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V.

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Es schi­en doch, als ob Aga­the mit der Zeit ver­nünf­ti­ger ge­wor­den war. Sie be­kam kei­nen Blut­sturz. Sie mein­te nicht ein­mal, dass nun jede Hoff­nung für ihre Zu­kunft am Ende wäre, son­dern biss die Zäh­ne auf­ein­an­der und dach­te: »Dann also Dürn­heim!«

Mehr denn je ver­wand­te sie Zeit und In­ter­es­se auf die Pfle­ge ih­res Kör­pers und auf ih­ren An­zug.

Wie hat­te On­kel Gu­stavs ge­schie­de­ne Frau es mög­lich ge­macht, dass der Ma­jo­rats­herr sie ge­hei­ra­tet? Jung war sie doch nicht mehr ge­we­sen – ge­wiss äl­ter als Aga­the und von schlech­tem Ruf noch dazu. Die Toch­ter ei­nes Ge­sin­de­ver­mie­ters. Was zog die Män­ner zu ihr? Nicht etwa Aben­teu­rer, son­dern gute, an­stän­di­ge Män­ner wie On­kel Gu­stav, und vor­neh­me Kon­ser­va­ti­ve wie den Ma­jo­rats­herrn, ih­ren zwei­ten Gat­ten? Aga­the be­gann zu ent­de­cken, dass in die­sen Din­gen an­de­re Kräf­te im Spiel wa­ren, als ihre Er­zie­her ihr ge­lehrt hat­ten. Sie wäre sich gern dar­über klar ge­wor­den, um ih­ren Ent­schluss zu tref­fen, ob sie sie an­wen­den woll­te und konn­te oder nicht.

Im­mer war sie stolz dar­aus ge­we­sen, zu sein, was sie schi­en: ein un­schul­di­ges, un­wis­sen­des jun­ges Mäd­chen. In den letz­ten Jah­ren hat­te das Chris­ten­tum noch eine fes­te­re, stren­ge­re Mau­er um sie ge­zo­gen, als um ihre Freun­din­nen. Sie hat­te nichts hö­ren wol­len von den Din­gen die­ser Welt, son­dern den Him­mel ge­win­nen, ein­drin­gen in die dor­ne­num­zäun­te Pfor­te zu der un­aus­sprech­li­chen Ruhe der Kin­der Got­tes.

Seit Rai­ken­dorf sie bei­na­he ge­küsst hat­te, träum­te sie nur noch von die­sem Kuss – nicht mehr von ihm, von sei­ner Per­sön­lich­keit, son­dern ein­zig von dem Kuss, den sie schon zu füh­len mein­te und der ihr dann in Luft ver­hauch­te. Er war ihr letz­ter Ge­dan­ke beim Ein­schla­fen, ihr ers­ter beim Er­wa­chen.

Da­bei ver­schwand ihr der Glau­be an Gott fast voll­stän­dig. Der Hei­land, den sie so in­nig zu lie­ben sich be­strebt hat­te, war ihr fremd und gleich­gül­tig ge­wor­den. Sie zwei­fel­te nicht – die re­li­gi­ösen Emp­fin­dun­gen und Vor­stel­lun­gen ver­lo­ren nur mehr und mehr die Macht, sie zu be­ein­flus­sen. Sie wand­te sich mit ei­nem stil­len Wi­der­wil­len von ih­nen ab.

Ein Durst nach Ver­ste­hen des­sen, was um sie her vor­ging, war an ihre Stel­le ge­tre­ten.

Aga­the wur­de im­mer leb­haf­ter in ih­rem We­sen, sie sprach und lach­te so viel wie nie­mals zu­vor. Ihre Au­gen ver­lo­ren den tie­fen, schwär­me­ri­schen Aus­druck und rich­te­ten sich be­stimmt auf Din­ge und Men­schen.

Mit Ei­fer und Ver­gnü­gen be­gann sie Ro­ma­ne zu le­sen – sol­che, die man jun­gen Mäd­chen nicht er­laubt, und die sie ver­barg, so­bald je­mand kam. Zu ih­rem Er­stau­nen be­merk­te sie, dass ihre Mut­ter die Bü­cher auch gern las, ob­gleich sie dar­über schalt und nicht be­griff, wie Men­schen so un­sin­ni­ges Zeug zu­sam­men­schrei­ben konn­ten.

War in Ge­sell­schaft von ei­nem der Bü­cher die Rede, und wur­de Aga­the ge­fragt, ob sie es ge­le­sen, so ant­wor­te­te sie, ohne zu er­rö­ten: »Nein, ich den­ke, das kann man nicht.«

Die Her­ren ih­rer Be­kannt­schaft setz­ten ihr dann aus­ein­an­der, dass man­cher der Dich­tun­gen ein ge­wis­ser Wert nicht ab­zu­spre­chen sei. Aber soll­ten sie sich vor­stel­len, dass sie mit ei­ner jun­gen Dame ver­keh­ren müss­ten, die der­glei­chen ge­le­sen hät­te – nein, das wür­de ih­nen au­ßer­or­dent­lich pein­lich sein.

Zu­wei­len dach­te Aga­the: wenn sie noch hei­ra­te­te, so kön­ne es nun nim­mer­mehr eine idea­le Ehe für sie wer­den. So vie­les, was ihr schon durch den Kopf ge­gan­gen, durf­te sie kei­nem Man­ne je ge­ste­hen. Und eine wah­re Ehe war nicht mög­lich ohne völ­li­ges, ge­gen­sei­ti­ges Ver­trau­en. Also be­müh­te sie sich kaum noch um des Zie­les wil­len, son­dern nur, weil eine in­ne­re Un­ru­he sie an­trieb, im­mer­fort nach Lie­be und Be­wun­de­rung zu su­chen.

Nur ein­mal ge­küsst wer­den, das war eine fixe Idee.

Muss­te es denn eine re­gel­rech­te Ver­lo­bung sein? Es wa­ren doch auch an­de­re Küs­se denk­bar? Ja – denk­bar schon … denk­bar! Aber die Ge­wohn­heit ei­nes gan­zen Le­bens deck­te Aga­the mit ei­nem fes­ten Schil­de. Sie träum­te die lei­den­schaft­lichs­ten Aben­teu­er … und blieb doch nach au­ßen das vor­neh­me, zu­rück­hal­ten­de Mäd­chen. Nicht aus Heu­che­lei. Sie konn­te nicht an­ders – wenn sie auch woll­te. Sie spiel­te mit der Ge­fahr, nach der sie sich sehn­te, bis sie vor der lei­ses­ten phy­si­schen An­nä­he­rung ei­nes Man­nes in­stink­tiv zu­rück­schau­er­te.

Nicht in keu­scher Un­schuld – denn sie war kein Kind mehr – sie war er­wacht, ein rei­fes, tem­pe­ra­ment­vol­les Weib. Ihr Fan­ta­sie- und Ge­fühls­le­ben war nicht mehr un­schul­dig. Es war nur ein fort­wäh­ren­der Streit zwi­schen ih­rer in­di­vi­du­el­len Na­tur und dem We­sen, zu dem sie sich in lie­ben­dem Ei­fer nach ei­nem ehr­wür­di­gen, jahr­tau­sen­de al­ten Ide­al ge­mo­delt hat­te. Und es war wil­der, scheu­er Hoch­mut in ihr: Sich selbst – die­se ge­hü­te­te Kost­bar­keit, ei­nem Man­ne ge­ben, der nur Tal­mi ver­lang­te? Und der sie, Aga­the Heid­ling, dann sein Le­ben lang für Tal­mi hal­ten durf­te?

Die El­tern freu­ten sich, dass Aga­the sich die Ent­täu­schung so we­nig zu Her­zen nahm. Sie tanz­te im nächs­ten Win­ter, so viel es ging, lock­te meh­re­re jun­ge Leu­te auch an, bei Heid­lings Be­such zu ma­chen. Man sag­te ihr Schmei­che­lei­en, wie sie sich kon­ser­vie­re – bei Abend kön­ne man sie gut noch für ein ganz jun­ges Mäd­chen hal­ten. Nur lie­bens­wür­di­ger sei sie als frü­her.

Dürn­heim be­sann sich zwei Win­ter hin­durch, ob er nicht viel­leicht an­hal­ten soll­te – sein Vet­ter Rai­ken­dorf hat­te ihn zwar ge­warnt schließ­lich fei­er­te er dann doch sei­ne Hoch­zeit mit der klei­nen Rom­me. Sie be­kam drei­ßig­tau­send Ta­ler bar mit in die Ehe, wuss­te On­kel Gu­stav.

Zwei Win­ter hat­te Aga­the mit er­lah­men­den Kräf­ten ge­kämpft – nicht ge­ra­de um Dürn­heim al­lein – um jede neue Män­ne­rer­schei­nung – um einen Blick – um ein Lä­cheln. Und die heim­li­chen Nie­der­la­gen, von de­nen nur sie selbst wuss­te! Die Reue – die Scham – die Lan­ge­wei­le – zu­letzt mehr und mehr ein Ge­fühl, als habe sie sich selbst ver­lo­ren und schwan­ke – eine wel­ken­de Form ohne In­halt, ohne See­le – durch der Er­schei­nun­gen Flucht.

Gabriele Reuter – Gesammelte Werke

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