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IX.

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Da hat­te sie neu­lich ein wun­der­vol­les Buch in Pa­pas Biblio­thek auf­ge­stö­bert. Bei der großen Herbstrei­ni­gung war es ent­deckt. Nach­dem sie, in Staub und Zug vor dem Bü­cher­schrank kni­end, ein Ka­pi­tel ge­le­sen, konn­te sie sich nicht wie­der tren­nen, nahm es mit in ihre Schlaf­stu­be und las alle Abend im Bett – denn es wur­de im Zim­mer nicht ge­heizt – und auch nach Tisch, wenn Mama schlief.

Sie hät­te ge­glaubt, es wäre für Frau­en ein­fach un­ver­ständ­lich. Zu ih­rem größ­ten Er­stau­nen konn­te sie dem Ver­fas­ser ganz gut fol­gen – sie brauch­te nur auf­zu­mer­ken und am Tage bei ih­ren Be­schäf­ti­gun­gen das Ge­le­se­ne in ih­rem Kop­fe sin­nend zu be­we­gen.

Wie es sie auf­rüt­tel­te von dem geis­ti­gen Halb­schlaf, dem miss­mu­ti­gen Hin­däm­mern, dass sie sich die Au­gen rieb, sich auf fes­te Füße stell­te und wiss­be­gie­rig um sich blick­te.

Ei­ner wei­ten Welt­rei­se war es in sei­ner Wir­kung zu ver­glei­chen – ei­ner Welt­rei­se mit er­ha­be­nen Rück­bli­cken in un­ge­heu­re Ver­gan­gen­hei­ten und Fern­sich­ten auf eine von Ent­wi­cke­lungs­kräf­ten er­füll­te Zu­kunft – mit Ver­ges­sen des Ich und er­staun­li­cher Er­kennt­nis des ei­ge­nen Wer­dens durch zahl­lo­se Ah­nen­rei­hen – mit Ent­de­ckung neu­er Ver­wandt­schaf­ten … mit Ge­wit­ter­stür­men und bre­chen­den Mas­ten – mit Ver­lie­ren des Rei­se­ge­päcks und der Er­wer­bung un­ge­ahn­ter Reich­tü­mer.

Dass solch ein Buch exis­tier­te, und sie hat­te es nicht ge­wusst! In dem Glas­schrank stand es, un­be­ach­tet – sie hat­te beim Ab­stäu­ben sei­nen Ti­tel wer weiß wie oft ge­se­hen:

Hö­ckels »Na­tür­li­che Schöp­fungs­ge­schich­te.«

Und ihr Va­ter hat­te nicht vor Freu­de ge­schri­en, als er es las – wie selt­sam!

Im­mer nur die Wit­ze über un­se­re Ab­stam­mung von den Af­fen, die eine Zeit lang Mode wa­ren, bis man ih­rer über­drüs­sig wur­de und man in gu­ter Ge­sell­schaft nicht mehr da­von re­de­te.

Aga­the er­in­ner­te sich auch, vom Dom­pre­di­ger ge­hört zu ha­ben, dass die Ge­lehr­ten längst über Dar­wins und Hä­ckels Stand­punkt zur Ta­ges­ord­nung über­ge­gan­gen sei­en.

Wie moch­te es sich da­mit ver­hal­ten?

Aga­the konn­te es nicht glau­ben.

Von ei­ner so groß­ar­ti­gen neu­en Welt-An­schau­ung kehrt man nicht ein­fach zu der lang­wei­li­gen Ta­ges­ord­nung zu­rück.

Ach, Män­ner, die sich hier ver­tie­fen – die wei­ter for­schen und grü­beln durf­ten – die Glück­li­chen! Die Glück­li­chen! De­nen brauch­te frei­lich die dum­me Lie­be nur et­was Ne­ben­säch­li­ches zu sein! Am Ende fand auch sie in den neu­en Ge­dan­ken ih­ren Frie­den. Sie sah doch nun, dass es so sein muss­te – dass die Na­tur un­er­hört grau­sam war, dass Mil­lio­nen Kei­me fort­wäh­rend un­ter­gin­gen, da­mit die an­de­ren Raum be­kämen, sich zu ent­wi­ckeln. So war sie eben auch ei­ner von den schwäch­li­chen, un­nüt­zen Kei­men – was war da wei­ter? Dass es eine sol­che Ver­schwen­dung gab, hat­te sie al­ler­dings vor­her auch schon ge­wusst. Aber sie be­zog das nie auf sich, sie hat­te im­mer für sich selbst einen Platz au­ßer­halb der Na­tur ge­sucht und mit ei­nem Got­te ge­ha­dert, der Wun­der tun konn­te und nur keins ihr zu Lie­be tun woll­te!

Ver­sin­ken in die­sem viel­ge­stal­ti­gen, un­er­mess­lich rei­chen All! Ganz still wer­den – ganz still. Und doch wie­der le­ben­dig! Wie war die Na­tur ihr in­ter­essant ge­wor­den. Wie konn­te man sich von den wi­der­wär­ti­gen Men­schen er­ho­len bei den Kä­fern und Blu­men und den fa­bel­haf­ten Rä­der­tier­chen. Und dann wie­der die un­glaub­li­chen Be­zie­hun­gen zu den Men­schen­we­sen. Von al­lem muss­te sie noch viel, viel mehr er­fah­ren.

Als Weih­nach­ten kam, freu­te sie sich end­lich ein­mal wie­der auf das neue Jahr.

In der »Na­tür­li­chen Schöp­fungs­ge­schich­te« fand Aga­the auf der letz­ten Sei­te ein Ver­zeich­nis von Bü­chern, die emp­foh­len wur­den, falls man sich auf na­tur­wis­sen­schaft­li­chem Ge­biet wei­ter­bil­den woll­te. Von Hä­ckel selbst emp­foh­len – von die­sem herr­li­chen Man­ne!

Sie schrieb sich eine Men­ge von den Na­men auf. – Hät­te sie nur noch ihr Toi­let­ten­geld ge­habt, wie frü­her! Es war eine al­ber­ne Gut­mü­tig­keit ge­we­sen, dar­auf zu ver­zich­ten, im ers­ten Schre­cken über die not­wen­di­gen Ein­schrän­kun­gen, die die El­tern sich auf­er­le­gen muss­ten. Jetzt bat sie nur um Geld, wenn eine An­schaf­fung durch­aus nicht mehr um­gan­gen wer­den konn­te.

So wähl­te sie lan­ge, ehe sie zwei oder drei der Bü­cher auf ih­rem Weih­nachts­wunsch­zet­tel setz­te. Wel­che moch­ten die in­ter­essan­tes­ten sein? Wel­che zu ken­nen die not­wen­digs­ten? Ei­gent­lich war’s ein Lot­te­rie­spiel. Nun – auf je­den Fall wür­de sie sich zum Ge­burts­tag wie­der ein Buch wün­schen und dann im­mer so wei­ter. Sie war schon so alt, sie muss­te sich wahr­haf­tig ei­len, um nur noch einen Teil des ge­wal­ti­gen Wis­sens­schat­zes sich zu ei­gen zu ma­chen!

Das hät­te sie nicht ha­ben kön­nen – dazu hät­te sie nicht Zeit ge­fun­den, wenn sie ver­hei­ra­tet ge­we­sen wäre. End­lich schi­en es doch zu et­was gut, dass sie alte Jung­fer ge­wor­den war!

Ob Papa, ihr wohl die drei Bü­cher schen­ken wür­de? Oder nur zwei? Er war so ent­setz­lich er­staunt ge­we­sen, als sie ihm ih­ren Wunsch­zet­tel über­reich­te.

»Du willst ja ge­wal­tig hoch hin­aus«, hat­te er lä­chelnd ge­sagt. »Was willst Du Dir denn für un­ver­ständ­li­ches Zeug in Dein klei­nes Köpf­chen pa­cken?«

»Ach Papa – ich muss mich ein biss­chen bil­den!«

»Nun ja – da­ge­gen bin ich durch­aus nicht.«

»Die na­tür­li­che Schöp­fungs­ge­schich­te habe ich ganz gut ver­stan­den.«

»So – die hast Du also ge­le­sen? Das war recht über­flüs­sig. Ein an­der­mal fragst Du mich, ehe Du Dir et­was aus mei­nem Bü­cher­schrank holst. Ver­stan­den? Jun­ge Mäd­chen fas­sen der­glei­chen Wer­ke oft ganz falsch auf.«

»Das Buch mit den schreck­li­chen Il­lus­tra­tio­nen?« frag­te Frau Heid­ling. »Aber Aga­the, so et­was möch­te ich doch nicht le­sen.«

»Mama, es ist wirk­lich sehr in­ter­essant. – Und wenn – wenn man nicht hei­ra­tet, muss man doch ir­gend et­was ha­ben, was ei­nem Spaß macht.«

Aga­the schäm­te sich über die kin­di­sche Art, in der sie von ei­ner Fra­ge re­de­te, die wahr­haf­tig schwer und ernst ge­nug war. Aber sie konn­te nichts da­für – es kam ihr ge­ziert vor, zu spre­chen, wie es ihr ei­gent­lich ums Herz war.

»Na – wir wol­len ein­mal se­hen«, sag­te der Re­gie­rungs­rat.

Sie fiel ih­rem Va­ter um den Hals und küss­te ihn stür­misch.

»Du Wir­bel­wind«, be­merk­te er zärt­lich, ihr die Wan­gen klop­fend. »Und das nennt sich alte Jung­fer!«

Aga­the hat­te die schöns­ten Er­war­tun­gen. Nein – so grau­sam – so grau­sam konn­ten die El­tern nicht sein … sie wür­den ihr schon den Wunsch er­fül­len!

Auf ih­rem Weih­nacht­s­tisch fand sie ein rei­zen­des Ja­bot aus rosa Krepp – sie hat­te es ein­mal in ei­nem Schau­fens­ter be­wun­dert – und einen Pracht­band mit bun­ten Bil­dern: die Flo­ra von Mit­tel­deutsch­land, zum Ge­brauch für un­se­re Töch­ter, – da­ne­ben eine ge­schnitz­te Blu­men­pres­se.

»Siehst Du, lie­bes Kind«, sag­te ihr Va­ter freund­lich, »hier habe ich ein sehr hüb­sches Werk ge­fun­den, das bes­ser für Dich passt, als die Bü­cher, die Du da auf­ge­schrie­ben hast. Ich blät­ter­te in den Sa­chen – sie woll­ten mir gar nicht für mein Töch­ter­chen ge­fal­len. Hier fin­dest Du eine An­wei­sung, wie man Blu­men trock­net – dar­aus fa­bri­ziert Ihr ja jetzt al­ler­liebs­te Licht­schir­me! Das wird Dir auch Spaß ma­chen!«

Aga­the sah stumm vor sich nie­der. Sie muss­te an den Her­wegh den­ken, den man ihr einst ge­gen die from­me Min­ne ein­ge­tauscht … Wie­der­hol­te sich denn je­des Er­eig­nis im­mer aufs neue in ih­rem Le­ben? Und wür­de sich’s nach zehn Jah­ren eben­so wie­der­ho­len?

Ent­wi­ckel­ten sich denn alle We­sen in die­ser Welt zu hö­he­ren Da­seins­for­men und nur sie und ih­res­glei­chen blie­ben da­von aus­ge­schlos­sen? Sie war »das jun­ge Mäd­chen« – und muss­te es blei­ben, bis man sie welk und ver­trock­net, mit grau­en Haa­ren und ein­ge­schrumpf­tem Hirn in den Sarg leg­te –?

Wuss­te denn kei­ner, dass es grau­sam war, eine Blu­me, die nach Ent­fal­tung streb­te, durch ein sei­de­nes Band zu um­schnü­ren, da­mit sie Knos­pe blei­ben soll­te. Wuss­te kei­ner, dass sie dann im In­nern des Kel­ches ver­rot­te­te und faul­te?

Je­des Mal, wenn Aga­the durch ih­res Va­ters Zim­mer ging und ihr Blick den Bü­cher­schrank streif­te, der nun ver­schlos­sen war, stieg hei­ßer Zorn ge­gen ih­ren Va­ter in ihr auf.

Er wuss­te ja nicht, was er tat, dach­te sie, um ihn ge­gen sich selbst zu ver­tei­di­gen.

Täg­lich nahm er sie in den Arm und küss­te sie, des Mor­gens und des Abends – aber was sie ihr Le­ben lang emp­fun­den und durch­ge­run­gen, da­von ahn­te er nichts. Wie zart und ge­übt, wie gü­tig und ge­schickt hät­te die Hand sein müs­sen, der es ge­lun­gen wäre, die dunklen In­stink­te, die gäh­ren­den Ge­wal­ten, die in ver­schwie­ge­nem Kampf sie zer­wühl­ten, bis in die Form des Wor­tes her­aus­zu­lo­cken.

Gabriele Reuter – Gesammelte Werke

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