Читать книгу Gabriele Reuter – Gesammelte Werke - Gabriele Reuter - Страница 32
VII.
ОглавлениеEine alte Frau war zur Hintertreppe heraufgekommen und hatte verlangt, das gnädige Fräulein Heidling selbst zu sprechen. Als Agathe in die Küche trat, gab sie ihr ein fleckiges, nur flüchtig zusammengefaltetes Papier.
Ein Bettelbrief.
Große, steife Buchstaben von einer ungeübten Kinderhand mit Bleistift niedergekritzelt – für Agathe nur schwer zu entziffern.
»Hochgeährdestes Frölen Heidling!
Entschuldigen Sie, wenn ich mich an Ihnen wende, mit meiner kroßen Not, hochgeährdestes Frölen mein Kleines is mich gestorben und wollen sies auf die Anadomie schicken bei die Studenten und ich bin zu liegen kommen wer soll den Sarg Bezahlen? hogeährdestes Frölen wenn doch die krosse Güdde hädden und eine Gabe für das, es is mich zu hart das mein Kleines nich soll auf den Friedhof liegen hochgeährdestes Frölen bitte Ihnen inständigst um Verzeihung wohne bei Witwe Krämern.
Untertänigst
Luise Groterjahn.«
»Luise Groterjahn …« wiederholte Agathe, vor ihre Erinnerung trat die freundliche Gestalt des kleinen, rundlichen, flachsköpfigen Hausmädchens.
»Luise hat ja hier im Hause gedient, und sie wäre mit dem gnädigen Freilein zum heiligen Nachtmahl gegangen, sagt sie«, erklärte die Alte mit großer Zungenfertigkeit, und ihre schielenden Blicke liefen an Agathe auf und nieder. »Da sagt ich bei sie: Luise, sag ich, wende Dich doch an das gnädige Fräulein. Die Miete is se ja auch schon zwei Monat schuldig, aber man is ja ein Christenmensch, un auf die Straße werf’ ich kenen, ne Freilein, da soll mich Gott vor bewahren, un man tut ja auch gern den Weg un läuft vor so ’n armes Mächen, und erst könnt’ ich die Nummer nich finden …«
»Woran ist das Kind gestorben?« fragte Agathe ungeduldig.
Die Alte hob die Augen wehleidig zum Himmel. »So ’n Engelchen«, jammerte sie mit einer unangenehmen Sentimentalität, »ich hab’s immer gesagt, Luise, hab ich bei sie gesagt, der Wurm verhungert Dir noch. Freilein – unsereens – weeß Gott, mer hat selber seine liebe Not. Nu liegt se mit’n Bluthusten schon an de vier Monat – keen Verdienst un nischt nich – da is so ’n Kleenes balde hin. – Ne, großer Gott, dass mir so was passieren muss in meinem Hause.«
»Ich will kommen«, murmelte Agathe. »Heut noch. Was muss man tun, damit das Kind nicht … Mein Gott, ich ahnte nicht, dass so etwas geschehen könnte!«
»Ach Freilein –« sagte Dorte grimmig, »die armen Leute – da fragt keiner nach, ob die sich die Seele aus’n Leibe heulen.«
Die Alte erbot sich, mit dem Totengräber zu reden und alles Nötige zu besorgen. Kriechende Demut wechselte mit listiger Schlauheit im Ausdruck ihres Gesichtes. Vertrauenerweckend schien sie nicht, doch musste man sich wohl ihrer Hilfe bedienen.
»Dorte«, sagte Agathe bedrückt, »wir wollen Mama nichts von den Sachen sagen. Ich will erst sehen, wie alles steht.«
Die alte Köchin murrte etwas Unverständliches.
Vier Jahre lagen zwischen heut und dem Abend, als Wiesing mit ihrer Lade und dem Dienstbuch, dem Vierteljahrslohn und den bunten Bilderchen aus ihrer Kammer schluchzend abzog.
Viele Herrschaften beurteilten ja die Liebschaften ihrer Mädchen nicht so streng. Das war der Rätin unbegreiflich. Wutrows hatten eine Köchin schon zweimal wieder in Dienst genommen. So ein Frauenzimmer um sich zu haben – ein gräulicher Gedanke! Sie kochte allerdings vorzüglich.
Nun – Frau Wutrow … man war verwandt durch die Kinder und kam in Höflichkeit und Frieden miteinander aus, aber deswegen mit allem einverstanden zu sein, was Frau Wutrow tat, das konnte niemand verlangen. Die Wutrow drückte oft ein Auge zu, wo der materielle Vorteil ins Spiel kam. Agathe hatte kein Wort für Wiesing eingelegt. Das Mädchen war ihr unangenehm durch die Erfahrung, die sich an ihre Person knüpfte.
Agathe ging langsam die einförmige, von hohen schmutzigen Häusern besetzte Straße hinab, die nach der Stadtgrenze führte, wo die große Infanteriekaserne lag. Hier waren die Schaufenster nicht mehr elegant und glänzend, sondern mit geschmacklosem Plunder vollgestopft. Restauration drängte sich an Kneipe und wieder diese an Wurstkeller und armselige Obsthökereien, wo die Marssöhne sich ihr Frühstück holten. Die Kinder auf den Fußsteigen spielten Soldaten, Trupps von Militär zogen aus und ein.
Agathe fand nach einigem Suchen das Haus, wo die Krämern wohnen sollte. Auf der Schwelle hockte ein blasses Kind mit einem Säugling auf dem Arm, es starrte Agathe neugierig an.
Im Flur führte rechts eine Glastür mit ein paar Stufen zu einer Destille. Der Hausflur war wie ein finsterer, übelriechender Schlund. Agathe tappte sich zu der steilen Treppe und begann hinaufzusteigen. Sie las mühsam in der spärlichen Beleuchtung die Schilder an den Türen. Steiler und gefährlicher, schlüpfrig von feuchtem Schmutz wurde die Treppe. In traurigen Gedanken hatte Agathe nicht darauf geachtet, wie hoch sie gestiegen, und wusste nun nicht, an welcher der vielen Türen sie klingeln oder klopfen sollte, denn hier gab es keine Schilder mehr. Da sah sie, dass das Kind von der Türschwelle ihr nachgekommen war. Es hinkte und schleppte doch den schweren Säugling.
»Kannst Du mir sagen, ob hier Frau Krämern wohnt?«
Es antwortete nicht.
Agathe klopfte endlich aufs Geratewohl. Ein Mann in einem wollenen Hemd öffnete.
»Frau Krämern?« fragte Agathe schüchtern, »oder Luise Groterjahn?«
»Die? Zu der wollen Se?«
Eine höhnische Verachtung drückte sich in seinem Ton aus. »Da drüben.«
Er starrte ihr nach, bis sie hinter der bezeichneten Tür verschwunden war. Das hinkende Kind drängte sich mit Agathe hinein.
»De Krämern is nich da«, sagte das Kind nun.
»Aber ich möchte Luise Groterjahn sprechen.«
Das kleine Mädchen wies schweigend auf eine innere Tür.
Agathe trat in eine schräge Dachkammer. Sie enthielt weiter nichts als ein Bett und einen Holzschemel. Das Licht fiel aus einer Luke in der Decke gerade über die Kranke auf dem Strohsack. Sie lag regungslos, Agathe glaubte, sie schlafe, weil sie den Kopf nicht wendete, als sie eintrat. Doch ihre Augen standen offen und blickten auf die graue Wand am Fußboden des Bettes – wenn man dieses gleichgültige Starren einen Blick nennen konnte.
Erst als Agathe dicht neben dem Bett stand und ihre Hand leise und weich auf die des kranken Mädchens legte, als sie herzlich sagte: »Wiesing, armes Wiesing«, wandten sich die glanzlosen Augen ihr zu.
Agathe hatte sich eingebildet, Wiesing würde sich freuen, sie zu sehen. Aber die Kranke lächelte nicht. Sie weinte auch nicht. Ihre Züge blieben ganz unbewegt.
Agathe dachte an ihr rundes Kindergesicht, das gesund und fröhlich in die Welt geblickt hatte. Die Gesundheit war davongewischt – es trug eine leichenhafte Farbe mit grüngelben Schatten um den Mund und um die Augen, und es war sehr abgemagert. Aber das war es nicht, wodurch Agathe so tief erschüttert wurde. Es war die unermessliche tote Gleichgültigkeit, die darauf ruhte.
Sie verwunderte sich, dass dieses Wesen überhaupt noch um Hilfe gerufen hatte.
Die Tränen stürzten Agathe vor Weh aus den Augen. Sie beugte sich und küsste das Mädchen auf die Stirn. Dann setzte sie sich zu ihr auf den Bettrand, nahm ihre Hand und liebkoste sie leise.
Wiesing ließ alles schweigend mit sich geschehen.
»Dank auch, dass Sie gekommen sind«, murmelte sie nach einer langen Weile.
»Wiesing – warum hast Du nicht eher geschickt?«
»Die Frau Rätin waren so böse.«
»Ach, das ist ja lange her – das ist ja längst vergessen.« Agathe wusste, dass sie log. Ihre Mutter war immer noch böse.
»Wiesing – warum bist Du denn nicht wieder in Dienst gegangen?«
»Ich war immer schwächlich – das Kleine kam so schwer. Und dann war es immer krank.
Wir wollten auch heiraten – wenn er mit zwei Jahren loskäme.«
Wiesing schwieg und starrte wieder auf die graue, verschabte, mit Namen und widerlichen Kritzeleien beschmierte Wand.
»Ist er nicht losgekommen?«
Ein leises Schütteln des Kopfes.
Agathe versuchte noch einmal, die Geschichte dieses Lebens zu erforschen. Dann ließ sie davon ab. Es war nutzlose Grausamkeit.
Die blassen, von einer trockenen Borke bedeckten Lippen der Kranken blieben fest geschlossen, wie über einem schweren Geheimnis.
»Ist denn die Krämern gut zu Dir?«
Wiesing entzog Agathe ihre Hand und wandte den Kopf nach der Mauer.
Beide Mädchen schwiegen.
Draußen schlürfte ein Schritt, die Tür wurde aufgeklinkt, die Krämern drängte sich hastig herein, mit ihr das hinkende Kind mit dem schmutzigen Säugling.
»Ne aber, das gnädige Lämmchen haben sich herbemüht! Ne aber, Luise, so ’ne Ehre! Allens habe ich nu besorgt, en’ Sarg für das Engelchen, und der Herr Pastor will dazu beten – es liegt schon auf ’n Leichenhause. – Hier, alles is ufgeschrieben – kein Pfennig zu viel. Morgen soll Dein Kleenes in die Erde kommen. Ach – so ’n Elend. Ne, ich sage jo.«
Sie schneuzte sich in die blaue Schürze.
Ein leises Wimmern drang von dem Strohsack her.
»Soll ich Dir einen schönen Kranz bringen für Dein Kindchen?« flüsterte Agathe sich zu dem kranken Mädchen niederbeugend.
Wiesing öffnete die geschlossenen Lider. »Ach, Frölen!«
»Ja, morgen bringe ich ihn. Verlass Dich darauf.«
Sie gab der Alten Geld zu Suppe und Wein.
Auf dem Rückwege holte sie Blumen. Heimlich in ihrer Stube flocht sie den Kranz. Sie hatte ein schweres, gemartertes Gewissen.
Am Nachmittag des folgenden Tages, als sie eben gehen wollte, kam Besuch. Sie wurde bis um fünf Uhr aufgehalten und musste eine Menge Vorwände suchen, um nur fortzukommen.
Eilig schritt sie durch die von einem harten scharfen Ostwind durchblasenen Straßen. Wie früh es schon dunkel wurde.
Als sie an der Kneipe im Erdgeschoss des Hauses vorüber wollte, erschienen ein paar Männerköpfe in der Tür. »Fräulein, kommen Sie rein!« schrie man ihr zu.
Atemlos lief sie die Treppen hinauf. Oben nahm sie den Kranz aus der Tasche und legte ihn vor Wiesing aufs Bett. Die Kranke sagte nichts, leise tasteten ihre Finger über die bunten Blumen. In den starren blassen Augen sammelte sich ein feuchter Glanz, langsam liefen zwei Tropfen über die grauen Wangen.
Die Krämern kam, sobald sie Agathe hörte. Und gleich nachher polterte auch das hinkende Kind herein. Mit einem alten, neidischen Lachen stellte es sich vor Agathe hin und sagte:
»En schenen Gruß von die Herren unten, und das Freilein sollte mal runter kommen und Gänsebraten essen.«
Agathe verstand das Mädchen zuerst gar nicht. Die Krämern musste das Anerbieten erklären. »Ne Freilein, sag’ ich’s nich! Jede gute Tat bringt doch gleich ihren Lohn! Dafür, dass Sie die Luise besuchen, schenkt der liebe Gott Ihnen nu ooch gleich den Gänsebraten!«
Agathe stand erstarrt vor dieser naiven Gemeinheit. Hier hatte Wiesing gelebt – diese vier Jahre hindurch –.
Wie sollte sie unten an der schauerlichen Tür vorübergelangen? Ihr Vater hatte doch recht, ihr die Armenbesuche aus eigene Hand zu verbieten. Furcht und Hoffnungslosigkeit senkte sich wie ein Nebel über ihr Denken.
»Soll ich nicht an Deine Mutter schreiben, dass sie Dich nach Haus holt?« fragte sie unschlüssig.
Wiesing schüttelte ganz wenig den Kopf. Sie begann zu husten, versuchte vergebens, sich aufzurichten, um Luft zu bekommen. Agathe fasste sie und hielt sie – so hatte auch sie selbst einmal geröchelt und gerungen … Was war alles für sie geschehen!
»Wiesing – ich will Dir einen Doktor schicken …«
O – der entsetzliche Geruch in der Kammer! Und die Eiskälte … Wie schmutzig das Bett war.
»Kein Doktor!« stammelte die Kranke, und ihre Hände schlugen fieberisch unruhig durch die Luft.
Agathe wollte doch ihren Hausarzt bitten, nach dem Mädchen zu sehen.
Die Krämern versuchte diensteifrig, sie hinunterzubegleiten, aber Agathe wies sie steif und hochmütig ab.
Auf der Treppe fiel ihr der Mann mit dem Gänsebraten wieder ein.
Er stand wartend an der Glastür und lachte laut, als er sie sah. Agathe wurde schwindelig vor Schrecken.
»Nicht so eilig!« brüllte er und fasste nach ihrem Arm. Sie riss sich los und stürzte auf die Straße. Ein dröhnendes Gelächter scholl ihr nach. Sie lief mehr, als sie ging – nur fort – fort aus dieser Gegend.
Mit betäubenden Kopfschmerzen kam sie nach Haus.
Mehrere Tage lang konnte sie sich nicht entschließen, Wiesing wieder zu besuchen. Sie war krank und elend. Sie konnte ihr ja auch nicht helfen. Mit einer schauerlichen Klarheit zeigte ihr die Gänsebraten-Geschichte plötzlich die Bilder aus dem Leben der schmutzigen Tiefe, in die das unglückliche Mädchen gestürzt war.
Sie wagte nicht mehr, ihrem Hausarzt Mitteilung zu machen – als habe sie nur allein Kenntnis von der grausigen Welt dort erhalten und dürfe niemand – niemand davon sagen.
Aber es ließ ihr keine Ruhe. Sie musste das Mädchen aus der Umgebung retten – sie musste wenigstens dafür sorgen, dass sie zu essen bekam. Ging sie des Morgens früh, so saßen wohl auch keine Männer in der Kneipe, von denen sie belästigt werden konnte.
Diesmal trat ihr aus der Tür, die der Wohnung der Krämern gegenüberlag, eine Frau entgegen. Sie sah sauber aus, wie eine ordentliche Arbeiterfrau, deshalb blieb Agathe höflich stehen, als sie sie anredete.
»Fräulein – wollen Sie denn wieder zu der da?« fragte sie.
»Ja. Kennen Sie Luise? Sie scheint mir sehr krank.«
»Gestern haben sie sie fortgeschafft.«
»Fort –? Wohin?« fragte Agathe.
»Na – ins Leichenhaus.«
Agathe schwieg bestürzt.
»Mein Mann sagt, das Fräulein weiß gewiss nicht, was das für eine war?«
Agathe seufzte.
»Ach, liebe Frau, sie hat doch so viel Kummer gehabt.«
»Das will ich ja nich gesagt haben – nu wenn die Krämern so ’n Mädel in die Hände kriegt …«
»Meinen Sie, dass die Krämern nicht gut zu ihr war?«
»Die –? Das alte Vieh? Fräulein … die löffelte Ihnen die Suppe hier draußen – na – und den Wein, den soff sie gleich unten in der Destille. Ne – davon hat das Mädchen nich’n Droppen geschluckt. Ja – wenn die reichen Leute man wüssten, wem sie ihr Geld zuwenden. Ich und mein Mann, wir bitten keinen um ’ne milde Gabe – wir schlagen uns durch – wir arbeiten – ja – aber so’n Pack – die verstehen’s!«
»Ach – sie ist doch nun tot«, sagte Agathe traurig.
»Na ja – gegen das Mädchen will ich ja nichts sagen – das geht denn so – die Krämern hat die gehörig ausgenutzt. Was sollte sie machen? Der kleine Wurm wollte doch leben. Ne – mein Mann sagt – wir zieh’n auch – die Polizei kommt nich aus’n Hause – so ’ne Wirtschaft!«
Agathe wandte sich um und ging die Treppe wieder hinunter. Vielleicht trieb nur der Neid die Frau an, so zu reden. Wer doch je die Wahrheit erfahren könnte!