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VII.

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Eine alte Frau war zur Hin­ter­trep­pe her­auf­ge­kom­men und hat­te ver­langt, das gnä­di­ge Fräu­lein Heid­ling selbst zu spre­chen. Als Aga­the in die Kü­che trat, gab sie ihr ein fle­cki­ges, nur flüch­tig zu­sam­men­ge­fal­te­tes Pa­pier.

Ein Bet­tel­brief.

Gro­ße, stei­fe Buch­sta­ben von ei­ner un­ge­üb­ten Kin­der­hand mit Blei­stift nie­der­ge­krit­zelt – für Aga­the nur schwer zu ent­zif­fern.

»Hoch­ge­ähr­des­tes Frö­len Heid­ling!

Ent­schul­di­gen Sie, wenn ich mich an Ih­nen wen­de, mit mei­ner kro­ßen Not, hoch­ge­ähr­des­tes Frö­len mein Klei­nes is mich ge­stor­ben und wol­len sies auf die Ana­do­mie schi­cken bei die Stu­den­ten und ich bin zu lie­gen kom­men wer soll den Sarg Be­zah­len? ho­ge­ähr­des­tes Frö­len wenn doch die kros­se Güd­de häd­den und eine Gabe für das, es is mich zu hart das mein Klei­nes nich soll auf den Fried­hof lie­gen hoch­ge­ähr­des­tes Frö­len bit­te Ih­nen in­stän­digst um Ver­zei­hung woh­ne bei Wit­we Krä­mern.

Un­ter­tä­nigst

Lui­se Gro­ter­jahn.«

»Lui­se Gro­ter­jahn …« wie­der­hol­te Aga­the, vor ihre Erin­ne­rung trat die freund­li­che Ge­stalt des klei­nen, rund­li­chen, flachs­köp­fi­gen Haus­mäd­chens.

»Lui­se hat ja hier im Hau­se ge­dient, und sie wäre mit dem gnä­di­gen Frei­lein zum hei­li­gen Nacht­mahl ge­gan­gen, sagt sie«, er­klär­te die Alte mit großer Zun­gen­fer­tig­keit, und ihre schie­len­den Bli­cke lie­fen an Aga­the auf und nie­der. »Da sagt ich bei sie: Lui­se, sag ich, wen­de Dich doch an das gnä­di­ge Fräu­lein. Die Mie­te is se ja auch schon zwei Mo­nat schul­dig, aber man is ja ein Chris­ten­mensch, un auf die Stra­ße wer­f’ ich ke­nen, ne Frei­lein, da soll mich Gott vor be­wah­ren, un man tut ja auch gern den Weg un läuft vor so ’n ar­mes Mä­chen, und erst könnt’ ich die Num­mer nich fin­den …«

»Woran ist das Kind ge­stor­ben?« frag­te Aga­the un­ge­dul­dig.

Die Alte hob die Au­gen weh­lei­dig zum Him­mel. »So ’n En­gel­chen«, jam­mer­te sie mit ei­ner un­an­ge­neh­men Sen­ti­men­ta­li­tät, »ich hab’s im­mer ge­sagt, Lui­se, hab ich bei sie ge­sagt, der Wurm ver­hun­gert Dir noch. Frei­lein – un­se­reens – weeß Gott, mer hat sel­ber sei­ne lie­be Not. Nu liegt se mit­’n Blut­hus­ten schon an de vier Mo­nat – keen Ver­dienst un nischt nich – da is so ’n Klee­nes bal­de hin. – Ne, großer Gott, dass mir so was pas­sie­ren muss in mei­nem Hau­se.«

»Ich will kom­men«, mur­mel­te Aga­the. »Heut noch. Was muss man tun, da­mit das Kind nicht … Mein Gott, ich ahn­te nicht, dass so et­was ge­sche­hen könn­te!«

»Ach Frei­lein –« sag­te Dor­te grim­mig, »die ar­men Leu­te – da fragt kei­ner nach, ob die sich die See­le aus­’n Lei­be heu­len.«

Die Alte er­bot sich, mit dem To­ten­grä­ber zu re­den und al­les Nö­ti­ge zu be­sor­gen. Krie­chen­de De­mut wech­sel­te mit lis­ti­ger Schlau­heit im Aus­druck ih­res Ge­sich­tes. Ver­trau­en­er­we­ckend schi­en sie nicht, doch muss­te man sich wohl ih­rer Hil­fe be­die­nen.

»Dor­te«, sag­te Aga­the be­drückt, »wir wol­len Mama nichts von den Sa­chen sa­gen. Ich will erst se­hen, wie al­les steht.«

Die alte Kö­chin murr­te et­was Un­ver­ständ­li­ches.

Vier Jah­re la­gen zwi­schen heut und dem Abend, als Wie­sing mit ih­rer Lade und dem Dienst­buch, dem Vier­tel­jahrs­lohn und den bun­ten Bil­der­chen aus ih­rer Kam­mer schluch­zend ab­zog.

Vie­le Herr­schaf­ten be­ur­teil­ten ja die Lieb­schaf­ten ih­rer Mäd­chen nicht so streng. Das war der Rä­tin un­be­greif­lich. Wu­trows hat­ten eine Kö­chin schon zwei­mal wie­der in Dienst ge­nom­men. So ein Frau­en­zim­mer um sich zu ha­ben – ein gräu­li­cher Ge­dan­ke! Sie koch­te al­ler­dings vor­züg­lich.

Nun – Frau Wu­trow … man war ver­wandt durch die Kin­der und kam in Höf­lich­keit und Frie­den mit­ein­an­der aus, aber des­we­gen mit al­lem ein­ver­stan­den zu sein, was Frau Wu­trow tat, das konn­te nie­mand ver­lan­gen. Die Wu­trow drück­te oft ein Auge zu, wo der ma­te­ri­el­le Vor­teil ins Spiel kam. Aga­the hat­te kein Wort für Wie­sing ein­ge­legt. Das Mäd­chen war ihr un­an­ge­nehm durch die Er­fah­rung, die sich an ihre Per­son knüpf­te.

Aga­the ging lang­sam die ein­för­mi­ge, von ho­hen schmut­zi­gen Häu­sern be­setz­te Stra­ße hin­ab, die nach der Stadt­gren­ze führ­te, wo die große In­fan­te­rie­ka­ser­ne lag. Hier wa­ren die Schau­fens­ter nicht mehr ele­gant und glän­zend, son­dern mit ge­schmack­lo­sem Plun­der voll­ge­stopft. Re­stau­ra­ti­on dräng­te sich an Knei­pe und wie­der die­se an Wurst­kel­ler und arm­se­li­ge Obst­hö­ke­rei­en, wo die Marssöh­ne sich ihr Früh­stück hol­ten. Die Kin­der auf den Fuß­stei­gen spiel­ten Sol­da­ten, Trupps von Mi­li­tär zo­gen aus und ein.

Aga­the fand nach ei­ni­gem Su­chen das Haus, wo die Krä­mern woh­nen soll­te. Auf der Schwel­le hock­te ein blas­ses Kind mit ei­nem Säug­ling auf dem Arm, es starr­te Aga­the neu­gie­rig an.

Im Flur führ­te rechts eine Glas­tür mit ein paar Stu­fen zu ei­ner De­stil­le. Der Haus­flur war wie ein fins­te­rer, übel­rie­chen­der Sch­lund. Aga­the tapp­te sich zu der stei­len Trep­pe und be­gann hin­auf­zu­stei­gen. Sie las müh­sam in der spär­li­chen Be­leuch­tung die Schil­der an den Tü­ren. Stei­ler und ge­fähr­li­cher, schlüpf­rig von feuch­tem Schmutz wur­de die Trep­pe. In trau­ri­gen Ge­dan­ken hat­te Aga­the nicht dar­auf ge­ach­tet, wie hoch sie ge­stie­gen, und wuss­te nun nicht, an wel­cher der vie­len Tü­ren sie klin­geln oder klop­fen soll­te, denn hier gab es kei­ne Schil­der mehr. Da sah sie, dass das Kind von der Tür­schwel­le ihr nach­ge­kom­men war. Es hin­k­te und schlepp­te doch den schwe­ren Säug­ling.

»Kannst Du mir sa­gen, ob hier Frau Krä­mern wohnt?«

Es ant­wor­te­te nicht.

Aga­the klopf­te end­lich aufs Ge­ra­te­wohl. Ein Mann in ei­nem wol­le­nen Hemd öff­ne­te.

»Frau Krä­mern?« frag­te Aga­the schüch­tern, »oder Lui­se Gro­ter­jahn?«

»Die? Zu der wol­len Se?«

Eine höh­ni­sche Ver­ach­tung drück­te sich in sei­nem Ton aus. »Da drü­ben.«

Er starr­te ihr nach, bis sie hin­ter der be­zeich­ne­ten Tür ver­schwun­den war. Das hin­ken­de Kind dräng­te sich mit Aga­the hin­ein.

»De Krä­mern is nich da«, sag­te das Kind nun.

»Aber ich möch­te Lui­se Gro­ter­jahn spre­chen.«

Das klei­ne Mäd­chen wies schwei­gend auf eine in­ne­re Tür.

Aga­the trat in eine schrä­ge Dach­kam­mer. Sie ent­hielt wei­ter nichts als ein Bett und einen Holz­sche­mel. Das Licht fiel aus ei­ner Luke in der De­cke ge­ra­de über die Kran­ke auf dem Stroh­sack. Sie lag re­gungs­los, Aga­the glaub­te, sie schla­fe, weil sie den Kopf nicht wen­de­te, als sie ein­trat. Doch ihre Au­gen stan­den of­fen und blick­ten auf die graue Wand am Fuß­bo­den des Bet­tes – wenn man die­ses gleich­gül­ti­ge Star­ren einen Blick nen­nen konn­te.

Erst als Aga­the dicht ne­ben dem Bett stand und ihre Hand lei­se und weich auf die des kran­ken Mäd­chens leg­te, als sie herz­lich sag­te: »Wie­sing, ar­mes Wie­sing«, wand­ten sich die glanz­lo­sen Au­gen ihr zu.

Aga­the hat­te sich ein­ge­bil­det, Wie­sing wür­de sich freu­en, sie zu se­hen. Aber die Kran­ke lä­chel­te nicht. Sie wein­te auch nicht. Ihre Züge blie­ben ganz un­be­wegt.

Aga­the dach­te an ihr run­des Kin­der­ge­sicht, das ge­sund und fröh­lich in die Welt ge­blickt hat­te. Die Ge­sund­heit war da­von­ge­wischt – es trug eine lei­chen­haf­te Far­be mit grün­gel­ben Schat­ten um den Mund und um die Au­gen, und es war sehr ab­ge­ma­gert. Aber das war es nicht, wo­durch Aga­the so tief er­schüt­tert wur­de. Es war die un­er­mess­li­che tote Gleich­gül­tig­keit, die dar­auf ruh­te.

Sie ver­wun­der­te sich, dass die­ses We­sen über­haupt noch um Hil­fe ge­ru­fen hat­te.

Die Trä­nen stürz­ten Aga­the vor Weh aus den Au­gen. Sie beug­te sich und küss­te das Mäd­chen auf die Stirn. Dann setz­te sie sich zu ihr auf den Bett­rand, nahm ihre Hand und lieb­kos­te sie lei­se.

Wie­sing ließ al­les schwei­gend mit sich ge­sche­hen.

»Dank auch, dass Sie ge­kom­men sind«, mur­mel­te sie nach ei­ner lan­gen Wei­le.

»Wie­sing – warum hast Du nicht eher ge­schickt?«

»Die Frau Rä­tin wa­ren so böse.«

»Ach, das ist ja lan­ge her – das ist ja längst ver­ges­sen.« Aga­the wuss­te, dass sie log. Ihre Mut­ter war im­mer noch böse.

»Wie­sing – warum bist Du denn nicht wie­der in Dienst ge­gan­gen?«

»Ich war im­mer schwäch­lich – das Klei­ne kam so schwer. Und dann war es im­mer krank.

Wir woll­ten auch hei­ra­ten – wenn er mit zwei Jah­ren los­käme.«

Wie­sing schwieg und starr­te wie­der auf die graue, ver­schab­te, mit Na­men und wi­der­li­chen Krit­ze­lei­en be­schmier­te Wand.

»Ist er nicht los­ge­kom­men?«

Ein lei­ses Schüt­teln des Kop­fes.

Aga­the ver­such­te noch ein­mal, die Ge­schich­te die­ses Le­bens zu er­for­schen. Dann ließ sie da­von ab. Es war nutz­lo­se Grau­sam­keit.

Die blas­sen, von ei­ner tro­ckenen Bor­ke be­deck­ten Lip­pen der Kran­ken blie­ben fest ge­schlos­sen, wie über ei­nem schwe­ren Ge­heim­nis.

»Ist denn die Krä­mern gut zu Dir?«

Wie­sing ent­zog Aga­the ihre Hand und wand­te den Kopf nach der Mau­er.

Bei­de Mäd­chen schwie­gen.

Drau­ßen schlürf­te ein Schritt, die Tür wur­de auf­ge­klinkt, die Krä­mern dräng­te sich has­tig her­ein, mit ihr das hin­ken­de Kind mit dem schmut­zi­gen Säug­ling.

»Ne aber, das gnä­di­ge Lämm­chen ha­ben sich her­be­müht! Ne aber, Lui­se, so ’ne Ehre! Al­lens habe ich nu be­sorgt, en’ Sarg für das En­gel­chen, und der Herr Pas­tor will dazu be­ten – es liegt schon auf ’n Lei­chen­hau­se. – Hier, al­les is uf­ge­schrie­ben – kein Pfen­nig zu viel. Mor­gen soll Dein Klee­nes in die Erde kom­men. Ach – so ’n Elend. Ne, ich sage jo.«

Sie schneuz­te sich in die blaue Schür­ze.

Ein lei­ses Wim­mern drang von dem Stroh­sack her.

»Soll ich Dir einen schö­nen Kranz brin­gen für Dein Kind­chen?« flüs­ter­te Aga­the sich zu dem kran­ken Mäd­chen nie­der­beu­gend.

Wie­sing öff­ne­te die ge­schlos­se­nen Li­der. »Ach, Frö­len!«

»Ja, mor­gen brin­ge ich ihn. Ver­lass Dich dar­auf.«

Sie gab der Al­ten Geld zu Sup­pe und Wein.

Auf dem Rück­we­ge hol­te sie Blu­men. Heim­lich in ih­rer Stu­be flocht sie den Kranz. Sie hat­te ein schwe­res, ge­mar­ter­tes Ge­wis­sen.

Am Nach­mit­tag des fol­gen­den Ta­ges, als sie eben ge­hen woll­te, kam Be­such. Sie wur­de bis um fünf Uhr auf­ge­hal­ten und muss­te eine Men­ge Vor­wän­de su­chen, um nur fort­zu­kom­men.

Ei­lig schritt sie durch die von ei­nem har­ten schar­fen Ost­wind durch­bla­se­nen Stra­ßen. Wie früh es schon dun­kel wur­de.

Als sie an der Knei­pe im Erd­ge­schoss des Hau­ses vor­über woll­te, er­schie­nen ein paar Män­ner­köp­fe in der Tür. »Fräu­lein, kom­men Sie rein!« schrie man ihr zu.

Atem­los lief sie die Trep­pen hin­auf. Oben nahm sie den Kranz aus der Ta­sche und leg­te ihn vor Wie­sing aufs Bett. Die Kran­ke sag­te nichts, lei­se tas­te­ten ihre Fin­ger über die bun­ten Blu­men. In den star­ren blas­sen Au­gen sam­mel­te sich ein feuch­ter Glanz, lang­sam lie­fen zwei Trop­fen über die grau­en Wan­gen.

Die Krä­mern kam, so­bald sie Aga­the hör­te. Und gleich nach­her pol­ter­te auch das hin­ken­de Kind her­ein. Mit ei­nem al­ten, nei­di­schen La­chen stell­te es sich vor Aga­the hin und sag­te:

»En sche­nen Gruß von die Her­ren un­ten, und das Frei­lein soll­te mal run­ter kom­men und Gän­se­bra­ten es­sen.«

Aga­the ver­stand das Mäd­chen zu­erst gar nicht. Die Krä­mern muss­te das Aner­bie­ten er­klä­ren. »Ne Frei­lein, sag’ ich’s nich! Jede gute Tat bringt doch gleich ih­ren Lohn! Da­für, dass Sie die Lui­se be­su­chen, schenkt der lie­be Gott Ih­nen nu ooch gleich den Gän­se­bra­ten!«

Aga­the stand er­starrt vor die­ser nai­ven Ge­mein­heit. Hier hat­te Wie­sing ge­lebt – die­se vier Jah­re hin­durch –.

Wie soll­te sie un­ten an der schau­er­li­chen Tür vor­über­ge­lan­gen? Ihr Va­ter hat­te doch recht, ihr die Ar­men­be­su­che aus ei­ge­ne Hand zu ver­bie­ten. Furcht und Hoff­nungs­lo­sig­keit senk­te sich wie ein Ne­bel über ihr Den­ken.

»Soll ich nicht an Dei­ne Mut­ter schrei­ben, dass sie Dich nach Haus holt?« frag­te sie un­schlüs­sig.

Wie­sing schüt­tel­te ganz we­nig den Kopf. Sie be­gann zu hus­ten, ver­such­te ver­ge­bens, sich auf­zu­rich­ten, um Luft zu be­kom­men. Aga­the fass­te sie und hielt sie – so hat­te auch sie selbst ein­mal ge­röchelt und ge­run­gen … Was war al­les für sie ge­sche­hen!

»Wie­sing – ich will Dir einen Dok­tor schi­cken …«

O – der ent­setz­li­che Ge­ruch in der Kam­mer! Und die Eis­käl­te … Wie schmut­zig das Bett war.

»Kein Dok­tor!« stam­mel­te die Kran­ke, und ihre Hän­de schlu­gen fie­be­risch un­ru­hig durch die Luft.

Aga­the woll­te doch ih­ren Haus­arzt bit­ten, nach dem Mäd­chen zu se­hen.

Die Krä­mern ver­such­te dienst­eif­rig, sie hin­un­ter­zu­be­glei­ten, aber Aga­the wies sie steif und hoch­mü­tig ab.

Auf der Trep­pe fiel ihr der Mann mit dem Gän­se­bra­ten wie­der ein.

Er stand war­tend an der Glas­tür und lach­te laut, als er sie sah. Aga­the wur­de schwin­de­lig vor Schre­cken.

»Nicht so ei­lig!« brüll­te er und fass­te nach ih­rem Arm. Sie riss sich los und stürz­te auf die Stra­ße. Ein dröh­nen­des Ge­läch­ter scholl ihr nach. Sie lief mehr, als sie ging – nur fort – fort aus die­ser Ge­gend.

Mit be­täu­ben­den Kopf­schmer­zen kam sie nach Haus.

Meh­re­re Tage lang konn­te sie sich nicht ent­schlie­ßen, Wie­sing wie­der zu be­su­chen. Sie war krank und elend. Sie konn­te ihr ja auch nicht hel­fen. Mit ei­ner schau­er­li­chen Klar­heit zeig­te ihr die Gän­se­bra­ten-Ge­schich­te plötz­lich die Bil­der aus dem Le­ben der schmut­zi­gen Tie­fe, in die das un­glück­li­che Mäd­chen ge­stürzt war.

Sie wag­te nicht mehr, ih­rem Haus­arzt Mit­tei­lung zu ma­chen – als habe sie nur al­lein Kennt­nis von der grau­si­gen Welt dort er­hal­ten und dür­fe nie­mand – nie­mand da­von sa­gen.

Aber es ließ ihr kei­ne Ruhe. Sie muss­te das Mäd­chen aus der Um­ge­bung ret­ten – sie muss­te we­nigs­tens da­für sor­gen, dass sie zu es­sen be­kam. Ging sie des Mor­gens früh, so sa­ßen wohl auch kei­ne Män­ner in der Knei­pe, von de­nen sie be­läs­tigt wer­den konn­te.

Dies­mal trat ihr aus der Tür, die der Woh­nung der Krä­mern ge­gen­über­lag, eine Frau ent­ge­gen. Sie sah sau­ber aus, wie eine or­dent­li­che Ar­bei­ter­frau, des­halb blieb Aga­the höf­lich ste­hen, als sie sie an­re­de­te.

»Fräu­lein – wol­len Sie denn wie­der zu der da?« frag­te sie.

»Ja. Ken­nen Sie Lui­se? Sie scheint mir sehr krank.«

»Ges­tern ha­ben sie sie fort­ge­schafft.«

»Fort –? Wo­hin?« frag­te Aga­the.

»Na – ins Lei­chen­haus.«

Aga­the schwieg be­stürzt.

»Mein Mann sagt, das Fräu­lein weiß ge­wiss nicht, was das für eine war?«

Aga­the seufz­te.

»Ach, lie­be Frau, sie hat doch so viel Kum­mer ge­habt.«

»Das will ich ja nich ge­sagt ha­ben – nu wenn die Krä­mern so ’n Mä­del in die Hän­de kriegt …«

»Mei­nen Sie, dass die Krä­mern nicht gut zu ihr war?«

»Die –? Das alte Vieh? Fräu­lein … die löf­fel­te Ih­nen die Sup­pe hier drau­ßen – na – und den Wein, den soff sie gleich un­ten in der De­stil­le. Ne – da­von hat das Mäd­chen nich’n Drop­pen ge­schluckt. Ja – wenn die rei­chen Leu­te man wüss­ten, wem sie ihr Geld zu­wen­den. Ich und mein Mann, wir bit­ten kei­nen um ’ne mil­de Gabe – wir schla­gen uns durch – wir ar­bei­ten – ja – aber so’n Pack – die ver­ste­hen’s!«

»Ach – sie ist doch nun tot«, sag­te Aga­the trau­rig.

»Na ja – ge­gen das Mäd­chen will ich ja nichts sa­gen – das geht denn so – die Krä­mern hat die ge­hö­rig aus­ge­nutzt. Was soll­te sie ma­chen? Der klei­ne Wurm woll­te doch le­ben. Ne – mein Mann sagt – wir zieh’n auch – die Po­li­zei kommt nich aus­’n Hau­se – so ’ne Wirt­schaft!«

Aga­the wand­te sich um und ging die Trep­pe wie­der hin­un­ter. Vi­el­leicht trieb nur der Neid die Frau an, so zu re­den. Wer doch je die Wahr­heit er­fah­ren könn­te!

Gabriele Reuter – Gesammelte Werke

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