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IV.

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Hat­te sich Aga­the frü­her die Ehe un­ter dem Bil­de ei­nes jun­gen Paa­res vor­ge­stellt, das Schul­ter an Schul­ter ge­lehnt, von den li­li­en­wei­ßen Wol­ken des bräut­li­chen Schlei­ers um­hüllt, in einen dunklen Park hin­aus­blickt – jetzt sah sie, so­bald sie an ihre mög­li­che Hei­rat mit Rai­ken­dorf dach­te, zu­erst den Kaf­fee­tisch im son­ni­gen Gar­ten der Lan­drats­woh­nung vor sich. Auch die ge­schnitz­ten Schrän­ke be­schäf­tig­ten ihre Fan­ta­sie. Sie schloss sie mit den großen, ge­schnör­kel­ten Schlüs­seln auf, leg­te Stö­ße von Lei­nen­zeug hin­ein und Säck­chen und Büch­sen mit Kaf­fee und Zu­cker. Die vie­len lee­ren Zim­mer in dem schö­nen al­ten Hau­se muss­ten mö­bliert wer­den. Der Sa­lon mit sei­ner dunklen Holz­tä­fe­lung – dazu wür­den wein­ro­te Tuch­por­tièren einen herr­li­chen Ein­druck ma­chen – in der tie­fen Fens­ter­ni­sche einen Ses­sel mit Grei­fen­köp­fen und wei­chen brau­nen Le­der­kis­sen, wie im Ate­lier von Wo­szen­ski.

Ob sie Rai­ken­dorf von Lutz sa­gen muss­te?

Ver­g­lich sie bei­de, dann wur­de ihr sehr ban­ge.

Als sie Lutz lieb­te, hat­te sie nie­mals an Ein­rich­tung und an das Mie­ten ei­ner Kö­chin ge­dacht.

Nach­dem sie Rai­ken­dorf noch zwei­mal wie­der­ge­se­hen hat­te und er­kann­te, dass er ernst­haft um sie warb, ver­glich sie nicht mehr.

Ihre ex­al­tier­ten Schmer­zen leg­ten sich zur Ruhe. Wie gut es tat, so fried­lich und ver­trau­ens­voll zu füh­len. Dass ein we­nig Re­si­gna­ti­on da­bei war, ver­söhn­te viel­leicht den Neid der Göt­ter. Üb­ri­gens glaub­te sie ja auch nicht an Göt­ter, son­dern an einen lie­ben Va­ter im Him­mel. Ein ver­stän­di­ges Glück wür­de er ihr am Ende eher gön­nen, als die aus­schwei­fen­de, wil­de, un­sin­ni­ge Se­lig­keit, die sie ein­mal von ihm ver­lang­te.

Den kah­len Kopf, die mü­den, farb­lo­sen Au­gen des Lan­drats, sei­nen gol­de­nen Knei­fer und das be­gin­nen­de Bäuch­lein – den Wert, den er aufs Es­sen leg­te – an al­les dies ge­wöhn­te Aga­the sich mit sanf­ter Freu­de. Jede Un­voll­kom­men­heit kam ihr fast wie eine neue Ga­ran­tie für ihre Zu­kunft vor.

Die Mäd­chen müs­sen neh­men, was ih­nen ge­bo­ten wird.

Ihr Los wird ähn­lich sein, wie das ih­rer Mut­ter, ih­rer Freun­din­nen. Sie wird eben in ih­rem Krei­se blei­ben. Eine Be­am­ten­frau – sie kennt das ganz ge­nau. Sie kennt eine Men­ge von Be­am­ten­frau­en, und alle den­ken und tun und re­den und er­le­ben so ziem­lich das­sel­be. Was sie in der See­le trug von Kei­men zu köst­li­chen sel­te­nen Blü­ten, das wür­de da wohl ver­bor­gen blei­ben. – Aber wer sagt ihr denn, dass die ed­len Kräf­te, das Stre­ben nach frei­er Grö­ße nicht eine ver­mes­se­ne, tö­rich­te Selbst­täu­schung ge­we­sen?

War sie ih­rer ers­ten un­glück­se­li­gen Lie­be treu ge­blie­ben? – Nein.

War sie ih­rem Hei­land eine treue Magd ge­wor­den? – Nein.

Schließ­lich war sie doch nichts Bes­se­res, als all die an­de­ren Mäd­chen auch.

Nur nicht mehr aus­ge­schlos­sen da­ne­ben ste­hen, ne­ben den tie­fen, hei­li­gen, rei­fen­den Er­fah­run­gen des Le­bens.

*

Im Wil­helms­gar­ten, beim Gar­ten­kon­zert woll­ten sie sich tref­fen. Der Lan­drat hat­te ver­spro­chen, von Evers­ha­gen her­ein­zu­kom­men.

Mama wur­de von ih­rer Mi­grä­ne be­fal­len. Und weil Papa bei der Son­nenglut auch lie­ber zu Haus blieb, schick­te Frau Heid­ling zu Eu­ge­nie. Aber Eu­ge­nie schlug die Bit­te, Aga­the zu be­glei­ten, übel­lau­nig ab. Wa­rum hat­te man sie nicht zu dem Aus­flug nach Evers­ha­gen auf­ge­for­dert? Als ob sie sich den gan­zen Tag zu ih­rer Schnei­de­rin stell­te! Es schi­en, dass Aga­the es auf den Lan­drat ab­ge­se­hen hat­te – Mama Heid­ling ent­schul­dig­te sich so wun­der­lich kon­fu­se we­gen der Evers­ha­ge­ner Ge­schich­te. Wenn sie sich da nur nicht wie­der Dumm­hei­ten in den Kopf setz­te! Sol­che Leu­te, wie der Lan­drat Rai­ken­dorf, die Car­riè­re ma­chen wol­len, neh­men eine Sieb­zehn­jäh­ri­ge – wenn’s geht, ad­lig – mit Ver­mö­gen – oder eine jun­ge Wit­we. Lie­ber Gott, die arme Aga­the war doch ei­gent­lich über das Hei­rats­al­ter hin­aus. Ge­le­gent­lich muss­te sie dem Lan­drat mal auf den Zahn füh­len, da­mit das gute Kind sich nicht bla­mier­te. Vi­el­leicht konn­te man ihm vor­schla­gen, auch nach He­rings­dorf zu kom­men. Das wäre ei­gent­lich ziem­lich amüsant … Aber heu­te? – Bil­det Euch doch nur nicht ein, dass der Lan­drat bei der Hit­ze kommt! Gebt die Idee auf!

Aga­the gab die Idee nicht auf. Sie war see­lens­froh, dass Eu­ge­nie sie nicht be­glei­ten woll­te. Tap­fer ver­such­te sie ihr Heil bei Wend­ha­gens – die wa­ren auch bei zwan­zig Grad zu je­dem Ver­gnü­gen be­reit. Mit Lis­beth fühl­te sie sich viel si­che­rer und mun­te­rer als un­ter Eu­ge­ni­ens schar­fen Beo­b­ach­ter­au­gen. Und ein­mal der lie­be­vol­len Für­sor­ge ih­rer Mut­ter ent­flo­hen zu sein – ja – schreck­lich! – aber es war ihr je­des Mal ein klei­nes Fest.

Rai­ken­dorf wür­de sie nach Haus brin­gen, denn Wend­ha­gens wohn­ten in der Vor­stadt. Da hat­ten sie noch einen wei­ten Weg al­lein mit­ein­an­der. Ob er ihr wie­der den Arm bie­ten wür­de?

Er tat es und nahm den ih­ren, ohne zu fra­gen, mit ei­ner hei­te­ren Be­sit­zer­mie­ne.

Sie wuss­te, dass er nun spre­chen wür­de. Sie hat­te ihn doch sehr, sehr gern.

Es kam ganz na­tür­lich und war nicht so auf­re­gend, wie sie sich vor­ge­stellt hat­te. Er sag­te ihr ein­fach, dass er sie zu sei­ner klei­nen Frau ha­ben möch­te, er brauch­te gar kei­ne ro­man­ti­schen Wor­te. Wie zwei gute Ka­me­ra­den re­de­ten sie da­von.

Die Haus­tür war schon ver­schlos­sen. Er half ihr beim Öff­nen, und als sie ihm ent­schlüp­fen woll­te, hielt er sie im Schat­ten des Ein­gangs fest und zog sie an sich.

»Aga­the …!« bat er lei­se.

Ein Kuss – der ers­te Kuss auf ihre Lip­pen … Be­ben­de Freu­de flog durch ihre Sin­ne … Doch ein Licht er­hell­te plötz­lich den Flur, aus der Par­terre­woh­nung dran­gen Stim­men und Trit­te ih­nen ent­ge­gen – Aga­the fuhr zu­rück. Rai­ken­dorf gab sie frei und zuck­te un­ge­dul­dig die Ach­seln. Er press­te ihre Hand.

»Auf mor­gen, Aga­the!«

»Auf mor­gen! Gute Nacht!«

Aga­the lief die Trep­pen hin­auf. Wie lieb sie den Mann jetzt hat­te! Mor­gen –

Mor­gen wird er sie wie­der so weich und fest in den Arm neh­men, und sie wird die Au­gen schlie­ßen …

»Mama – mei­ne lie­be, lie­be Mama! Er kommt – mor­gen früh – zu Papa … Ach – mein Her­zens­müt­ter­chen … Ich bin ja so froh! So froh! – Ich dach­te ja gar nicht … Ach freust Du Dich auch? – Er ist lieb – nicht wahr? Weißt Du – er … Ich kann’s Dir nicht sa­gen … wie er zu mir ist – so gut!

Mama – er sprach von sei­nem Ein­kom­men – ob es rei­chen wür­de für uns bei­de. Ich habe ihm ge­sagt Du hät­test Ver­mö­gen … Das durf­te ich doch? Du gibst mir doch da­von, nicht wahr?«

»Mein Herz­chen – was mein ist, ist doch auch Dein!«

»Ich will ja auch spar­sam sein! Aber so spar­sam! Ach Mama – glaubst Du …«

»Was denn, mein Kind?«

Aga­the lach­te lei­se.

»Nichts! Ich dach­te nur … Nein – so weit will ich gar nicht den­ken, sonst werd’ ich noch när­risch vor Freu­de. Sag’ Du’s Papa. Er wird nichts da­ge­gen ha­ben? Nein – nicht wahr?«

»Was soll­te er! Papa schätzt Rai­ken­dorf. Er soll hö­he­ren Or­tes sehr gut an­ge­schrie­ben sein. – Geh nun, schlaf, mein Lieb­chen, da­mit Du mor­gen hübsch frisch aus­siehst! Ach, mein Kind, dass ich Dich her­ge­ben soll!«

Dank­bar­keit – tie­fe, im­mer neu in ih­rem Her­zen quel­len­de Dank­bar­keit über­flu­te­te gleich ei­nem brei­ten, stil­len, son­nenglän­zen­den Strom die gan­ze Emp­fin­dungs­welt des Mäd­chens. Dank­bar­keit war nun ihre Lie­be. Ret­ter, Er­lö­ser nann­te sie den Mann in ih­rer heim­li­chen See­le.

Nicht jauch­zen­des Hin­wer­fen ih­res Selbst in all­ge­wal­ti­ge Flam­men – kein Auf­glü­hen zu höchs­ter er­ho­be­ner Schön­heit in trun­ke­ner Lei­den­schaft …

Nein – de­mü­ti­ges Empfan­gen, be­schei­den-em­si­ges He­gen und Pfle­gen des Glücks­ge­schen­kes – das war, was sie nun ein­zig be­gehr­te.

Nie – nie woll­te sie Rai­ken­dorf ver­ges­sen, dass er ihr den Abend – die Fül­le von freund­li­chen Hoff­nun­gen ge­ge­ben. Ihr gan­zes Le­ben soll­te ein Die­nen da­für sein. Nicht ge­nug konn­te sie sich dar­in tun, ihn als ih­ren Herrn zu er­hö­hen und sich zu er­nied­ri­gen. War es mög­lich, dass es Au­gen­bli­cke ge­ge­ben, in de­nen sie ihn ver­ach­tet – über ihn ge­höhnt hat­te? Ihn? Dem sie heut die Füße hät­te küs­sen wol­len, sie mit ih­ren Trä­nen ba­den und mit ih­ren duf­ten­den Haa­ren trock­nen?

In der Frü­he, als sie das Wohn­zim­mer be­trat, er­in­ner­te sie sich plötz­lich an den Abend, an dem ihr Mar­tin Gref­fin­ger die so­zia­lis­ti­schen Schrif­ten ge­ge­ben hat­te, um ihr zu hel­fen.

Du lie­ber Gott!

Sie muss­te wahr­haf­tig dar­über la­chen. Was ging das Volk sie wohl an! Es war ihr ganz gleich­gül­tig! Eben so gleich­gül­tig, wie es sie ge­las­sen hät­te, wenn sämt­li­chen Fürs­ten der Erde auf ein­mal die Köp­fe ab­ge­schla­gen wor­den wä­ren.

Und wo­nach sie ver­lang­te – was sie brauch­te – was ihr ein­zig die Welt be­deu­te­te, das soll­te sie auf dem Scho­ße hal­ten dür­fen in sei­ner hilflo­sen, wei­chen, ent­zücken­den Klein­heit – ein Kind! Ein Kind!

Mein Gott – wenn man ihr ge­sagt hät­te, sie müs­se sich von Rai­ken­dorf schla­gen – miss­han­deln las­sen, mit die­sen Hoff­nun­gen be­schäf­tigt, wür­de sie lä­chelnd und zer­streut geant­wor­tet ha­ben: »Ja – ger­ne!«

Ihr Va­ter saß hin­ter der Zei­tung. Sein Ge­sicht, als er es flüch­tig bei ih­rem Mor­gen­gruß er­hob, war ernst und sor­gen­voll. Er ant­wor­te­te ihr nicht.

Aga­the ging ih­rer Mut­ter nach.

»Was ist mit Papa? Freut er sich nicht?«

Ihre Mut­ter hat­te ge­weint.

»Lie­bes Kind, Du kannst nicht von ihm ver­lan­gen, dass er Dich gern her­gibt. Du bist doch un­ser Son­nen­schein. Er ist … ich dach­te … er äu­ßer­te sich im­mer so güns­tig über Herrn Rai­ken­dorf. Nun mit ei­nem Mal … aber das wird sich schon ge­ben! – Weißt Du, Aga­the, es ist ihm sehr un­an­ge­nehm, dass Du die Äu­ße­rung über mein Ver­mö­gen ge­tan hast.«

»Ja aber – ich muss­te doch …«

»Ich habe mich nie um die Ver­wal­tung be­küm­mert. Das ver­steht Papa ja viel bes­ser. Aber Papa sagt, wir hät­ten Ver­lus­te ge­habt. – Lass nur gut sein! Wir rich­ten uns schon ein. Wir neh­men eine klei­ne­re Woh­nung, und wenn Du fort bist, brau­chen wir auch nur ein Mäd­chen. Ich habe es Papa schon vor­ge­rech­net. Dein Glück steht uns doch am höchs­ten.«

Die Un­ter­re­dung zwi­schen dem Re­gie­rungs­rat und Rai­ken­dorf dau­er­te sehr lan­ge. Aga­the konn­te einen ge­reiz­ten Ton in der Stim­me ih­res Va­ters ver­neh­men. Wor­te ver­stand sie nicht. Wie­der wur­de hin­ter ver­schlos­se­nen Tü­ren über ihr Schick­sal ver­han­delt – wie da­mals, als die Ärz­te be­rie­ten, ob sie an ei­ner lang­wie­ri­gen Krank­heit zu Grun­de ge­hen oder ge­sund wer­den wür­de. Und man er­laub­te ihr nicht, mit­zu­spre­chen, zu fra­gen, das Für und Wie­der zu hö­ren. Ge­dul­dig muss­te sie sit­zen, die Hän­de im Schoß, und war­ten, was über sie be­schlos­sen wur­de.

Mein Gott, mein Gott, er­bar­me Dich doch!

Sie wen­de­te sich nicht an den Hei­land – sie fürch­te­te ihn – er for­der­te Ent­sa­gung und Kreuz­tra­gen. In­stink­tiv dräng­te es sie zu Gott dem Va­ter, dem Schöp­fer und Er­hal­ter al­les Le­bens.

Im­mer war ihr, als müs­se sie jetzt, wie in je­ner an­de­ren fürch­ter­li­chen Stun­de, das be­frei­en­de La­chen hö­ren …

Eine Tür wur­de ge­öff­net. Lei­se, vor­sich­tig spra­chen Papa und Rai­ken­dorf mit­ein­an­der – so dumpf … als wäre et­was ge­stor­ben. – Ging er … ohne zu ihr zu kom­men?

Sie hielt sich am Fens­ter­kreuz und starr­te auf die Stra­ße. Rai­ken­dorf trat aus der Tür, und ohne em­por­zu­bli­cken, ging er lang­sam fort.

»Mama!« schrie Aga­the hei­ser auf, »geh doch, sieh doch!«

Ihr Va­ter kam her­ein. Als er Aga­the an­sah, das angst­ver­zerr­te klei­ne Ge­sicht, wink­te er sei­ner Frau. Er konn­te es ihr nicht sa­gen. Die Mut­ter fand wohl bes­se­re Wor­te. Sie muss­te ihr ja auch schon frü­her ein­mal den ers­ten Schlag bei­brin­gen.

»… Du bist ein ver­stän­di­ges Mäd­chen … Papa hat es uns bis­her ver­schwie­gen … er mein­te, wir wür­den die Dis­kre­ti­on nicht ge­wahrt ha­ben – we­gen Eu­ge­nie. Wal­ter hat­te Schul­den – ge­spielt – ehe er sich ver­lob­te. Papa muss­te sie be­zah­len, sonst … we­gen sei­ner Stel­lung … Er hat auch so stren­ge Ehr­be­grif­fe. Wir ha­ben viel ver­braucht – von mei­nem Ver­mö­gen ist nichts mehr da. Er hat mir den Kum­mer er­spa­ren wol­len … Mein gu­tes, ver­stän­di­ges Mäd­chen …«

Frau Heid­ling hielt Aga­thes Hand und strei­chel­te sie im­mer­fort, als kön­ne sie ihr da­mit das zu­cken­de Herz in ma­gne­ti­schen Schlaf strei­cheln.

Sie hat­te eine Angst um Aga­thes Ge­sund­heit … Und bei­na­he fei­ge, hin­ter­lis­tig, die Schuld von ih­rem Man­ne ab­zu­wäl­zen, be­gann sie: »Wenn Dich Rai­ken­dorf wirk­lich lieb ge­habt hät­te …«

»Mama!« schrie Aga­the em­pört her­aus, »er kann doch nicht! Er hat auch Schul­den zu be­zah­len! Er ist ehr­lich ge­gen mich ge­we­sen!«

Sie riss ihre Hand aus der ih­rer Mut­ter und ging auf ihr Zim­mer.

*

Am Abend aßen Wal­ter und Eu­ge­nie bei den El­tern. Sie woll­ten in den nächs­ten Ta­gen nach He­rings­dorf rei­sen. Es soll­te das letz­te Bei­sam­men­sein wer­den. Der Re­gie­rungs­rat wünsch­te nicht, dass sei­ne Frau ih­nen ab­sag­te.

»Da­durch wird die Sa­che nur her­um­ge­spro­chen. Es scha­det dem Mäd­chen nicht, wenn sie sich zu­sam­men­nimmt.«

»– – Höre mal, Aga­the, was ist Dir denn in die Milch ge­fal­len?« frag­te Wal­ter bei Tisch. »Du machst ja eine höchst sen­ti­men­ta­le Jam­mer­mie­ne! Hat Dich Dein Lan­drat ge­är­gert?«

»Lass Dei­ne Schwes­ter in Ruhe, sie hat Kopf­weh«, be­fahl sein Va­ter är­ger­lich.

Aga­the über­fiel ein Zit­tern, ihr gan­zes Ge­sicht ver­zog sich zu ei­ner er­schre­cken­den Gri­mas­se. Sie stand auf und ging ei­lig hin­aus: wäre sie ge­blie­ben, so hät­te sie sich auf ih­ren Bru­der ge­stürzt – sie fühl­te plötz­lich et­was wie eine in­ne­re wil­de, schreck­li­che Kraft, die sich aus Fes­seln los­rang und nicht mehr zu hal­ten war.

»Da hört doch aber man­ches auf!« rief Wal­ter. »Nicht mal einen harm­lo­sen Spaß kann man noch mit ihr ma­chen! So ein al­ber­nes, emp­find­li­ches Frau­en­zim­mer!«

»Du drückst Dich recht hart aus«, sag­te sei­ne Mut­ter be­klom­men. »Aga­the hat auch ihr Teil zu tra­gen.«

»Aber Mama, un­aus­steh­lich reiz­bar ist sie wirk­lich«, sag­te Eu­ge­nie.

»Was hat sie denn zu tra­gen«, fiel Wal­ter ein. »Sie soll­te Gott dan­ken, dass es ihr so gut geht. Was denn? Un­ser­eins hat sei­nen Dien­stär­ger, die Pla­ge mit den Re­kru­ten und die Schin­de­rei von den Vor­ge­setz­ten. Da­ge­gen so ein jun­ges Mäd­chen … Nichts auf der gan­zen wei­ten Welt zu tun, als sich zu put­zen und ver­gnügt aus­zu­se­hen … Alte Jung­fern­schrul­len, sage ich.«

»Schlie­ßen wir mal die Au­gen, ist doch nie­mand da, um für sie zu sor­gen«, klag­te Frau Heid­ling in ei­nem dürf­ti­gen, jäm­mer­li­chen Ton.

Ihr Mann warf ihr einen stren­gen Blick zu. Es ver­letz­te sei­nen Stolz, mit Wal­ter und sei­ner rei­chen Frau von die­ser Ge­schich­te zu re­den.

»Ers­tens hat es mit dem Ster­ben noch lan­ge Zeit«, be­gann der jun­ge Of­fi­zier, »und dann hat sie doch uns.«

»Ja – nicht wahr, Wal­ter, Du ver­sprichst mir, dass Du Dei­ne Schwes­ter nie ver­lässt!«

»Aber selbst­ver­ständ­lich, Mama!« Die­se un­nö­ti­ge Fei­er­lich­keit jetzt plötz­lich zwi­schen Salat und Rührei – was die Frau­en doch al­les schwer neh­men. Na, Eu­ge­nie hat­te Gott sei Dank kei­ne Ner­ven. »Aga­the kommt na­tür­lich zu uns. Nicht wahr, Frau­chen?«

»Sie kann ja mit den Kin­dern spa­zie­ren ge­hen, wenn sie sich nütz­lich ma­chen will – da spa­ren wir ein Fräu­lein«, sag­te Eu­ge­nie leicht­hin.

»Siehst Du, Mama«, schloss Wal­ter be­frie­digt das Ge­spräch, »sie fin­det schon Ar­beit bei uns. Wenn wir erst das klei­ne Mäd­chen zum Jun­gen ha­ben … Na, gib mir noch ein Stück Bra­ten.«

Gabriele Reuter – Gesammelte Werke

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