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XV.

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Frau Lieu­ten­ant Heid­ling wur­de durch ein Te­le­gramm ih­res Schwie­ger­va­ters nach der Schweiz be­ru­fen. Der Re­gie­rungs­rat emp­fing sie un­ten am See bei der Damp­f­er­sta­ti­on.

»Mein Gott, Papa – was ist denn ge­schehn?«

»Ja – die arme Aga­the …« Der alte Herr blick­te sei­ne Schwie­ger­toch­ter ver­stört und be­küm­mert an. »Kannst Du Dir das vor­stel­len – den gan­zen Tag sitzt sie und weint – aber den gan­zen Tag! Und will man sie be­ru­hi­gen, dann ge­rät sie in eine Hef­tig­keit – ich habe gar nicht ge­glaubt, dass sie so zor­nig wer­den könn­te. Ich weiß über­haupt nicht mehr, wie ich das Mäd­chen be­han­deln soll. Ich. bin ganz am Ende mit mei­ner Klug­heit … Mit Mar­tin, für den sie doch eine ent­schie­de­ne Vor­lie­be zeig­te, hat sie sich auch über­wor­fen – je­den­falls – denn er ist plötz­lich ab­ge­reist.«

Der Re­gie­rungs­rat er­griff Eu­ge­nies Hän­de, die Trä­nen lie­fen ihm in den Bart.

»Sei mir nicht böse … die wei­te Rei­se … Ich dach­te, wenn Du – Ihr seid doch im­mer so gute Freun­din­nen ge­we­sen. Wenn Du mal mit ihr sprä­chest! Es muss et­was … Du hast ja kei­ne Ah­nung, wie das arme Kind aus­sieht.«

»Na ja, Pa­pa­chen, das wol­len wir schon ma­chen. In der Fa­mi­lie bringt man ja gern Op­fer. Das über­lass mir nur al­les. Ich will Aga­the schon wie­der zur Rai­son brin­gen.«

Als Aga­the ihre Schwä­ge­rin er­blick­te, ver­fiel sie in einen Wein­krampf.

Der Re­gie­rungs­rat lief nach ei­nem Dok­tor. Und der Dok­tor er­klär­te: die Pa­ti­en­tin wäre sehr ner­vös und auch sehr bleich­süch­tig. Die Bleich­sucht käme von der Ner­ven­über­rei­zung, und die Ner­ven­über­rei­zung habe ih­ren Grund in der Blut­ar­mut. Es müs­se et­was für die Ner­ven ge­sche­hen und et­was für die Bleich­sucht – üb­ri­gens wür­de ein biss­chen Stahl die Sa­che schon wie­der in Ord­nung brin­gen.

»Weißt Du, Papa«, sag­te Eu­ge­nie, »ich soll auch ein biss­chen Stahl trin­ken – da neh­me ich Aga­the mit nach Röh­ren – das wird jetzt so sehr ge­rühmt. Lis­beth Wend­ha­gen ist auch dort – es soll von ei­nem vor­züg­li­chen Arzt ge­lei­tet wer­den. Dann las­se ich Wölf­chen hin­kom­men, der Jun­ge sieht nach dem Schar­lach im­mer noch so mie­se­rig aus. Und wir amü­sie­ren uns himm­lisch mit­ein­an­der! – Gott – der Mensch hat im­mer mal so Zei­ten, wo ihm al­les nicht recht ist, und Aga­the hat sich wirk­lich sehr an­ge­strengt. Über­las­se sie mir nur ganz un­be­sorgt.«

Der Re­gie­rungs­rat küss­te Eu­ge­ni­en in war­mer Dank­bar­keit die Hand. Wie klug und prak­tisch sie war. Er sah schon nicht mehr so schwarz … es wür­de ja al­les wie­der wer­den!

»Ich will nicht mit Eu­ge­nie! Ich will nicht! Lass mich hier al­lein, Papa – ganz mut­ter­see­len­al­lein«, fleh­te Aga­the ih­ren Va­ter an. »Du sollst sehn, dann wer­de ich ver­nünf­tig! Ich habe nur eine sol­che Sehn­sucht, ein­mal ganz al­lein zu sein – gar nicht spre­chen zu brau­chen – und gar kei­ne Stim­men zu hö­ren. Ich kann Eure Stim­men nicht mehr ver­tra­gen – das ist die gan­ze Ge­schich­te. Ich will nicht zu ei­nem Dok­tor.«

Eu­ge­nie und Papa blick­ten sich be­deu­tungs­voll an. Der Re­gie­rungs­rat seufz­te tief.

»Kran­ke ha­ben kei­nen Wil­len«, sag­te Eu­ge­nie ener­gisch und pack­te die Kof­fer.

Aga­the sah die jun­ge Frau in ih­ren Sa­chen her­um­wüh­len, ihre Schach­teln öff­nen, in ih­rer Brief­map­pe blät­tern, als sei sie schon eine Ge­stor­be­ne, auf die man kei­ne Rück­sicht mehr zu neh­men braucht.

Und dann doch wie­der das be­stän­di­ge Ge­plau­der, um sie auf­zu­hei­tern – zu zer­streu­en. Oder Eu­ge­nie such­te durch ge­schick­te Fra­gen zu er­grün­den, ob et­was zwi­schen ihr und Mar­tin vor­ge­fal­len sei.

… Vi­el­leicht hat­te sie schon hin­ter Aga­thes Rücken an Mar­tin ge­schrie­ben, und er wür­de al­les ver­ra­ten … Und Eu­ge­nie er­fuhr ihre Schmach – den heim­li­chen Jam­mer, der sie zu Grun­de rich­te­te …

Sie woll­te ja le­ben, sie woll­te ja ihre Pf­licht tun – aber man muss­te sie nicht so furcht­bar pei­ni­gen. Schon in ge­sun­den Zei­ten hat­te Eu­ge­nies leich­te, si­che­re, selbst­ge­fäl­li­ge Art sie maß­los ir­ri­tiert – und nun soll­te sie, tot­mü­de und auf­ge­rie­ben, wie sie war, wo­chen­lang Tag und Nacht mit ihr zu­sam­men sein? Sich von ihr be­auf­sich­ti­gen und aus­for­schen las­sen? Das war gar nicht aus­zu­den­ken!

Und Papa nahm kei­ne Ver­nunft an.

Sie konn­te ihm doch nicht sa­gen, dass sie Eu­ge­nie ver­ab­scheu­te? Wenn er fra­gen wür­de warum? Sie wuss­te ja kei­nen Grund da­für.

Aber sie hat­te selbst Schuld – sie al­lein.

Sie woll­te nun al­les tra­gen, als eine Stra­fe von Gott, für das wahn­sin­ni­ge Ver­lan­gen nach Glück.

Wie Er sich wohl freu­te, dass Er sie so mar­ter­te …

An­stän­di­gen Mäd­chen ka­men ge­wiss kei­ne blas­phe­mi­schen Ge­dan­ken … An­stän­di­ge Mäd­chen sind nicht mit drei­ßig Jah­ren noch ei­fer­süch­tig auf eine Kell­ne­rin …

An­stän­di­ge Mäd­chen – be­tra­gen sich die so, wie sie sich be­tra­gen hat­te? Was war denn nur mit ihr?

Sie ist gar kein an­stän­di­ges Mäd­chen. Sie hat nur ge­heu­chelt, Zeit ih­res Le­bens. Aus Feig­heit ge­heu­chelt. Und wenn es schließ­lich doch ver­ges­sen wird … Ach, der arme Papa – so ein ta­del­lo­ser Ehren­mann … wenn es sich zeigt, was sei­ne Toch­ter für ein Ge­schöpf ist …

Nur al­les über sich er­ge­hen las­sen … Sich mit al­ler Ge­walt zu­sam­men­neh­men – ru­hig sein – kei­ne Sze­nen mehr ma­chen! Dann muss der Dok­tor sie doch für ge­sund er­klä­ren. Da­rauf kommt jetzt al­les an.

Mit ei­ner wah­ren Verzweif­lung klam­mer­te Aga­thes ge­ängs­tig­te See­le sich an die Kon­sul­ta­ti­on des Ba­de­arz­tes in Röh­ren. Er muss­te sie heim­schi­cken – ganz ge­wiss.

Aber als sie an­ka­men, ver­ord­ne­te er ihr gleich eine sechs­wö­chi­ge Kur.

Ob sie nicht al­lein hier blei­ben dür­fe?

Nein – dazu wäre sie viel zu schwach; ihre Schwä­ge­rin müs­se sie pfle­gen und zer­streu­en. Ein Glück, dass sie so eine hei­te­re, lie­bens­wür­di­ge Schwä­ge­rin bei sich habe.

*

Auf ei­ner grü­nen baum­lo­sen Ho­chebe­ne lag das Frau­en­bad. Sein Kur­haus und die Woh­nung des Arz­tes bil­de­ten den Mit­tel­punkt, von hier aus streck­te sich eine ein­zi­ge lan­ge Stra­ße von wei­num­rank­ten Lo­gier­häu­sern in die Wie­sen hin­aus. An ih­rem Ende dräng­ten sich die ver­fal­le­nen Hüt­ten der ein­hei­mi­schen Be­völ­ke­rung. Dort sa­ßen ha­ge­re Frau­en und hus­ten­de Mäd­chen Tag aus, Tag ein über das Klöp­pel­brett ge­beugt und war­fen die klei­nen Holz­pflö­cke mit fie­ber­haf­ter Eile durch das zar­te und kost­ba­re Spit­zen­ge­we­be, das un­ter ih­ren Fin­gern ent­stand. Von der schar­fen rei­nen Luft drang nur we­nig durch die mit Pa­pier ver­kleb­ten Fens­ter­lö­cher. Dass man et­was an­de­res trin­ken kön­ne als Zi­cho­ri­en­kaf­fee, dass man sich ba­den kön­ne, sa­hen sie wohl, aber sie sa­hen es wie frem­de, un­ver­ständ­li­che Ge­bräu­che. Die Milch der Zie­gen ge­hör­te den Frem­den – die Stahl­quel­len – die Fich­ten­na­del und Moor­bä­der wa­ren für die Frem­den. Von den Ein­hei­mi­schen be­merk­te man we­nig, man er­blick­te nur die frem­den weib­li­chen Gäs­te. In den Lau­ben der dürf­ti­gen Gär­ten, wo ein paar Kohl­köp­fe und eine Rei­he Im­mor­tel­len wuch­sen, sa­ßen sie bei­ein­an­der. Sie stan­den grup­pen­wei­se in der Dorf­stra­ße und klag­ten sich ihre Lei­den. Über die wei­ten Wie­sen­flä­chen konn­te man ihre Ge­stal­ten ver­fol­gen, wie sie ein­zeln oder zu zwei­en die Rai­ne ent­lang wan­der­ten, klei­ne Sträuß­lein von Grä­sern und blas­sen Ska­bio­sen sam­melnd als sin­ni­ge Gabe für die Freun­din­nen oder den Dok­tor.

Frau­en – Frau­en – nichts als Frau­en. Zu Hun­der­ten ström­ten sie aus al­len Tei­len des Va­ter­lan­des hier bei den Stahl­quel­len zu­sam­men, als sei die Fül­le von Blut und Ei­sen, mit der das Deut­sche Reich zu macht­vol­ler Grö­ße ge­schmie­det, aus sei­ner Töch­ter Adern und Ge­bei­nen ge­so­gen, und sie könn­ten sich von dem Ver­lust nicht er­ho­len.

Fast alle wa­ren sie jung, auf der Som­mer­hö­he des Le­bens. Und sie teil­ten sich in zwei un­ge­fähr glei­che Tei­le: die von den An­for­de­run­gen des Gat­ten, von den Pf­lich­ten der Ge­sel­lig­keit und den Ge­bur­ten der Kin­der er­schöpf­ten Ehe­frau­en und die blei­chen, vom Nichtstun, von Sehn­sucht und Ent­täu­schung ver­zehr­ten Mäd­chen.

Män­ner be­such­ten den Ort nur sel­ten. Ein hys­te­ri­scher Künst­ler war jetzt an­we­send, ein Oberst a. D., der sei­ne Frau nie al­lein rei­sen ließ, und der Arzt.

Um die bei­den ers­ten be­küm­mer­te man sich nicht sehr viel. Aber der Arzt! – Was Dr. Ell­rich ge­sagt hat­te, in wel­cher Stim­mung er sich be­fand, was er für einen Cha­rak­ter be­saß, das bil­de­te den Ge­sprächss­toff in der Frü­he am Brun­nen, bei der Mit­tags­ta­fel und bei den Reuni­ons des Abends. Man­che hiel­ten ihn für einen Dä­mon, an­de­re für einen En­gel. Zwan­zig Da­men fan­den, es sei un­er­hört, wie frei zwan­zig an­de­re sich im Ver­kehr mit ihm be­nah­men, und ein Dut­zend wei­te­re er­klär­ten jene ers­ten für heim­tückisch ko­kett und be­rech­nend dem Dok­tor ge­gen­über. Die jun­ge Frau ei­nes Ban­kiers woll­te sich um sei­net­wil­len schei­den las­sen, aber es war ja nicht dar­an zu den­ken, dass er die hei­ra­ten wür­de, er wuss­te doch am bes­ten, wie krank die war.

Ein höchst auf­re­gen­der Au­gen­blick ent­stand, so­bald er abends in den Kur­saal trat und man nicht wuss­te, zu wel­cher Grup­pe er sich ge­sel­len wür­de. Es moch­te ja tö­richt sein – lä­cher­lich – aber es blieb nun ein­mal ein Ehren­punkt, den Dok­tor an sei­nem Tisch zu ha­ben. In die­ser en­gen Ge­mein­schaft, wo das In­ter­es­se sich auf so we­ni­ge Punk­te kon­zen­trier­te, un­ter dem Ein­fluss der auf­re­gen­den Bä­der, der schar­fen Hö­hen­luft be­kam jede Stim­mung, je­des Ge­fühl, je­der Ein­fall in den See­len, de­ren Gleich­ge­wicht schon krank­haft ge­stört war, eine un­na­tür­lich ge­stei­ger­te Be­deu­tung und wirk­te mit ge­fähr­li­cher An­ste­ckungs­kraft. Sie er­war­te­ten alle so viel von die­sem Dok­tor, Ge­sund­heit, Froh­sinn, Mut und Le­bens­hoff­nung soll­te er je­der ein­zel­nen zu­rück­ge­ben. Da muss­te man ihm doch ein we­nig den Hof ma­chen.

»Die­ser Dok­tor ist mir wi­der­wär­tig«, er­klär­te Aga­the schon nach der ers­ten Sprech­stun­de. Wie eine Sen­si­ti­ve er­zit­ter­te sie un­ter sei­nen schar­fen Au­gen.

Eu­ge­nie fand ihn amüsant. »Ein biss­chen rück­sichts­los und frech – aber – na – sonst kommt er wohl hier nicht durch.«

Wie sie be­ob­ach­tet wur­den, als er sich abends zu ih­nen setz­te. Lis­beth Wend­ha­gen kam auch gleich vom an­de­ren Ende des Saa­l­es her­ge­lau­fen. Na­tür­lich ko­ket­tier­te Eu­ge­nie mit ihm – es war ja hier Mode, und sie war zu je­der neu­en Mode Be­reit. Pfui – pfui – ekel­haft.

So einen cy­ni­schen Zug hat­te die­ser Dok­tor Ell­rich am Mund­win­kel. Der durch­schau­te die Frau­en ganz und gar – er ver­ach­te­te sie … Die fri­vo­len Wit­ze und An­deu­tun­gen, die er mit Eu­ge­nie über die an­de­ren Pa­ti­en­tin­nen tausch­te! Wahr­schein­lich hin­ter dem Rücken auch über sie. Vor dem muss­te man sich in acht neh­men – der mein­te es nicht gut – – Nur fort – fort von hier … Ein Ort, ein dunk­ler, stil­ler Win­kel, da­hin die Stim­men sie nicht ver­folg­ten, – da­hin kei­ne Far­be, kein Licht und kein Klang drin­gen konn­te. Dort sich ver­ber­gen und schla­fen – schla­fen – traum­los schla­fen …

*

Seit Eu­ge­nie sie über­wach­te, durf­te sie die Näch­te nicht mehr auf ei­nem Stuhl zu­sam­men­ge­kau­ert sit­zen und ins Dunkle star­ren. Aber sie schlief doch nicht. Im­mer­fort muss­te sie grü­beln, wie sie Eu­ge­nie und dem Dok­tor und all den vie­len Frau­en, die sie neu­gie­rig be­ob­ach­te­ten, ent­flie­hen konn­te.

Da­bei dies Tö­nen und Dröh­nen – als wür­de eine große Kir­chen­glo­cke un­abläs­sig in ih­rem Kop­fe ge­schwun­gen.

Das stör­te sie ja im Den­ken – sie kam und kam nicht ins Kla­re. Und es muss­te doch et­was ge­sche­hen – sehr schnell …

Ehe Mar­tin ab­reis­te, hat­te er zu ihr ge­sagt: soll­te sie noch den Wunsch ha­ben, in der Schweiz zu blei­ben, so än­dere das Ge­sche­he­ne nicht im min­des­ten sei­ne Be­reit­wil­lig­keit, ihr zu hel­fen.

Sei­ne Hal­tung war ge­zwun­gen ge­we­sen und sein Ton kühl.

Sie hat­te ihm kei­ne Ant­wort ge­ge­ben.

Sie­dend heiß wur­de es ihr, dach­te sie dar­an. Nur nie – nie ihn wie­der­sehn …

Wenn sie doch zu ihm gin­ge? Heim­lich, ganz heim­lich?

Sie muss­te ihm be­wei­sen, dass sie nicht so er­bärm­lich war, wie er glaub­te.

Sich recht­fer­ti­gen … Das war nun nicht mehr mög­lich.

Ihm hel­fen in stil­ler, har­ter Ar­beit … Ja­wohl! Er wür­de sie doch nur für zu­dring­lich hal­ten.

Und bei die­sem ra­sen­den Ab­scheu, Ekel und Hass … Es konn­te wie­der über sie kom­men, so wie an dem Abend … Sie – sie – und noch et­was wol­len? Et­was, wozu Selbst­ver­trau­en und Kraft ge­hör­te … Sich ver­krie­chen, sich ver­ste­cken, wo kein Mensch sie sah und hör­te – wo sie kei­nen in ih­rer Nähe fühl­te – –

*

Nein – sie woll­te nichts mehr, als still bei Papa blei­ben – sie woll­te ge­wiss nicht wie­der an das alte ge­wohn­te Joch rüh­ren.

Sie hat­te es nun ge­se­hen, dass sie in der rei­nen Luft der Hö­hen nicht at­men konn­te. Sie war nicht für die Ber­ges­gip­fel ge­schaf­fen – sie er­stick­te ein­fach dort.

Frei­lich die Män­ner … die nah­men sich auch auf die Hö­hen mit hin­auf, was sie moch­ten, was ih­nen an­ge­nehm schi­en – nur sie – sie soll­te da in Eis und Schnee er­star­ren. Im Grun­de war es also gleich­gül­tig, ob sie un­ten saß oder mit Ge­fahr ih­res Le­bens an den Fel­sen­hän­gen der Wahr­heit und der Frei­heit hin­auf­zu­klim­men ver­such­te – für die Mäd­chen blieb sich die Sa­che ziem­lich gleich – Ent­sa­gung über­all. Da – da – da traf sie ihn wie­der – den großen Be­trug, den sie alle an ihr ver­übt hat­ten – Papa und Mama und die Ver­wand­ten und Freun­din­nen und die Leh­rer und Pre­di­ger … Lie­be, Lie­be, Lie­be soll­te ihr gan­zes Le­ben sein – nichts als Lie­be ih­res Da­seins Zweck und Ziel …

… Das Weib, die Mut­ter künf­ti­ger Ge­schlech­ter … Die Wur­zel, die den Baum der Mensch­heit trägt …

Ja – aber er­hebt ein Mäd­chen nur die Hand, will sie nur ein­mal trin­ken aus dem Be­cher, den man ihr von Kind­heit an fort­wäh­rend lo­ckend an die Lip­pen hält – zeigt sich auch nur, dass sie durs­tig ist … Schmach und Schan­de! Sün­de – scham­lo­se Sün­de – er­bärm­li­che Schwä­che – hys­te­ri­sche Ver­rückt­heit! schreit man ihr ent­ge­gen – bei den Stren­gen wie bei den Mil­den, den Al­ten und den Jun­gen, den From­men und den Frei­en.

*

Sie hat­te ge­zeigt, dass sie durs­tig war, und sich da­mit des ein­zi­gen Men­schen be­raubt, der sie hät­te ret­ten kön­nen.

Und sie sehn­te sich so sehr nach ihm.

Sie woll­te doch zu ihm flüch­ten. Bei ihm wird sie ge­sund … Sie wuss­te, wo Eu­ge­nie das Rei­se­geld auf­be­wahrt … Nicht ein­mal das ver­trau­te Papa ihr noch an …

Sie be­gann wie­der zu wei­nen.

Mei­net­we­gen moch­te er sie ver­ach­ten … Ganz de­mü­tig will sie ihn bit­ten: Lie­ber, lie­ber Mani – be­hal­te mich nur bei Dir, schüt­ze mich nur … ge­gen die an­de­ren …

Be­son­ders ge­gen Eu­ge­nie! Wie sie sie hass­te – die mit so ei­ner kal­ten Ge­walt al­les an sich zog … Die gan­ze Welt be­herrsch­te sie!

Der Dok­tor hat­te sich auch schon in sie ver­liebt. Da ma­chen sie na­tür­lich ge­mein­sa­me Sa­che ge­gen sie – und ver­ra­ten Papa al­les, al­les – die schlech­ten Men­schen …

Ach – die Angst – die Angst!

Aga­the läuft in ih­rem Zim­mer her­um – im­mer hin und her – hin und her. Sie ist al­lein.

Eu­ge­nie hat für eine Stun­de von ihr Ab­schied ge­nom­men, sie soll sich aufs Bett le­gen und ru­hen un­ter­des­sen. Eu­ge­nie fährt mit dem Dok­tor spa­zie­ren in sei­nem of­fe­nen Wa­gen, den er selbst kut­schiert. Wie sie da oben thron­te – den schel­misch-lau­ern­den Zug um den Mund, das schwar­ze Hüt­chen auf dem blon­den Haar – aus al­len Fens­tern blick­te man ihr nach. Mit ihm fah­ren war die höchs­te Ehre, die der Dok­tor zu ver­ge­ben hat­te. Auf die Stra­ße ka­men die Da­men ge­lau­fen und mach­ten nei­di­sche Glos­sen. Aber Frau Eu­ge­nie ver­gibt sich nichts. Zwi­schen ihr und dem Dok­tor sitzt Wölf­chen in sei­ner stram­men, mi­li­tä­ri­schen Hal­tung mit der klei­nen Sol­da­ten­müt­ze.

Und tri­um­phie­rend hat­te sie rings um­her ge­grüßt und ge­winkt, wäh­rend der Dok­tor an den Zü­geln zog und die Pfer­de lus­tig aus­grei­fen ließ.

Die Heuch­le­rin … die Heuch­le­rin Aga­the lach­te in der Ein­sam­keit, ball­te die Hän­de und schüt­tel­te sie dro­hend.

Mich hat man nicht mit­ge­nom­men, vor mir fürch­ten sie sich wohl – aber der klei­ne Jun­ge, was küm­mern sie sich um den?

Wenn sie drau­ßen sind, wo kei­ner sie mehr sieht, da küs­sen sie sich – der Dok­tor und – Eu­ge­nie ha ha ha – und Wal­ter küsst sie auch und Wölf­chen – alle küs­sen sich. Mar­tin und die Kell­ne­rin und der Com­mis – alle, alle … pfui! Wa­rum kom­men sie zu ihr ins Zim­mer – das ist so bos­haft.

Sie hält sich die Au­gen zu. Sie darf das nicht se­hen. Sie ist doch ein an­stän­di­ges Mäd­chen.

Nein – nein – nicht mit Fin­gern auf mich zei­gen! Habt doch Er­bar­men. Schont doch we­nigs­tens mei­nen lie­ben Papa …

Als Eu­ge­nie heim­kam, sah sie die Ja­lou­si­en bei ih­rer Schwä­ge­rin noch ge­schlos­sen. Aus der fri­schen, hel­len Herbst­luft trat sie fröh­lich er­regt in das halb­dunkle Zim­mer.

»– Mäd­chen – was ist Dir?«

In der Ecke zwi­schen der Wand und dem Ofen stand ein ge­stick­ter Lehn­stuhl. Hier kau­er­te Aga­the, die Knie hoch­ge­zo­gen, die spit­zen Schul­tern vor­ge­streckt, die Ell­bo­gen an sich ge­presst – das gel­be, hohl­äu­gi­ge Ge­sicht mit ei­nem un­be­greif­li­chen Aus­druck von Ent­set­zen vor sich ins Lee­re star­rend.

»Mein Him­mel – fehlt Dir et­was?«

Eu­ge­nie er­griff sie am Arm und schüt­tel­te sie.

»Du siehst ja aus, dass man sich fürch­ten könn­te.«

Aga­the starr­te ihr schwei­gend, dro­hend in die Au­gen.

»Höre, Du«, rief die jun­ge Frau Heid­ling, »ich schi­cke zum Dok­tor …«

Ein gel­len­der Schrei – ein wil­der Lärm und der Ruf: Zu Hil­fe! Hil­fe …!

Die Zim­mer­nach­barn, Kell­ner und Wir­tin stürz­ten in wir­rem Durchein­an­der her­bei.

Aga­the hat­te ihre Schwä­ge­rin zu Bo­den ge­wor­fen, knie­te auf ihr und such­te sie zu wür­gen. Sie lach­te, sie schrie und stieß irre Wor­te aus.

Mit bru­ta­ler Ge­walt muss­te die To­ben­de ge­hal­ten – der zar­te Mäd­chen­kör­per ge­bän­digt und ge­fes­selt wer­den.

*

Bis tief in die Nacht hin­ein sa­ßen und stan­den vor dem Kur­haus die Da­men zu­sam­men und be­spra­chen das Ge­sche­he­ne.

Ein jun­ges Mäd­chen hat­te den Ver­stand ver­lo­ren – es war nichts gar so Sel­te­nes in dem Ba­de­or­te. Man zähl­te die Fäl­le der leg­ten Jah­re. Und man flüs­ter­te schau­dernd und zeig­te sich die­se und jene, die wohl auch nicht weit da­von wa­ren.

Teil­neh­mend dräng­te man sich um Eu­ge­nie. Sie trug einen Tülls­hawl über ei­ner ro­ten Schram­me am Hal­se und gab mit halb­lau­ter, mit­lei­dig-erns­ter Stim­me Aus­kunft.

Zwei Wär­te­rin­nen hü­te­ten die Kran­ke. Es durf­te nie­mand zu ihr. Mor­gen soll­te sie trans­por­tiert wer­den.

Nein – man wuss­te kei­nen Grund – ab­so­lut kei­nen!

Eine un­glück­li­che Lie­be? Be­wah­re – in frü­he­ren Jah­ren – aber Aga­the war im­mer ein so ver­stän­di­ges Mäd­chen ge­we­sen … Gott – prü­de, zu­rück­hal­tend konn­te man sie eher nen­nen. Nicht wahr, Lis­beth? – Und sie bei­de hat­ten sich im­mer so gut ge­stan­den – sie wa­ren ja Freun­din­nen von Kind­heit her …

Zu schau­er­lich – zu ent­setz­lich … flüs­ter­te sie Lis­beth Wend­ha­gen zu – die arme Aga­the be­schul­dig­te sich, Din­ge ge­tan zu ha­ben – vor dem Dok­tor und den Kran­ken­wär­te­rin­nen – es war ja ganz un­sin­nig – kein Wort da­von wahr! Sie hat­te ja nicht die kleins­te Back­fisch­lieb­schaft ge­habt … Und sie nann­te sich mit Na­men – brauch­te Aus­drücke, als ob ein bö­ser Geist aus ihr re­de­te. Eu­ge­nie be­griff es nicht, wo sie die ab­scheu­li­chen Wor­te nur ge­hört ha­ben konn­te.

Je­ner Früh­lings­abend un­ter dem al­ten Ta­xus­baum, wo sie der klei­nen Spiel­ge­fähr­tin die von den Zi­gar­ren­ar­bei­tern und Dienst­bo­ten er­lausch­ten, un­rei­nen Ge­heim­nis­se ins Ohr ge­flüs­tert – den hat­te Frau Lieu­ten­ant Heid­ling längst ver­ges­sen.

*

Mit Bä­dern und Schlaf­mit­teln, mit Elek­tri­zi­tät und Mas­sa­ge, Hyp­no­se und Sug­ge­s­ti­on brach­te man Aga­the im Lau­fe von zwei Jah­ren in einen Zu­stand, in dem sie aus der Ab­ge­schie­den­heit meh­re­rer Sa­na­to­ri­en wie­der un­ter der mensch­li­chen Ge­sell­schaft er­schei­nen konn­te, ohne un­lieb­sa­mes Auf­se­hen zu er­re­gen.

Sie wohnt bei ih­rem Va­ter und hat so­viel da­mit zu tun, die Vor­schrif­ten, wel­che die Ärz­te ihr mit­ge­ge­ben ha­ben, ge­treu­lich zu be­fol­gen, dass ihre Tage und ihre Ge­dan­ken so ziem­lich aus­ge­füllt sind. Re­gel­mä­ßig um drei Uhr sieht man sie ne­ben ih­rem Va­ter spa­zie­ren ge­hen, ein­fach und gut ge­klei­det – von wei­tem kann man sie im­mer noch für ein jun­ges Mäd­chen hal­ten. Weil die Ärz­te dem Re­gie­rungs­rat ge­sagt ha­ben, sei­ne Toch­ter brau­che nur ein we­nig geis­ti­ge An­re­gung, er­zählt er ihr, was er des Mor­gens in der Zei­tung ge­le­sen habe. Nach dem Kaf­fee be­gibt sich Papa ins Le­se­mu­se­um, abends spielt er Whist mit ein paar al­ten Her­ren, und Aga­the legt Pa­ti­ence.

So le­ben sie still ne­ben­ein­an­der hin – vol­ler Rück­sich­ten und in­ner­lich sich fremd.

Aga­thes Ge­dächt­nis hat ge­lit­ten – in ih­rer Ver­gan­gen­heit sind Ab­schnit­te, auf wel­che sie sich nicht mehr be­sin­nen kann. Ei­nem län­ge­ren Ge­spräch zu fol­gen, ist ihr nicht mög­lich. Sie hat sich eine Samm­lung von Hä­kel­mus­tern an­ge­legt und freut sich, wenn sie ein neu­es hin­zu­fü­gen kann. Die Zu­kunft macht ihr kei­ne Sor­ge mehr. Sie be­greift auch nicht, dass so vie­les sie frü­her auf­re­gen konn­te – jetzt lässt al­les, was nicht ihre Ge­sund­heit be­trifft, sie ganz gleich­gül­tig. Sie seufzt oft und ist trau­rig – zu­mal wenn die Son­ne hell scheint und die Blu­men blü­hen, wenn sie Mu­sik hört oder Kin­der spie­len sieht. Aber sie wüss­te kaum noch zu sa­gen, warum …

Wal­ter und Eu­ge­nie be­mü­hen sich, eine Stel­le für sie in dem neu­ge­grün­de­ten Frau­en­heim zu er­lan­gen. Denn, soll­te Papa ein­mal ab­ge­ru­fen wer­den … ins Haus neh­men kann man sie doch nicht gut, zu den Kin­dern – ein Mäd­chen, das in ei­ner Ner­ven­heil­an­stalt war …

Und Aga­the hat viel­leicht ein lan­ges Le­ben vor sich – sie ist noch nicht vier­zig Jah­re alt.

ENDE

Gabriele Reuter – Gesammelte Werke

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