­te Hochach­tung vor der stil­len Kraft, mit der sie, al­len Ver­läum­dun­gen zum Trotz, den ge­wähl­ten Weg wei­ter schritt. Sol­che Frau war ihm denn doch noch nicht vor­ge­kom­men.

Er bat sie um Lie­be – bat sie im­mer wie­der – fleh­te – wur­de lei­den­schaft­lich … Sie sah ihn vor sich wie nach Eu­ge­ni­ens Trau­ung, den Kopf in die Gar­di­ne ge­presst – schluch­zend, durch­schüt­telt von wil­dem Ver­lan­gen …

Aber in eine bür­ger­li­che und nun gar in eine kirch­li­che Trau­ung wür­de er wohl nie­mals ein­wil­li­gen.

Gott sei Dank – sie lieb­te ihn nicht …

Nur ir­gend­wie kam ihr der Wunsch, ihre Wan­ge ge­gen sei­ne Hand zu leh­nen, sich von die­ser kräf­ti­gen wei­ßen Hand über Stirn und Brau­en strei­chen zu las­sen.

Von sol­chen weib­li­chen Schwä­chen durf­te sie nicht träu­men, wenn sie es wa­gen woll­te, ih­ren Plan aus­zu­füh­ren.

Nun war es mit dem Schlaf in der Nacht über­haupt zu Ende.

Gabriele Reuter – Gesammelte Werke

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