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IX.

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Aga­the war nun schon zwan­zig Jah­re alt.

Die Re­gie­rungs­rä­tin freu­te sich recht, als im Fe­bru­ar eine ent­fern­te viel jün­ge­re Ver­wand­te, mit der sie hin und wie­der kur­ze Brie­fe wech­sel­te, die Bit­te an sie rich­te­te, ihr das Töch­ter­chen für ei­ni­ge Wo­chen zu schi­cken. Aga­thes Fo­to­gra­fie habe in ihr den Wunsch er­weckt, sie ken­nen zu ler­nen.

Die Cou­si­ne, die, zur Ma­le­rin aus­ge­bil­det, einen pol­ni­schen Künst­ler, Ka­si­mir von Wo­szen­ski, ge­hei­ra­tet hat­te, galt bei Heid­lings für geis­tig an­re­gend, ja für ge­nia­lisch. Da­bei wa­ren die Fa­mi­li­en­ver­hält­nis­se des Ehe­paa­res doch so so­li­de ge­fes­tigt, dass selbst der Re­gie­rungs­rat nichts Ernst­li­ches ge­gen einen Be­such der Toch­ter ein­wen­den konn­te. Aber es ge­fiel ihm nicht, sie von sei­ner Sei­te zu las­sen. Er war an ihr Schwat­zen und La­chen, an das Ge­hen und Kom­men all der jun­gen Mäd­chen um ihn her ge­wöhnt. Er moch­te die­sen leich­ten an­mu­ti­gen Reiz in sei­nem tro­ckenen, ar­beits­vol­len Be­rufs­da­sein nicht ent­beh­ren – auch nicht für vier Wo­chen. Er sah nicht ein, wozu er eine Toch­ter habe, wenn sie auf Rei­sen ge­hen woll­te.

Un­si­cher be­merk­te die Rä­tin: Aga­the könn­te doch da viel­leicht je­mand ken­nen ler­nen … je­mand mit Ver­mö­gen.

Der Re­gie­rungs­rat wur­de sehr zor­nig. Er habe nicht nö­tig, sei­ne Toch­ter ver­scha­chern zu las­sen; er kön­ne selbst für sei­ne Toch­ter sor­gen, und sie brau­che durch­aus nicht zu hei­ra­ten.

So hat­te es ja die Rä­tin nicht ge­meint. Sie woll­te et­was an­deu­ten, was sie nicht zu sa­gen wag­te, weil es ihr unz­art vor­kam. Aga­thes We­sen, das ge­gen die jun­gen Män­ner ih­res Krei­ses im­mer stei­fer und ver­schlos­se­ner wur­de, be­küm­mer­te die Mut­ter. Aga­the hat­te durch hoch­mü­ti­ge Nicht­ach­tung schon meh­re­re Her­ren, die sich ihr auf­fäl­lig zu nä­hern such­ten, ver­letzt und zu­rück­ge­sto­ßen. Die Rä­tin wuss­te nicht von der Er­fah­rung, die Aga­the an ih­rem Bru­der ge­macht hat­te, und die auf ihr ruh­te, wie ein Un­recht, an dem sie durch ihr Ver­schwei­gen mit schul­dig ge­wor­den war. Die Rä­tin wuss­te auch nichts von den Be­zie­hun­gen Lord By­rons zu ih­rer Toch­ter.

In ih­rem, durch die Sor­gen um einen weit­läu­fig und um­ständ­lich ge­führ­ten Haus­halt, von den Erin­ne­run­gen an ihre to­ten Kin­der und von ih­rem Ner­ven­lei­den ge­quäl­ten Kopf war längst ein Zu­stand der Er­mat­tung ein­ge­tre­ten, der es ihr un­mög­lich mach­te, Ur­sa­che und Wir­kung ir­gend wel­cher Ver­hält­nis­se zu über­se­hen, eine Ge­dan­ken­fol­ge klar und scharf zu Ende zu füh­ren. Aber je schwä­cher ihr ur­sprüng­lich nicht ar­mes Ver­stan­des­ver­mö­gen wur­de, de­sto mehr stei­ger­te sich die Ah­nungs­fä­hig­keit ih­res Ge­mü­tes, das mit un­end­lich fei­nen Ge­fühl­stas­tern den ver­bor­gens­ten Stim­mun­gen ih­rer Lie­ben nach­spür­te und sie lei­dend mit­emp­fand. Sie seufz­te, so­bald die Rede auf Wal­ters und Eu­ge­ni­ens Hoch­zeit kam, und doch war für alle Freun­de der Fa­mi­lie in dem be­vor­ste­hen­den Er­eig­nis ei­tel Freu­de für ein Mut­ter­herz zu se­hen. So fühl­te Frau Heid­ling auch jetzt, dass eine Zer­streu­ung, ein Wech­sel der Ein­drücke für Aga­the heil­sam sein wer­de. Sie hat­te nicht ohne Ab­sicht die letz­te schö­ne Fo­to­gra­fie des Mäd­chens dem Ma­ler­ehe­paar ge­schickt. Weil sie kei­ne über­zeu­gen­den Grün­de vor­brin­gen konn­te, such­te sie ihr Ziel mit stil­lem Ei­gen­sinn zu er­rei­chen.

Frau Heid­ling er­öff­ne­te ih­rer Toch­ter mit be­trüb­tem Ge­sicht, der Va­ter habe ent­schie­den, wenn sie rei­sen wol­le, so kön­ne sie die Kos­ten von ih­rem Ta­schen­gel­de tra­gen.

»Papa weiß ja gar nicht, dass Du Dir was ge­spart hast«, füg­te sie mit ei­nem schel­mi­schen Tri­umph hin­zu. »Zwan­zig Mark gebe ich Dir aus der Wirt­schafts­kas­se – die kann ich gut er­üb­ri­gen! Da muss er es doch er­lau­ben! – Freust Du Dich nicht auf die Rei­se?«

Aga­the blick­te ihre Mut­ter ver­stört und er­schro­cken an.

Ja – sie hat­te sich einen klei­nen Schatz er­spart …

Schon lan­ge trug sie in Ge­sell­schaf­ten kei­ne Gla­cee­hand­schu­he mehr, son­dern Halb­sei­de­ne, und auf Spa­zier­gän­gen so­gar Baum­wol­le­ne. Mach­ten die jun­gen Da­men einen Ab­ste­cher zum Kon­di­tor, so wuss­te sie sich auf ir­gend eine Wei­se zu­rück­zu­zie­hen, und ihre Ge­burts­tags­ge­schen­ke wa­ren ge­ra­de­zu mes­quin. Die öf­fent­li­che Mei­nung be­schäf­tig­te sich be­reits mit der au­gen­fäl­li­gen Ver­nach­läs­si­gung ih­rer sonst so ge­pfleg­ten Er­schei­nung und mit der Ver­än­de­rung ih­res sorg­los ge­nerösen Cha­rak­ters.

Da der Wort­schatz der jun­gen Mäd­chen kein all­zu reich­hal­ti­ger war, wur­den zwei Aus­ru­fe bald von Lis­beth Wend­ha­gen, bald von Fräu­lein von Hen­nig, dann wie­der von Klä­re Dürr­heim oder von Eu­ge­nie als neues­te Beo­b­ach­tung preis­ge­ge­ben.

»Kin­der, was sagt ihr nur zu Aga­the? –«

»Ich fin­de das ei­gent­lich …«

Der Grad von Miss­bil­li­gung, von Ent­rüs­tung schi­en so stark zu sein, dass er nur durch eine un­heim­li­che Pau­se hin­ter dem »ei­gent­lich« … recht zur Gel­tung ge­bracht wer­den konn­te.

Aga­the spar­te für eine Rei­se nach Eng­land. Sie woll­te ih­res to­ten Lieb­lings Grab be­su­chen, an den Stät­ten wan­deln, wo er ge­at­met und ge­sun­gen – wo er das Le­ben ge­lit­ten und ge­nos­sen hat­te.

Ach – und wie lan­ge dau­er­te es, bis aus den ein­zel­nen Ni­ckel- und Sil­ber­mün­zen ih­res Ta­schen­gel­des auch nur ein Gold­stück ein­ge­wech­selt wer­den konn­te. Auf dem Grun­de des Käst­chens, in dem Aga­the ih­ren Schatz be­wahr­te, lag ein Zet­tel, der in go­ti­schen Buch­sta­ben den Spruch ent­hielt: Ver­nunft, Ge­duld und Zeit macht mög­lich die Un­mög­lich­keit. Wenn Aga­the ihn las, war ihr zu Mute, als näh­me sie einen Schluck Chi­nin­wein.

Mit ner­vö­ser Lust fühl­te sie das Geld zwi­schen ih­ren Fin­gern, das ihr end­lich ein Er­leb­nis brin­gen soll­te – das große Er­leb­nis, nach dem ihr gan­zes We­sen ge­spannt war. Vi­el­leicht er­laub­ten ihr die El­tern die Rei­se nicht – viel­leicht muss­te sie heim­lich ge­hen und durf­te dann nie­mals wie­der­kom­men … Sie be­sann sich, ob ir­gend et­was in dem Krei­se ih­rer jet­zi­gen Freu­den sie mit star­ker Ge­walt hät­te zu­rück­hal­ten kön­nen?

Nein – da gab es nichts. Al­les er­schi­en ihr fade und klein, von al­lem kehr­te sie sich miss­trau­isch oder gleich­gül­tig und ver­dros­sen ab.

Nun wur­de sie plötz­lich vor eine schwe­re Wahl ge­stellt.

Eng­land zu er­rei­chen, ohne die Ein­wil­li­gung der El­tern, war ja höchst un­wahr­schein­lich – wie eine ganz tol­le Idee kam der Plan ihr jetzt vor.

Frau von Wo­szens­ka schrieb rei­zen­de Brie­fe – zu drol­lig … Und ihr Mann war ein rich­ti­ger Pole – große Künst­ler ver­kehr­ten in sei­nem Hau­se …

Aga­the ant­wor­te­te, sie wol­le rei­sen – na­tür­lich woll­te sie!

… Ach Gott – nun muss­te sie die Gold­stücke in ihr Por­te­mon­naie ste­cken. Wie sie da­mit ihre Lie­be pro­fa­nier­te.

Sie war fei­ge – sie war kein großer Mensch, der sich und sei­nen Ent­schlüs­sen treu bleibt.

Aber was hal­f’s! Nun woll­te sie auch ein­mal wie­der von Her­zen ver­gnügt sein.

*

Frau von Wo­szens­ka er­war­te­te Aga­the auf dem Bahn­hof und schlepp­te sie gleich zu ih­rem Man­ne ins Ate­lier. Ein star­ker Duft von Ter­pen­tin und ägyp­ti­schen Zi­ga­ret­ten drang ih­nen ent­ge­gen. Der pol­ni­sche Ma­ler schob die Bril­le auf sei­ne ma­ge­re Ad­ler­na­se her­un­ter und blick­te Aga­the mit blau­en trau­ri­gen Beo­b­ach­ter­au­gen an, wäh­rend sei­ne dür­re lan­ge Hand sie herz­lich be­grüß­te. Er hat­te in ei­nem ge­schnitz­ten Lehn­stuhl ge­ses­sen, den Kopf an ein al­tes Le­der­kis­sen ge­lehnt – sei­ne be­gon­ne­ne Ar­beit prü­fend. Auf ei­ner Staf­fe­lei vor ihm stand eine große Lein­wand.

Frau von Wo­szens­ka, die, aus Leip­zig ge­bür­tig, ein leb­haf­tes Säch­sisch re­de­te, stell­te sich ne­ben ih­ren Mann, leg­te ihm die Hän­de auf die Schul­ter, blick­te das Bild mit schar­fer Auf­merk­sam­keit an und rief dann fröh­lich:

»So wird’s, Kas! Here mal, mei Kuts­ter – so wird’s!«

Herr von Wo­szen­ski wen­de­te sich höf­lich zu Aga­the und sag­te:

»Ich woll­te es die Ex­ta­se der No­vi­ze nen­nen.«

Aga­the such­te sich in das un­voll­en­de­te Ge­mäl­de hin­ein­zu­fin­den.

Vor ei­nem mit fan­tas­ti­scher Ver­gol­dung prun­ken­den Al­tar, auf dem Ker­zen im Weih­rauch­ne­bel flim­mern und blut­ro­ter Sam­met über wei­ße Mar­mor­stu­fen flu­tet, ist eine jun­ge Non­ne in die Knie ge­sun­ken – ihr dunk­ler Schlei­er, die schwe­ren Ge­wän­der flat­ternd in geis­ter­haf­tem Sturm­wind, der mit ei­nem Strom von Glanz durchs hohe Kir­chen­fens­ter bricht – un­zäh­li­ge ge­flü­gel­te Köpf­chen, amo­ret­ten­glei­che En­gels-Ge­stal­ten vom Him­mel her­ab­wir­belnd. Und die jun­ge Non­ne hat in den er­ho­be­nen Ar­men das Je­sus­kind­lein emp­fan­gen.

Ihre Ge­stalt, die se­li­ge In­nig­keit ih­rer Ge­bär­de wa­ren erst in Koh­len­stri­chen an­ge­deu­tet – ihr Ant­litz ein lee­rer grau­er Fle­cken. Aber Aga­the seufz­te tief in an­däch­ti­ger Ver­wun­de­rung, als sie die Mei­nung ver­stand.

Frau von Wo­szens­ka nahm sie bald mit sich, in­dem sie ih­rem Man­ne zu­rief: »Höre, Du – heut gibts nur Eier­ku­chen und ein Stück Schin­ken – ich brau­che die Kö­chin.«

Er lä­chel­te ein­ver­stan­den.

Frau von Wo­szens­ka hat­te ihr Ate­lier in der Woh­nung, um ne­ben der Kunst den Haus­halt über­wa­chen zu kön­nen. Sie mal­te lus­ti­ge Schul­mäd­chen und blon­de Kin­der, die einen schwar­zen Pu­del ab­rich­ten. Da­mit ver­dien­te sie das täg­li­che Brot und für ih­ren Gat­ten die Muße, die er zu sei­nen großen, un­ver­käuf­li­chen Wer­ken brauch­te.

Nach­dem die ro­bus­te Dienst­magd Aga­thes Kof­fer her­auf­ge­tra­gen und noch ein­mal Koh­len in den Ofen ge­schau­felt hat­te, leg­te sie ihr Kleid ab und schäl­te aus dem be­ruß­ten Baum­wol­len­stoff ein Paar pracht­vol­le Schul­tern und Arme. Sie setz­te sich auf ein er­höh­tes Po­di­um, Frau von Wo­szens­ka zeich­ne­te ernst und eif­rig. Aga­the stick­te eine De­cke für Mama und wun­der­te sich da­bei über die Si­tua­ti­on im All­ge­mei­nen und im Be­son­de­ren über die selt­sa­men Gri­mas­sen, die Frau von Wo­szens­ka bei der Ar­beit ein un­be­wuss­tes Be­dürf­nis zu sein schie­nen.

Sie nann­te Aga­the so­fort mit dem Vor­na­men und »Du«. Auf die­se Wei­se gab sie ihr gleich ein Hei­mats­ge­fühl.

Der klei­ne Sohn Mi­chel kam aus der Schu­le. Er sah blass und müde aus. Frau von Wo­szens­ka schimpf­te auf die ver­rück­ten Schu­lein­rich­tun­gen. Sie schnarr­te das dop­pel­te »R« so ein­drucks­voll, dass der Laut förm­lich eine pa­the­ti­sche Be­deu­tung von Zorn und Lei­den­schaft er­hielt.

Die Kö­chin hat­te ihre Göt­ter-Schul­tern schon vor­her wie­der in blau­en Gin­gan gehüllt und brach­te dem Klei­nen die Sup­pe. Mi­cha­el reck­te sei­ne dün­nen Glie­der auf dem Stuhl vor dem Tel­ler und ließ die Win­kel sei­nes ein­ge­kniff­ten Münd­chens hän­gen. Er hat­te kei­nen Ap­pe­tit.

»Das Kind isst wie­der nicht … Ei­nem sein Kind in sol­chem Zu­stand nach Haus zu schi­cken!« mur­mel­te Frau von Wo­szens­ka. Sie ver­sprach Mi­chel, wenn er es­sen wol­le, zur Be­loh­nung »die trau­ri­ge Zie­gen­frat­ze« oder »die lus­ti­ge Moh­ren­frat­ze«. Die Orang-Utang­frat­ze, er­zähl­te sie Aga­the, dür­fe sie nur ma­chen, wenn es Kas nicht sehe – die wäre ihm zu un­äs­the­tisch.

»Mut­ter – jetzt hab’ ich ’ne när­ri­sche«, sag­te Mi­chel, »– – weißt Du, wie un­ser Klas­sen­leh­rer macht, wenn er Flie­gen aus den Tin­ten­fäs­sern fischt?«

Der Jun­ge nahm ein Stück­chen Brot, hol­te Reis­bröck­chen aus sei­ner Bouil­lon, schleu­der­te sie fort und mur­mel­te in­grim­mig:

»So ’ne Schwei­ne­rei – nee, so ’ne Schwei­ne­rei!« Er brach­te den Ei­fer und den Ekel ei­nes ver­trock­ne­ten Gym­na­si­al­leh­rer-Ge­sich­tes in er­staun­li­cher­wei­se zur Dar­stel­lung.

Sei­ne Mut­ter und Aga­the lach­ten laut auf. Frau von Wo­szens­ka schüt­tel­te sich vor Ver­gnü­gen, in ih­ren Au­gen fun­kel­te eine wil­de Ra­che­be­frie­di­gung.

»Fa­mos, Mi­chel! Noch mal! Das muss ich auch ler­nen!«

Mi­chels er­schlaff­te klei­ne Züge rö­te­ten sich, wäh­rend er und sei­ne Mut­ter die neue Frat­ze pro­bier­ten. »Du kannst’s, Du kannst’s!« schrie er be­geis­tert. »Jetzt esse ich auch mei­ne Sup­pe!«

Sich an der Dumm­heit, der Tri­via­li­tät, der Häss­lich­keit wie an ei­nem selt­sa­men Ge­nus­se zu er­göt­zen – das war die Wei­se, in der die drei ver­fei­ner­ten Men­schen sich ge­gen die­se Ge­wal­ten wehr­ten, wo­durch sie sich Frei­heit und geist­rei­chen Froh­sinn be­wahr­ten.

Nann­te Wo­szen­ski sei­ne Frau bei ih­rem Vor­na­men, so fand er es ent­zückend, dass die un­ge­wöhn­li­che Per­son, de­ren Be­we­gun­gen an ein ja­pa­ni­sches Göt­zen­bild er­in­ner­ten, wel­ches kur­z­es, krau­ses, nach al­len Sei­ten da­v­on­star­ren­des Ne­ger­haar be­saß und grel­le auf­ge­reg­te Au­gen – dass sie ge­ra­de »Ma­rie­chen« hei­ßen muss­te. Der Ge­gen­satz, den ihr schar­fes Or­gan und ihr Leip­zi­ger Dia­lekt zu sei­nem ge­wähl­ten, leicht von aus­län­di­schem Ak­zent be­rühr­ten Deutsch bil­de­te, hat­te viel­leicht auf den Ent­schluss, sie zu hei­ra­ten, ein­ge­wirkt, als ein sub­ti­ler und när­ri­scher Reiz. Ihm wa­ren die ge­sell­schaft­li­chen und künst­le­ri­schen Ver­hält­nis­se der Ge­gen­wart so zu­wi­der ge­we­sen, dass er ver­wun­det und er­mat­tet al­lem den Rücken ge­kehrt und sich bei ei­nem Ein­sied­ler auf Ca­pri in Kost und Woh­nung ge­ge­ben hat­te, als dem ein­zi­gen Men­schen, der sei­nen Ner­ven nicht un­er­träg­lich wur­de. Bis Ma­rie­chen kam und ihn sich durch ih­ren sieg­haf­ten Hu­mor in die Welt zu­rück hol­te.

Am Abend, wäh­rend das Ehe­paar mit dem jun­gen Gast in ih­rem Wohn­zim­mer saß, von des­sen De­cke eine Mes­sing-Lam­pe aus ei­ner Sy­n­ago­ge nie­der­hing, wo le­bens­große bunt­be­mal­te Kir­chen­hei­li­ge an den Wän­den lehn­ten und über den ge­fal­te­ten Hän­den Fet­zen von ja­pa­ni­scher Sei­de tru­gen, be­gann Herr von Wo­szen­ski aus je­ner Zeit zu er­zäh­len. Er war in ei­nem al­ten Pelz­rock ge­wi­ckelt, auf des­sen Schul­tern sein lan­ges, schon er­grau­en­des Haar Spu­ren ge­las­sen hat­te. Sei­ne aus­drucks­vol­le Künst­ler­hand lieb­kos­te den wir­ren Bart, und er rauch­te un­zäh­li­ge Zi­ga­ret­ten, wäh­rend er mit lei­ser be­deck­ter Stim­me sprach.

Bei Pa­ga­no war ein jun­ger Ma­ler ge­stor­ben. Er und ein paar an­de­re hat­ten sei­ne Lei­che zum Fest­land hin­über­ge­ru­dert … »Das Meer glänz­te still im frü­hen Mor­gen­licht wie so eine kost­ba­re Perl­mut­ter­scha­le – und auf der grau­en Flur trieb ein großer Strauß blass­ro­ter Ro­sen an uns vor­über – wir sa­hen sie im­mer auf- und nie­der­schwan­ken, mit der Be­we­gung der Wel­len. Und der schwar­ze Sarg im Boot war ganz be­deckt mit Ro­sen …«

*

Aga­the lag lan­ge wach auf dem un­ge­wohn­ten La­ger, in dem ihr noch frem­den Raum.

Sie hör­te das Mur­ren der Wo­gen zwi­schen Ca­pri und Nea­pel – sie sah die Ro­sen auf der sil­ber­nen Flut … Blut­ro­ter Sam­met ström­te über den Hochal­tar, En­gels­köp­fe um­gau­kel­ten sie … Und ein Sturm­wind vom Him­mel schau­er­te durch ihre See­le.

*

»Das Kind soll die alte Haupt­mann Gärt­ner be­su­chen, ihre Mut­ter kennt sie von frü­her. Ich will Mit­tag mit ihr hin­ge­hen. Du könn­test ’mal bei Lutz vor­spre­chen, Kas. Wir tref­fen uns dann.« So be­stimm­te Frau von Wo­szens­ka das Pro­gramm des Ta­ges.

Aga­the ver­spür­te Lust, sich zu put­zen. Sie nahm ih­ren neu­en Rem­brand­tut aus dem Kof­fer. Der Hut stand ihr rei­zend. Papa hat­te ihn zu auf­fal­lend ge­fun­den, aber Mama hat ge­meint, für die Künst­ler­stadt wäre so et­was ge­ra­de das Rich­ti­ge. Doch Frau von Wo­szens­ka trug sich sehr ein­fach – bei­na­he schä­big sah sie aus in ih­rer schwar­zen Tri­kot­blu­se.

Nein – Aga­the ge­nier­te sich … Frau von Wo­szens­ka wür­de sie für eine ober­fläch­li­che, eit­le Flie­ge hal­ten. Und man zog auch sei­ne bes­ten Sa­chen nicht so mir nichts dir nichts an, wenn man ge­ra­de ver­gnügt war, son­dern wenn die Ge­le­gen­heit es for­der­te. Die An­schau­ung war Aga­the nun ein­mal in Fleisch und Blut über­ge­gan­gen. Es tau­te über­dies und das Was­ser klatsch­te in großen Trop­fen von den schnee­be­deck­ten Dä­chern. Der Rem­brand­tut wan­der­te in den Kof­fer zu­rück und die Pelz­müt­ze wur­de auf­ge­setzt. Ganz nett sah sie ja so auch aus – wenn sie ein­mal nicht geist­reich und be­deu­tend sein konn­te, so war es doch recht an­ge­nehm, dass sie we­nigs­tens so ein hüb­sches Ge­sicht­chen hat­te. Frau von Wo­szens­ka tausch­te beim Früh­stück mit ih­rem Man­ne ganz bei­fäl­li­ge Be­mer­kun­gen über sie, ei­gent­lich ein biss­chen als wäre sie ein Bild, nicht ein le­ben­di­ger Mensch, der ei­tel wer­den konn­te. – – Merk­wür­dig lau war die Luft, ihre Win­ter­ja­cke wur­de Aga­the viel zu warm. Sie knöpf­te sie auf, denn sie hat­te schon so eine Freu­de, dass man sich hier in dem stil­len al­ten Städt­chen und bei Wo­szens­kis mehr ge­hen las­sen konn­te als zu Haus, wo man fort­wäh­rend Rück­sicht auf Pa­pas Stel­lung neh­men muss­te.

Wäh­rend des Be­su­ches saß sie nach ei­ni­gen von ihr be­ant­wor­te­ten Fra­gen still und hör­te auf Frau von Wo­szens­kas Ge­spräch mit der al­ten Dame. Al­les, was Frau von Wo­szens­ka sag­te, war Aga­the span­nend und merk­wür­dig, wenn sie auch nur, wie eben jetzt, von Dienst­bo­ten sprach.

»… Ja – ich woll­te mal ’ne So­li­de ha­ben. … Eine So­li­de!! sage ich zu Kas. Da neh­men wir eine, die ’n Kropf hat …«

Das »R« wur­de mit Lei­den­schaft ge­schnarrt. »Und een’ Bu­ckel! Ei­nen or­dent­li­chen Bu­ckel! – So. – Am ers­ten Sonn­tag kommt das Frau­en­zim­mer: ist zum Mau­rer­ball ein­ge­la­den. Willst Du nicht vor­her es­sen? fra­ge ich. Da stellt sie sich vor mich hin und sagt so ganz von oben – von oben her­ab – über den Kropf weg: Ich dan­ke – die Her­ren trak­tie­ren! – Nun habe ich aber eine Schö­ne! Die kann ich doch zum Mo­dell brau­chen!« Laut und tri­um­phie­rend schlug sie auf den Tisch.

Die Haupt­mann Gärt­ner mach­te ein Ge­sicht, als tue man ihr weh. Sie be­merk­te mit schwa­chem Lä­cheln, eine be­son­de­re Schön­heit kön­ne sie an Wo­szens­kis jet­zi­ger Kö­chin nicht fin­den – aber Künst­ler wä­ren in al­lem so ori­gi­nell.

Frau von Wo­szens­ka grins­te mit der lus­ti­gen Moh­ren­frat­ze zu Aga­the hin­über. Sie ver­ab­schie­de­te sich höf­lich und ver­si­cher­te, ihr Mann war­te schon un­ten auf sie.

Er kam aus der hö­he­ren Eta­ge und traf mit ih­nen auf der Trep­pe zu­sam­men.

»Da hab’ ich ja nicht ’mal ge­lo­gen!« rief die Ma­le­rin.

»Kommt doch einen Au­gen­blick her­auf, Lutz möch­te Dir sein Bild zei­gen. Das Ate­lier wird Fräu­lein Aga­the auch in­ter­es­sie­ren«, sag­te Wo­szen­ski.

»Sie wird sich doch nicht ver­lie­ben?« flüs­ter­te Frau von Wo­szens­ka und mach­te stren­ge Au­gen. »Kind – lass das lie­ber – der da oben ist nichts für Dich.«

Aga­the lä­chel­te, sie dach­te an Lord By­ron.

Ein jun­ger Mann hielt den Vor­hang, durch den sie ein­tre­ten soll­ten, zu­rück und nahm den Hut ab. Er war schon zum Fort­ge­hen ge­rüs­tet und trug Über­schu­he, die für sei­ne schma­le, dürf­ti­ge Fi­gur viel zu groß und plump er­schie­nen. Die Be­we­gung, mit der er grüß­te und hin­ter sei­nen drei Gäs­ten den al­ten Go­be­lin fal­len ließ, war von ei­gen­tüm­lich zar­ter, lie­bens­wür­di­ger An­mut.

Gabriele Reuter – Gesammelte Werke

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