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XIV.

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»Die Mäd­chen mit Ta­lent sind doch zu be­nei­den«, klag­te Aga­the ih­rem Vet­ter. »Je­der­mann fin­det be­greif­lich, dass sie es aus­bil­den. So­gar die arme stei­fe Frau von Hen­ning hat ihre Toch­ter nach Pa­ris ge­hen las­sen. Fragt mich mein Va­ter, was in al­ler Welt ich in Zü­rich tun will – ich habe ei­gent­lich kei­ne Ant­wort. Und wer weiß, ob ich mich dort nicht noch über­flüs­si­ger füh­le als zu Haus. Zwar – es ist schon wun­der­schön, ein­mal sein ei­ge­ner Herr zu sein!«

»Das woll­t’ ich mei­nen«, rief Gref­fin­ger und lach­te herz­lich.

Aga­the war un­ge­fähr in der Stim­mung, in der sie als Kind auf den Ket­ten am Ka­ser­nen­platz ge­ses­sen und mit den Bei­nen ge­bau­melt hat­te – ein we­nig ängst­lich, ein we­nig be­klom­men, aber doch so heim­lich frech und froh.

Sie saß ne­ben Mar­tin auf dem Deck des Damp­fers. Durch das blau auf­schäu­men­de Ge­wäs­ser rausch­te ihr Fahr­zeug dem jen­sei­ti­gen Seeu­fer ent­ge­gen.

Aga­the woll­te mit ih­rem Vet­ter das Hörn­li be­stei­gen. Man soll­te von dem Fels­pla­teau schon auf mä­ßi­ger Höhe einen herr­li­chen Rund­blick ge­nie­ßen. Längst war die Par­tie ge­plant. Aber mit Papa und Mar­tin und Ge­richts­rats – nein. von der Zu­sam­men­set­zung ver­sprach Aga­the sich nicht viel Ver­gnü­gen.

Nun hat­te Papa einen zwei­tä­gi­gen Aus­flug mit dem Pro­fes­sor und ein paar an­de­ren Her­ren un­ter­nom­men. Mar­tin lock­te Aga­the auf ih­rem Mor­gen­spa­zier­gang wei­ter und wei­ter, bis zum Ufer. Dort lag der Damp­fer be­reit. Und Aga­the hat­te ihm selbst den Vor­schlag ge­macht, mit ihr hin­über zu fah­ren.

»Du fängst ja schon an. Dich zu eman­zi­pie­ren«, rief er fröh­lich.

Aga­the be­dau­er­te, dass das Dampf­schiff nicht gleich bis nach Zü­rich fuhr. Heut wäre es ihr leicht ge­wor­den, ih­rer gan­zen Ver­gan­gen­heit, Va­ter und Freun­den und so­li­dem Ruf und al­lem Le­be­wohl zu sa­gen.

Sie wa­ren bei­de sehr ver­gnügt und schwatz­ten lus­ti­ge Tor­hei­ten. Mar­tin rich­te­te die ver­fäng­li­che Fra­ge an Aga­the, warum sie nicht ge­hei­ra­tet – sie hät­te doch ge­wiss viel Kör­be aus­ge­teilt. Aga­the schüt­tel­te den Kopf. – Sie wäre ge­wiss im­mer zu ab­wei­send ge­gen die Män­ner ge­we­sen? Er er­zähl­te ihr von ei­nem Gym­na­sias­ten, der sich die Buch­sta­ben A. H. mit ei­ner Steck­na­del und blau­er Tin­te auf die Brust tä­to­wiert habe. Aga­the plag­te ihn um den Na­men. Er ver­riet ihn nicht, füg­te nur hin­zu: »Ich war es aber nicht.«

Aga­the glaub­te doch, dass er es ge­we­sen.

Mar­tin ver­sprach ihr, wenn sie auf dem Hörn­li wä­ren, soll­te sie Asti zu trin­ken be­kom­men. Er be­trug sich heut über­haupt recht wie ein jun­ger Mann, dem der Kopf voll Toll­hei­ten steckt. Oben­auf dem Hörn­li schrieb er ins Frem­den­buch des Gast­hau­ses: Mark An­ton Grau­si­ger, Wäs­che­fa­bri­kant und Gat­tin. Dar­über ge­riet Aga­the ins Ki­chern wie ein Schul­mäd­chen.

Vor ih­nen lag in To­ten­stil­le und Mit­tags­duft die Ket­te der schnee­be­deck­ten Ge­bir­ge, der un­ge­heu­ren Fel­sen­mas­sen, de­ren Far­ben im Licht­glanz auf­ge­löst wa­ren. Tief im Tal reck­ten dunkle Wäl­der sich zum Was­ser nie­der, und in fah­lem Blau schlum­mer­te der glat­te See. Nuss­bäu­me ga­ben Schat­ten über ih­ren Köp­fen, und die Wald­re­be klet­ter­te an den Stäm­men em­por, rank­te ihre zier­li­chen Klam­merzwei­ge mit den wei­ßen Blü­ten von Ast zu Ast. Aus ei­nem dunklen Ge­strüpp von Lär­chen und Tan­nen, durch das der Weg sich em­por­wand, hauch­te es zu­wei­len wie ein küh­ler, duf­ten­der Atem­zug über sie hin. Dort blüh­ten Al­pen­veil­chen im Moo­se.

Es war heiß, und sie wur­den müde und schweig­sam im Ru­hen und Schau­en. Mar­tin hat­te den Hut ab­ge­nom­men, sein Ge­sicht glüh­te, und er trock­ne­te sich die Stirn mit dem Tuch.

Eine klei­ne Kell­ne­rin brach­te ih­nen das Es­sen und be­dien­te sie. Das fri­sche Ding, rund, weiß und rot wie ein Bors­dor­fer Äp­fel­chen, war ap­pe­tit­lich an­zu­se­hen in ih­rem schwar­zen Sam­met­mie­der und der hel­len Schür­ze. Aga­the und Mar­tin be­ob­ach­te­ten, dass ein plum­per, fett­glän­zen­der Mann mit ei­nem großen Sie­gel­ring am Zei­ge­fin­ger, der sei­ne Mahl­zeit schon be­en­det hat­te, die nied­li­che Klei­ne zu sich wink­te, einen Stuhl her­bei­zog und sie zu­dring­lich nö­tig­te, sich ne­ben ihn zu set­zen und ein Glas Wein mit ihm zu trin­ken.

Sie ant­wor­te­te un­ge­dul­dig; man konn­te se­hen, es war nicht das ers­te Mal, dass sie sich ge­gen ihn zu weh­ren hat­te. Er ver­such­te, sie am Ro­cke fest­zu­hal­ten, sie be­frei­te sich un­wirsch, schalt derb auf ihn ein und lief da­von.

Aga­the wand­te die Bli­cke ab. Die Na­tur und ihre ei­ge­ne fro­he Stim­mung wa­ren ihr ent­weiht.

»Dem Kerl möcht’ ich die Wahr­heit sa­gen«, groll­te Mar­tin zor­nig. »Was solch ar­mes Mä­del zu er­tra­gen hat!«

Der di­cke alte Phi­lis­ter ging, nach­dem sein Ver­such, ein­mal über die Strän­ge zu schla­gen, miss­glückt war, ver­drieß­lich schnau­fend fort.

Wie schön! Nun wa­ren sie al­lein und konn­ten un­be­fan­gen schwat­zen.

Aga­the hör­te es gern, wenn Mar­tin in Ei­fer ge­riet und ihr aus­ein­an­der­setz­te: sie müs­se vor al­len Din­gen das Le­ben ken­nen ler­nen, wie es wirk­lich sei, nicht wie es wohl­er­zo­ge­nen Re­gie­rungs­rat­stöch­tern vor­ge­malt wer­de. Dann wür­de das In­ter­es­se an dem viel­ge­stal­ti­gen, grau­sig mäch­ti­gen und herr­li­chen Un­ge­heu­er so stark in ihr wer­den, dass sie es wie­der lie­ben ler­ne in sei­nen Ab­grün­den und Tie­fen und schrof­fen, schreck­li­chen Hö­hen, und dass sie ge­sund und froh wer­den wür­de an der Luft der Er­kennt­nis.

»Bist Du nicht wei­ter­ge­kom­men in die­sen vier­zehn Ta­gen?« frag­te er. »Ha­ben wir nicht schö­ne Stun­den mit­ein­an­der ge­habt? War das nicht bes­ser, als Dei­ne Ge­sell­schaf­ten und Dei­ne Re­fe­ren­da­re und Lieu­ten­ants?«

Aga­the be­jah­te mit ei­nem tie­fen, leuch­ten­den Blick ih­rer brau­nen Au­gen.

Herr­lich sprach er! Welch ein Glück, dass sie ihn wie­der­ge­fun­den! Es war ja schon fast am Ende ge­we­sen mit ihr. Die­se elen­de, in lau­ter klei­ne Lei­den und Sor­gen und un­nö­ti­ge Ar­bei­ten zer­fa­ser­te Exis­tenz der letz­ten Jah­re.

Sie sprach ihm da­von. Nie hät­te sie ge­glaubt, so of­fen re­den zu kön­nen, und mit ei­nem Man­ne noch dazu – ei­nem jun­gen Man­ne. Aber hier war nicht mehr Mann und Mäd­chen, hier wa­ren zwei gute Ka­me­ra­den, die ein­an­der hel­fen woll­ten in Treue und red­li­cher Ge­sin­nung.

»Was Du mir sagst, ist sehr in­ter­essant, Aga­the«, rief Mar­tin. »Schrei­be es auf mit den­sel­ben Wor­ten, wie Du es mir eben er­zählt hast.«

»Ach, Mar­tin, ich bin ja kei­ne Schrift­stel­le­rin.«

»Ich mei­ne nicht, dass Du da­mit ein Kunst­werk schaf­fen wirst. Das ist nur die Sa­che von ein paar Be­gna­de­ten.«

Er sprach lang­sam wei­ter.

»Ich weiß über­haupt nicht, ob es heu­te dar­auf an­kommt, Kunst­wer­ke zu schaf­fen … Wir le­ben alle so sehr im Kampf! – – Küm­me­re Dich nicht um die Form! Sag’ Dei­nen lie­ben Mit­schwes­tern nur ehr­lich und deut­lich, wie ihr Le­ben in Wahr­heit be­schaf­fen ist. Vi­el­leicht be­kom­men sie dann Mut, es selbst in die Hand zu neh­men, statt sich von ih­ren El­tern und der Ge­sell­schaft vor­schrei­ben zu las­sen, wie sie le­ben sol­len, und da­bei kran­ke, trau­ri­ge, hys­te­ri­sche Frau­en­zim­mer zu wer­den, die man mit drei­ßig Jah­ren am liebs­ten alle mit­ein­an­der tot­schlü­ge! – Na – lockt Dich das nicht? mit­zu­ar­bei­ten für das Recht der Per­sön­lich­keit? – Komm, stoß an – es lebe die Frei­heit!«

Er rief es mit star­ker Stim­me. Sein son­nen­ver­brann­tes Ge­sicht strahl­te in freu­di­ger Be­we­gung. Aga­the hob ihr Glas ihm ent­ge­gen. Ein fei­ner, schril­ler Klang zit­ter­te durch die Mit­tags­stil­le. Dem Mäd­chen war es, als höre sie im Nach­hall ihr ei­gen Herz und ihre Ner­ven klin­gen, so ge­spannt war al­les in ihr zu be­geis­ter­ter Hin­ga­be an das Werk, das er ihr zeig­te.

Lang­sam schlürf­te Gref­fin­ger den hel­len Wein. Aga­the sah halb un­be­wusst, dass sein Blick über das Glas hin­weg auf die klei­ne Kell­ne­rin ging, die sich nicht weit von ih­nen mit ei­ner Hä­kel­ar­beit be­schäf­tig­te. Sie nahm es wahr, wäh­rend ihre Ge­dan­ken ganz er­füllt wa­ren von dem Neu­en, das in ihr zu wir­ken be­gann. Sie stütz­te den Kopf in die Hand und schau­te nach der großen Tie­fe, die zum See hin­un­ter­ging. Schwei­gend ver­senk­te sie sich in die­ses Neue, das ih­rer Zu­kunft et­was Wer­den­des ver­sprach.

Et­was Wer­den­des – –! Da­rin lag die Be­frei­ung. – – Da­rum hat­te das Zu­sam­men­le­ben mit den El­tern sie so un­glück­lich ge­macht, trotz al­ler Lie­be und al­ler Pf­licht­treue: es war ohne Hoff­nung. Sie sah nichts als Abster­ben um sich her. Sie war mit fri­schen Kräf­ten und jun­gen Säf­ten an­ge­schmie­det wor­den an Exis­ten­zen, die schon Blü­te und Frucht ge­tra­gen hat­ten und nur noch in Erin­ne­run­gen an die Zeit ih­rer Wir­kungs­hö­he leb­ten. Und mit den Erin­ne­run­gen, die sie ei­gent­lich gar nichts an­gin­gen – mit den Er­run­gen­schaf­ten der vo­ri­gen Ge­ne­ra­ti­on hat­te sie sich be­gnü­gen sol­len.

Et­was Wer­den­des … Ein Kind – oder ein Werk – mei­net­we­gen ein Wahn, je­den­falls et­was, das Er­war­tun­gen er­regt und Freu­de ver­spricht, mit dem man der Zu­kunft et­was zu schen­ken hofft – das braucht der Mensch, und das braucht dar­um auch die Frau!

Aga­the war ganz stolz und glück­lich, als sie aus dunklen Emp­fin­dun­gen end­lich die­sen Kern ent­wirrt hat­te. Sie muss­te ihn Mar­tin mit­tei­len und wen­de­te sich ihm wie­der zu.

Er sah es nicht …

Was war denn vor­ge­gan­gen?

Er blick­te noch im­mer nach der Kell­ne­rin. Wa­ren das sei­ne Au­gen, in die sie eben noch ge­schaut wie in zwei kla­re Ster­ne, von de­nen ihr die Ver­kün­di­gung ei­ner stol­zen, ho­hen Bot­schaft kam?

War sie denn ver­rückt ge­wor­den, dass sie Mar­tin plötz­lich ver­wan­delt sah? Dem wi­der­li­chen Kerl, nach des­sen Ver­schwin­den sie auf­ge­at­met hat­te – dem sah er ähn­lich … Die halb­ge­schlos­se­nen, blin­zeln­den Li­der, aus de­nen ein grün­li­ches Licht nach dem Mäd­chen drü­ben zün­gel­te … Das Lä­cheln um die Lip­pen – sie spra­chen kein Wort – sie lock­ten und ba­ten doch …

Und – er hat­te mehr Glück als der Alte. Laut­los war, wäh­rend sie ab­ge­wen­det ge­grü­belt hat­te, eine Ver­bin­dung her­ge­stellt zwi­schen ihm und dem jun­gen Din­ge.

Sie stör­te die hin- und wi­der­f­lir­ren­de Wer­bung.

Mar­tin schenk­te sich ein und schwenk­te sein Glas mit of­fe­ner Hul­di­gung ge­gen die Klei­ne. »Fräu­lein!« rief er und trank es leer bis auf den letz­ten Trop­fen.

Dann beug­te er sich zu Aga­the und flüs­ter­te zu­trau­lich:

»Rei­zen­des Mä­del – fin­dest Du nicht?«

Ihr Mund ver­zog sich selt­sam.

Er be­ach­te­te es nicht, son­dern be­gann sich mit der klei­nen Schwei­ze­rin zu un­ter­hal­ten. Fröh­li­ches, dum­mes, harm­lo­ses Zeug, aber es war ein Un­ter­ton in sei­ner Stim­me, den Aga­the kann­te – aus ei­ner lan­ge ent­schwun­de­nen Zeit.

Als sie auf­stand, um zu ge­hen, wun­der­te sie sich, dass die Son­ne noch schi­en.

*

Woll­te Mar­tin sie nur auf die Pro­be stel­len? – Sich über­win­den – ihn ihre un­ge­heu­re Ent­täu­schung und Krän­kung nicht füh­len las­sen! Aber alle Selbst­be­herr­schung war plötz­lich von ihr ge­wi­chen.

Er war ihr wi­der­wär­tig ge­wor­den, aber noch, wi­der­wär­ti­ger war sie sich selbst. Was hat­te sie an ei­nem sol­chen Man­ne fin­den kön­nen? Wie war sie zu der Ver­ir­rung ge­kom­men, ihn für groß und be­deu­tend zu hal­ten?

Und warum riss ein so grau­sa­mer Schmerz an ih­rem Her­zen?

Sie quäl­te sich und ihn mit fins­te­rer Käl­te.

Am Abend nach dem Es­sen for­der­te Mar­tin sie auf, noch ein Stück mit ihm spa­zie­ren zu ge­hen.

»Hier kön­nen wir doch kein Wort spre­chen«, füg­te er mit ei­nem Blick auf die Ge­richts­rä­tin und ihre Toch­ter hin­zu.

Aga­the ver­stand, dass es ihm um eine Auss­pra­che zu tun sei. Und sie emp­fand auch deut­lich, dass es für sie ge­ra­te­ner sei, ihn heu­te zu mei­den.

Aber trotz­dem stand sie auf und nahm ih­ren Shawl von dem Ha­ken an der Wand.

»Wo ge­hen Sie hin, Fräu­lein Aga­the?« frag­te die Rä­tin.

»Ich will mit mei­nem Vet­ter ein Stück spa­zie­ren ge­hen.«

»Jetzt?« frag­te die Rä­tin er­staunt. »Aber Sie wa­ren ja heu­te schon auf dem Hörn­li! Und es ist schon ganz dun­kel!«

»Was scha­det das?«

»Es ist schon neun Uhr vor­über!«

»In ei­ner hal­b­en Stun­de brin­ge ich mei­ne Cou­si­ne un­ver­sehrt zu­rück«, sag­te Mar­tin in ei­nem gleich­gül­ti­gen, höh­ni­schen Ton.

Er ging vor­an, es Aga­the über­las­send, ihm zu fol­gen. Er wuss­te ja, dass sie ihm fol­gen wür­de. Sie tat es, ob­wohl es ihr schi­en, als han­de­le sie voll­stän­dig wie eine, die ih­rer ge­sun­den Sin­ne nicht mehr mäch­tig ist.

Was die Rä­tin und ihre Toch­ter und die Wir­tin und die Kell­ner von ihr den­ken muss­ten, wenn sie mit ei­nem jun­gen Mann in die Nacht hin­aus­ging, das war ja klar.

Es war auch zu selt­sam, dass die Ge­richts­rä­tin kein Wort wei­ter äu­ßer­te. Wahr­schein­lich war sie zu er­starrt über das un­er­hör­te Vor­ha­ben ei­nes jun­gen Mäd­chens.

Wa­rum ging sie nur und trot­te­te mit ge­senk­tem Kopf und ei­nem un­er­träg­li­chen Zit­tern in den Kni­en hin­ter Mar­tin her, der sich nicht ein­mal nach ihr um­wand­te? Es war ihm je­den­falls gleich­gül­tig, ob sie auf dem stei­ni­gen Wege Scha­den nahm.

Ih­nen zur Sei­te braus­te in tie­fem Bett der Ge­birgs­bach, von den Ge­wit­ter­güs­sen der letz­ten Wo­chen an­ge­schwol­len, große Äste und los­ge­ris­se­ne Sträu­cher in sei­nen to­ben­den Stru­deln mit sich rei­ßend. Wol­ken­mas­sen stan­den schon wie­der am Him­mel. Es war so fins­ter, dass man un­ter den Bäu­men, die ihre Zwei­ge über den Weg bo­gen, nicht einen Schritt weit se­hen konn­te.

Be­täubt von dem wil­den To­ben des Was­sers, das aus der Dun­kel­heit kal­te Düns­te in die schwü­le Nacht em­por­sand­te, mit boh­ren­den Schmer­zen im Kopf und über den Au­gen – mit Aufruhr und Elend in der Brust, setz­te sie ih­ren Weg fort.

Wa­rum war sie ihm ge­folgt? Wa­rum nur?

Sie hät­te sich von rück­wärts auf ihn wer­fen mö­gen, auf den dunklen Um­riss sei­ner Ge­stalt, und ihn pa­cken und hin­ein­zer­ren in das wil­de Was­ser, von dem er vor ein paar Ta­gen sag­te: »Wer da hin­ein­springt, den hole ich nicht wie­der!«

Und sie lä­chel­te mit ei­ner grau­sa­men Lust an der Vor­stel­lung, dass er sei­ne Arme so her­aus­stre­cken wür­de, wie die dür­ren Äste aus den Stru­deln rag­ten … Da­bei fühl­te sie, dass es schon kein Lä­cheln mehr war, son­dern eine Gri­mas­se, die ihre Züge ver­zerr­te. Wie ent­setzt er sein wür­de, wenn er sich jetzt um­blick­te und das Wet­ter­leuch­ten ihm ihr Ge­sicht zeig­te …

Aber er blick­te nicht zu­rück.

Ein­mal sag­te er: »Hal­t’ Dich rechts, sonst fällst Du in den Bach.«

Pfui, wie herz­los, wie grau­sam er war. Wie sie ihn ver­ab­scheu­te!

Sie hat­ten nicht sehr weit zu ge­hen, bis sie an eine Brücke ka­men, die ohne Ge­län­der über den Bach führ­te. Mar­tin über­schritt sie und trat in den Hof ei­ner länd­li­chen Wirt­schaft, die von Frem­den nie­mals be­sucht wur­de, für die er al­lein eine Vor­lie­be be­saß. An ei­nem großen Baum hat­te man eine Stall­la­ter­ne be­fes­tigt. Sie warf einen kar­gen Licht­kreis auf den Tisch und die zwei Bän­ke. Über ihr glänz­ten die Blät­ter in ei­nem har­ten, me­tal­li­schen Grün, rings­um­her war Dun­kel­heit. Das lau­te Lär­men des Was­sers trenn­te den Ort von der üb­ri­gen Welt und er­reg­te den Ein­druck, als be­fän­de man sich auf ei­ner In­sel mit­ten in ei­ner wil­den, brau­sen­den Flut.

»Hier sind wir un­ge­stört«, sag­te Mar­tin.

Der Wirt er­schi­en in Pan­tof­feln, ver­schla­fen, und stell­te zwei Glä­ser Bier vor sie hin.

»Geh’n Sie nur. Wir ru­fen schon, wenn wir et­was brau­chen.«

Aga­the hat­te sich nie­der­ge­setzt. Sie stütz­te den Kopf in die Hand und starr­te vor sich auf das graue Holz des Ti­sches. Schwei­gend nahm sie Mar­tins Vor­wür­fe hin.

Für so klein und sen­ti­men­tal und wei­bisch ei­tel, wie sie sich heut ge­zeigt, habe er sie nicht ge­hal­ten. Er woll­te sie für die Frei­heit ge­win­nen. Aber er wer­de sich nicht un­ter die Ty­ran­nei ei­nes prü­den und tö­rich­ten Frau­en­zim­mers beu­gen.

Was habe sein Ge­fal­len an dem hüb­schen, fri­schen Schwei­zer­mäd­chen mit ih­rer Freund­schaft zu tun? Wenn sie sich ein­bil­de, dass er in Zu­kunft auf den Ver­kehr mit hüb­schen jun­gen Mäd­chen ver­zich­ten sol­le, dann habe sie das Ge­fühl, das ihn zu ihr ge­zo­gen, gründ­lich miss­ver­stan­den, dar­über müss­ten sie sich erst aus­ein­an­der­set­zen.

Er wur­de end­lich von Aga­thes Schluch­zen un­ter­bro­chen.

»Höre auf zu wei­nen, Du be­trägst Dich sehr kin­disch«, sag­te er hart.

Es war fast nicht mehr wei­nen zu nen­nen, lang­ge­zo­ge­ne, rö­cheln­de Schreie dran­gen aus ih­rer Brust und ver­lo­ren sich im Brau­sen des Was­sers.

Sie sprang auf, warf den Kopf zu­rück und rang wild die Hän­de, wie in Er­sti­ckungs­not und To­des­kampf.

Mar­tin be­gann sich um sie zu ängs­ti­gen.

»Also ge­hen wir nach Haus! Vi­el­leicht kann man mor­gen ver­nünf­tig mit Dir re­den. Wa­rum in al­ler Welt bist Du nur so au­ßer Dir?«

»Weil ich Dich lie­be!« schrie sie ihn gel­lend an. Sie wuss­te ihm in dem Au­gen­blick kei­ne grö­ße­re Be­lei­di­gung ent­ge­gen­zu­schleu­dern. Und fort war sie – wie der Blitz hin­aus­ge­schos­sen in Nacht und Dun­kel­heit.

Über die Brücke jag­te sie, dem Lauf des Ba­ches fol­gend –

»Zum See – zum See …« Das war der ein­zi­ge Ge­dan­ke, der in ihr tob­te, in ih­ren Pul­sen häm­mer­te, in ih­rem Atem keuch­te.

»Ich will frei sein – frei sein! Von ihm – von ihm –«

Ein lau­tes Auf­la­chen …

Zit­ternd blieb sie ste­hen und lausch­te … War sie es selbst ge­we­sen?

Sie wag­te sich kei­nen Schritt wei­ter in der fürch­ter­li­chen, ein­sa­men Fins­ter­nis. War je­mand hin­ter ihr? Die Zäh­ne schlu­gen ihr klir­rend auf­ein­an­der vor Ent­set­zen.

Sie hat­te ver­ges­sen, dass sie den See er­rei­chen woll­te.

Dicht ne­ben ihr war das ra­sen­de Was­ser – so tief stürz­ten die Ufer ab – so tief …

Das Keu­chen und Ar­bei­ten in ih­rer Brust, das Sau­sen und Läu­ten in ih­rem Kop­fe ließ nach. Sie war tot­mü­de. Ihre Au­gen schlos­sen sich – fast ver­ging ihr die Be­sin­nung.

Nur eine Be­we­gung …

»Mama … mei­ne lie­be Mama …« lall­te sie, streck­te die Arme aus und beug­te sich vorn­über.

Ein Wet­ter­strahl fuhr blen­dend nie­der. Sie riss die Au­gen auf, sah die durch­ein­an­der­to­ben­den Stru­del un­ter sich von fah­lem Licht er­hellt und fuhr zu­rück. Schre­cken­durch­schüt­telt stand sie atem­los, starr­te in die Nacht und hör­te das Spra­chen des Don­ners.

Sie durf­te ja nicht – sie durf­te ja nicht … für Papa sor­gen – sie hat­te es doch ver­spro­chen … Sie durf­te nicht ent­flie­hen. Mama hat­te sie ge­ru­fen …

Ihre Knie schwank­ten, sie fühl­te, dass sie um­fal­len muss­te und ließ sich halt­los zu Bo­den sin­ken. So lag sie zu­sam­men­ge­kau­ert und ließ sich vom Brau­sen des Was­sers be­täu­ben. Al­ler­lei sinn­lo­ses Zeug ging ihr durch den Kopf – sie wuss­te nicht wie lan­ge.

End­lich er­hob sie sich und schlich durch die Nacht zu­rück. Jetzt hat­te sie Angst, sich zu ver­ir­ren, und be­sann sich mit An­stren­gung auf die Rich­tung, die sie ein­zu­schla­gen hat­te. Und dann lief sie, so schnell sie konn­te.

Schau­dernd vor in­ne­rer Käl­te, das Ge­sicht von Schweiß und Trä­nen be­deckt, stand sie vor der Tür des Ho­tels still.

Lei­se öff­ne­te sie und floh durch den Haus­flur die Trep­pe hin­auf.

Da auf dem ers­ten Trep­pen­ab­satz traf sie Mar­tin.

»Aga­the, wie konn­test Du!« rief er ihr ent­ge­gen. »Seit ei­ner Stun­de lau­fe ich in der Dun­kel­heit her­um und su­che Dich! Du hast mir einen schö­nen Schre­cken ein­ge­jagt!«

Sie schlepp­te sich ab­ge­wen­det an ihm vor­über und rie­gel­te sich in ih­rem Zim­mer ein.

So hat­te Aga­thes Aus­flug in die Frei­heit ein Ende ge­nom­men.

Gabriele Reuter – Gesammelte Werke

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