Читать книгу Karibikstrand - Gabriele Ried-Hertlein - Страница 9
Der Schlachter Paul Pikle
Оглавление"Anzufreunden? ER! ER hat sich angefreundet!!!"
In zweiter Reihe. Da liegt er. Mit seinem roten Käppi auf dem Ochsenschädel und mit geschlossenen Augen. Und nur seine Frau Agneta neben sich.
Am Hotelpool für Normalbucher! Mittendrin! Kein Sonderplatz, ganz vorn vielleicht, mit extragroßem Abstand zu Normaltouris und zu Amerikanern, Kanadiern oder Argentiniern, die er sowieso nicht versteht und sie nicht ihn!
Und keinen seiner jahrelang hart umworbenen Clan-Mitglieder kann ich links und rechts von ihm ausmachen; keinen einzigen seiner Vasallen, die sich für die Gunst des frühen Handtuch-auf-Liegen-Reservierens und ein hoffentliches Zimmer-Up grade tagtäglich am gleichen Platz um ihn scharen sollten. Was muss da passiert sein?
"Und dieser Rollstuhl neben seiner Liege?"
"Gehört zu ihm", stellt Leo fest.
Er hat uns nicht gesehen, der Schlachter Paul Pikle. Der mit seinem Schlachthaus-Unternehmen in Travemünde vergeblich nach bestem Ansehen hechelt und hier im karibischen Paradies verbissen mit kaltem Herzen und süßlich butterweicher Gesichtsmiene sich den höchst-möglichen VIP-Thron krallt und seine letzte Chance auf Ehrenstatus mit gerissener Tücke und Fäusten verteidigt. Verließ als sechzehnjähriger Smutje unbemerkt den tschechischen Heimatfrachter an der Ostseeküste und kämpfte sich in das andere Leben in Travemünde. Mehr als Nahrung, mehr als echte Freunde, mehr als Sonnenschutz unter der heißen Karibiksonne braucht er die pfauenhafte Demonstration seiner einzigartigen Wichtigkeit hier.
Für sich, für seine abgestumpfte Agneta und für seinen devoten Anhängerclan:
„Paul, ehm, wann sollen wir morgen früh pünktlich zu Deiner oberen Terrasse in Deiner Suite heraufkommen zum gemeinsamen Sonnenaufgang-Anschauen?" "Anschauen? Du meinst Bewundern!" "Natürlich, natürlich. Ganz wunderbar wird das sicherlich morgen. Und Dein einzigartiger Blick von dort oben! …..Ehm,.....hast Du schon Deine Fühler ausgestreckt, wann wir bald umziehen können, als Upgrade für uns, in eine schöne Suite? Weil sich absolut nichts bewegt bei Raymondo und Santi an der Rezeption?"
"Ich bin so erleichtert, Leochen, das Drecks-Pickel-Gespenst dieses Jahr nicht in meiner Nähe zu spüren! Ich glaube, ich bin regelrecht high. Komm, lass uns hier zu Mittag essen. Wir werden sehen, ob das geht. Nur noch schnell die Hände waschen."
Ich ziehe die lilafarbene Tür 'für Damen' auf und knalle ausgerechnet mit Agneta Pikle, die gerade hinaus möchte, zusammen. Kein Wort sagen wir beide, als wir uns überrascht gegenüberstehen. Ein Blitz läuft ihr den Rücken herunter: "Gerade angekommen? Auch im neuen Hotel, wie wir?"
Ihr Wichtig-Pickel muss nachher sofort recherchieren, welches Up grade wir von Direktor Carlos erhalten haben.
Es war schon später Nachmittag, als wir nach dem Mittagessen wieder die vier Stockwerke zu unserer Suite hochliefen. Gleich zur Terrassentür, das Fliegengitter zur Seite geschoben und die Wendeltreppe hoch, um uns ermattet auf die beiden windgeschützten Liegen der oberen Jacuzzi-Terrasse zu werfen.
"Letztes Jahr wohnte der Pickel noch genau gegenüber", sinniert Leo, "wir im linken und er im rechten Flügel. Sichtkontakt, aber mit großem Abstand, den Garten und den Boulevard Gott sei Dank dazwischen."
"Wunderbar, dass ich sein blödes kariertes Hemd nicht mehr auf der Terrasse hin und her wedeln sehe. Seine Besetzer-Fahne. Ich fühle mich irgendwie unbeobachtet jetzt hier oben! Großartiges Gefühl und ich könnte direkt einschlummern vor Beruhigung!"
„Das Laufen zum neuen Quadrato-Kasten drüben macht Dich gleich wieder munter, Isa."
"So was kannst nur DU wieder meinen. Wir hatten schon wahrhaftig viel Bewegung heute!"
"Und Sport schadet nicht!", zuckt Leo die Achseln.
Geduscht, in das dunkelblaue Cocktailkleid geschlüpft, die Treppen runter, durch den abendlichen Park gestöckelt und hoch zu unserer prächtigen Lobby, um am Haupteingang gegenüber wieder hinauszuhuschen Richtung Neubau.
Geschäftige Schritte kommen von der Seite der Direktorenbüros direkt auf uns zu; den Kopf etwas zur linken Seite geneigt und den Blick immer wieder magnetisch nach unten gerichtet auf das Display seines Handys in seiner linken Hand. Stoppt blitzschnell vor uns ab und verbeugt sich militärisch knapp:
"Ehepaar Stern, Sie sind gestern angekommen. Ich begrüße Sie herzlich!"
Mit eingefrorenem geschäftlichem Gesichtsausdruck. Weil er eben Levy ist, der Businessdirektor. Für Levy aus Israel sind Gäste reine Umsatzzahlen in seiner Geschäftsbilanz. Und Levy ist Chef für alle, einschließlich seiner Umsatzzahlen.
"Wir sind gerade auf dem Weg zum neuen Hotel. WEIL WIR DORT ZUM ABENDESSEN EINGELADEN SIND!"
Leo gönnt sich diesen Report. Ich warte darauf, dass Levy jetzt unvermittelt in freundlichen Charme übergeht, wie ein cleverer Verkäufer, der seine Kunden nicht an die Konkurrenz verlieren will.
"Ach, da wohnt doch auch Paul!!"
Sein Businesskopf neigt sich wieder zur Seite in Erwartung, dass sich unser Gespräch ins Positive wendet beim Erwähnen des Urlaubersippenchefs.
FRONTAL UNGENIAL, Herr Businessdirektor, diese Überleitung! Meine linke Schulter zieht sich fragend hoch:
"Welcher Paul denn??"
"Der Paul Pikle. Der sitzt jetzt im Rollstuhl!"
Ist er wirklich so unsensibel, so gleichgültig und abgebrüht oder einfach vergesslich, welches Trauma dieser „Pickel" bei mir hinterlassen hat? Und hat er verdrängt, wie ungeschickt er selbst die ganze Geschichte im letzten Jahr angeheizt hat??
"Kommen Sie aber wieder!", unterbricht er unser Schweigen und schüttelt uns heftig mit fragenden Augen die Hand.
Und mir kommt der zusätzliche Koffer mit Baumaterial wieder in den Sinn, den ihm der Schlachter letztes Jahr für sein Privathaus auf der Insel mitbrachte. Material, das es in der Karibik nicht gibt, aber bei Hornbach, OBI, Toom und Bauhaus. Um sich seinen unübersehbaren High-VIP-Service zu sichern. Und die Freibriefe für seine Clan-Members, die nach seinem Anraten die billigste aller Kategorien buchen und mit devoter Anheftung an seine Seite in den Upgrade-Götterhimmel aufsteigen wollen. Wer im Clan aus dem Raster fällt, nur weil Melissa vielleicht mehr Suiten verkauft hat und Levys Jonglierfeld begrenzter wird, verfällt in tiefe Selbstzweifel und grüblerisches Misstrauen gegenüber anderen Suiten-Bewohnern.
Ich werde das selbstverleugnende Wohlverhalten nie richtig verstehen und warte auf den großen Knall. Eines Morgens - eines Abends - irgendwann, wenn es niemand erwartet hätte.
In zierlichen Pumps den langen Weg hinter zwei ROY-Hotels entlang zum Quadrato-Neubau, so etwas geht nur am Anfang eines Urlaubs, wenn die Füße noch nicht streiken. Die Kellner wuseln vor dem nagelneuen Restaurant, strecken uns gleich die Hände entgegen. Umarmungen, freudiges Wiedersehen.
Die VIP-Pikles sitzen nicht zu übersehen outside. Vor dem Restauranteingang, für den besten Überblick und mit besten Chancen, gesehen zu werden. Wie früher in seinem 'Levy'-Hotel.
Er stiert mich, sein besonderes Erlebnis vom Vorjahr, misstrauisch an, und auf seiner Schlachterstirn steht geschrieben: "Wenn die jetzt auch noch zum Abendessen kommen, dann gibt es keinen Zweifel, dass sie tatsächlich hier gebucht haben! Agneta hat Recht. Und ich habe noch nicht gesehen, welche Suite sie bekommen haben. Eine bessere als unsere??"
Langsam steht er auf, hebt sich an den Rollstuhlgriffen fest und schiebt ihn wie einen Rollator vor sich her. Schwerfällig, links, rechts. Sein Gang war schon vorher nicht gerade federnd. Das Becken einseitig rausgeschoben, die Schulter auf derselben Seite hochgezogen. Langsam, lauernd, als ob er auf der Hut sein müsste. Vor einem Angriff von irgendwo her.
Und seine groben Füße stecken wieder in knallroten weichen Outdoorschuhen. Die gleichen, die schon im letzten Jahr am gipsfreien Fuß getragen wurden, als er drei Wochen vor seinem Urlaub einen Unfall im Badezimmer hatte. Schlimm auf den Fliesenboden donnerte und sich den Fuß brach. So hatte es jedenfalls Agneta erzählt.
Paul Pikle schiebt sich hautnah an unserem Tisch vorbei. Versucht lauernd, Öl in Zornesgräben zu schütten.
Interessiert uns heute Abend nicht. Der Schlachter weiß nicht, dass wir nur ausnahmsweise und mit Einladung von Direktor Carlos hier essen.
Es geht uns prächtig gut!