Читать книгу Etwas Seltenes überhaupt - Gabriele Tergit - Страница 11
ОглавлениеDer Stammtisch ›Capri‹ in der Anhaltstraße und Das Wunderbare
Im Gegensatz zu Ullstein gabs bei Mosse keine Kantine. Kiaulehn organisierte zwei Treffpunkte. Erst das bescheidene Café Adler, dann einen Mittagstisch bei ›Capri‹ in der Anhaltstraße. Wir hatten einen großen runden Tisch am Fenster, nahmen italienische Kost zu uns, ein Viertel Chianti und hinterher Grappa. Dieses Gläschen mit der hellen schweren Flüssigkeit, bei der wir die Weltereignisse besprachen, war unser Symbol der Kameradschaft. Wir kamen aus allen politischen Lagern. Wir hatten alle nur einen Fachehrgeiz, wir wollten die Wahrheit sagen über irgendeine Ecke des Lebens, des Staates. Wir waren ein Stammtisch von Don Quixotes auf der Grundlage des festen guten Einkommens, das die großen Zeitungen zahlten.
An diesem Mittagstisch erfanden Olden und Kiaulehn Das Wunderbare. Propheten in deutscher Krise, besprachen es mit Ernst Rowohlt, der es entzückt verlegte. Es war das erste Buch dieses Stammtisches. Das zweite war mein Käsebier. Das Wunderbare war die Besessenheit des deutschen Volkes mit Hitler. Mein Roman, der Spaß über ein erfundenes Nichts, wurde viel erfolgreicher als die glänzende Darstellung echten Schwindels echter Schwindler. Olden versuchte es mit dem Wunderbaren im Leben der meisten Menschen, der plötzlich auftretenden Liebe, zu erklären. Aber wichtiger als Oldens hilflose Erklärungsversuche waren Tatsachen. Überall in Deutschland erhob sich uralter Aberglaube. Im Jahresbericht der evangelisch-lutherischen Landeskirche in Hamburg (1932) heißt es: »Scheinbar ist Hexenglaube im Zunehmen begriffen. Bei Erkrankungen von Mensch und Vieh wird oft ein Hexenmeister aus dem Alten Land geholt oder eine Frau zum Besprechen … In der Nähe von Hamburg hat die ländliche Bevölkerung eine Frau gemeinsam umgebracht, weil sie eine Hexe war.«
Alchemisten, Teufelsbeschwörer, Sterndeuter, Medizinmänner, die ganze mühselig gebändigte mittelalterliche Armee der Dummheit und Grausamkeit hielt Manöver ab bei elektrischem Licht, Staubsaugern und Zentralheizung. Man fühlte, es würde nicht mehr lange dauern, bis sie Scheiterhaufen errichten würden für Juden und Bücher, alles vernichten, was aufgebaut war mit so viel Blut, von Wyclif bis Lincoln, von Spinoza bis Montesquieu, gerechtes Gericht und die Sicherheit des Menschen in seinem Heim. Von der Freiheit, den Mund aufzumachen, wann man will, und Gedanken drucken zu lassen, die nicht die genehmigten waren, konnte man erst gar nicht reden. Es war eine religiöse Sehnsucht, die in die Irre ging. Eine Gutsbesitzerin in Ostpreußen schlug in einer Nazizeitung vor: »Wir alle sollten in unseren Wohnungen eine Führerecke einrichten. Das ist ganz einfach. Wir stellen ein Bild unseres geliebten Führers auf den Tisch, umgeben es mit Blumen und stellen zwei Kerzen davor.« Jahre vorher hatte man in Rußland, völlig in der alten Art, Altäre für Stalin errichtet mit Blumen und Kerzen.
»Du sollst dir kein Bildnis machen und keinerlei Gestalt, du sollst dergleichen nicht anbeten und dich nicht vor ihnen verneigen.« Um dieses Gesetzes willen war Jerusalem zerstört worden. Denn die Juden wollten sich nicht vor dem Bild des Cäsars neigen und die Christen starben zu Tausenden um des gleichen Gesetzes willen. Dieses Gesetz hatte die Antike zerstört. Es war ein wichtiges Gesetz. Diesmal hieß das Bild des Cäsars Führerecke. Wenige Jahre später beteten die Kinder zu Hitler: »Händchen falten, Köpfchen senken und an Adolf Hitler denken.«
Kiaulehn, der rationale Berliner, schilderte die wunderbaren Heilungen durch die Hartwig Quelle, die nichts anderes war als Berliner Leitungswasser auf Flaschen gefüllt, Olden die von Weißenberg mit weißem Käse, Rafael Hualla, ein Wiener Journalist, die Heilung, die Zeileis in Gallspach mit Hochfrequenzstromschlägen besonders auf das nackte Gesäß erreichte. Alle drei heilten nicht wenige, sondern Zehntausende. Zeileis machte Gallspach mitten in der Krise zu einer blühenden Stadt. Olden, der dem Wunderglauben an Hitler beikommen wollte, wußte nicht, daß Hualla selber sein Hakenkreuz unterm Revers trug. Werner Richter, Korrespondent des Berliner Tageblatts in München, berichtete, daß sich Ludendorff und Angehörige fürstlicher Häuser einen Goldmacher hielten, der noch dazu Tausend hieß. A.H. Zeiz von der Lokalredaktion schrieb über Spiritisten und andere Okkulte. Er, der mit der jüdischen Bobby Segal verheiratet war, hatte plötzlich unter den Nazis unter dem englischen Namen Frazer großen Erfolg mit seinen Stücken. Für mich ist die besonders nette Bobby unvergeßlich mit dem Winter 1916/17 verknüpft. Im Vorplatz ihrer Mutter hing etwas Leuchtendes. Es war ein Samtmantel von einem hellen Grün. Es gab nichts mehr, weder solche Mäntel noch solche Farben, noch Gelegenheiten, wo man solche Mäntel hätte tragen können. Wir waren drei junge Mädchen, wir sahen auf diesen Mantel wie auf das Symbol unserer ungelebten Jugend. Keine von uns hat diesen Mantel vergessen. 1948 auf meiner Reise von Berlin nach Hamburg traf ich Zeiz und fragte unüberlegterweise nach Bobby: »Fragen Sie bitte nicht«, sagte er. Ich hörte später, vergast.
Oldens geschiedene Frau schrieb, leider mit etwas billiger Ironie, über Christian Science. Ein weiterer Redakteur des Berliner Tageblatts, ein Inder, Ayi Tendulkar, schrieb im Wunderbaren über Krishnamurti. Tendulkar war mit der sehr blonden Tochter des Universitätsprofessors der Kunstgeschichte Schubring verheiratet. Er schrieb böser über Krishnamurti als irgendeiner der anderen über irgendeinen der anderen: »Es heißt, in ihm seien Buddha und Christus wiederverkörpert. Christus und Buddha, nicht mehr, aber auch nicht weniger … Vor allem ist genug Geld da. Das ist eine bedeutungsvolle Tatsache aus dem Komplex des Wunderbaren, es ist immer Geld da.«
Dasselbe stellte Rudolf Kalmar über den Entdecker der Raumkraft, Schappeller, fest, den das Kaiserpaar in Doorn großzügig unterstützte. Tendulkar schrieb bitter: »Krishnamurti, dieser einfache und bedürfnislose Mensch, der seine Schuhe selber putzt, ist im Hotel Kaiserhof abgestiegen.« Der Kaiserhof war ein Luxushotel, Hitlers Hauptquartier. Tendulkar, den ich auch für einen ungewöhnlich schönen Mann hielt, hatte den Humor, im Berliner Tageblatt zu schreiben: »Wir wollen nicht mehr romantisch bewundert werden, weil wir geheimnisvolle schwarze Augen und eine schöne braune Haut haben. Dreihundertsechzig Millionen haben solche schwarzen Augen und solche braune Haut.«
Als er sich im ›Capri‹ Schweinefleisch bestellte, sagte ich: »Was, Sie essen Schweinefleisch, ein Hindu?«
»Und Sie, eine Jüdin.«
»Wir leben, eine winzige Minderheit unter einer Schweinefleisch essenden Mehrheit; ich habe ja auch meine Weltanschauung nicht wie Sie als handgesponnenes Taschentuch aus meiner Jackentasche hängen.«
Ich fragte ihn auch einmal, ob er Kinder habe.
»Kinder? Ich ein Brahmane, von einer Europäerin? Nein!«
Es war wenige Tage später, daß der Nazischriftsteller Hans Zehrer, der sich in eine Jüdin verliebt und sie geheiratet hatte, auf dieselbe Frage geantwortet hatte: »Wie können Sie glauben, daß ich Judenkinder in die Welt setzen werde.«
Wilhelm Scheuermann, ein täglicher Stammtischler, der nach 1933 Die Geschichte des Hakenkreuzes veröffentlichte, schrieb in Das Wunderbare über »Vollmond statt Kali, Landwirtschaft ohne Düngemittel«. Hier begann der Konflikt. Es war in der Natur, wo man das Wunderbare dann doch nicht einfach abtun konnte, weil wir zu wenig wissen. Warum bekommt ein Stückchen Zweig, das auf die Erde fällt, Wurzeln? Dieses Buch, so wichtig, so aufschlußreich, ist nie wieder aufgelegt worden.
Viele kamen gelegentlich an diesen Stammtisch, zum Beispiel Prinz Hubertus Löwenstein, es kam Wandt, ein dicker blonder bleicher Mensch, tief verbittert, er grüßte kaum, er saß dabei und trank Grappa. Er war zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt worden, weil er in seinem Buch Etappe Gent die Belgier genannt hatte, die den Deutschen geholfen hatten. »Sollte unsere Regierung«, heißt es in dem Urteil eines deutschen Gerichts 1923 »einmal in die Lage kommen, sich für ihre Zwecke der Hilfe jener Männer von neuem bedienen zu müssen, was bei einer Veränderung der gegenwärtigen politischen Lage leicht eintreten kann, so würde ihr das durch diesen Verrat bedeutend erschwert sein.« Das bedeutete nichts anderes, als daß fünf Jahre nach dem verlorenen Krieg von Kreisen des Reichsgerichts ein neuer Einmarsch in Belgien für möglich gehalten wurde.
Das Obige schrieb ich vor vielen Jahren. Dann, nach einer Vorlesung im Emigranten-Klub 1943 sagte Hans Jaeger, der unvergeßliche Leiter des Klubs, zu mir: »Ich dachte gerade, von Wandt spricht keiner mehr, als Sie von Wandt anfingen.« Das war Anfang der siebziger Jahre. Aber ein halbes Jahrhundert in England hat mich gelehrt, daß die Freiheit in diesem geheimnisvollen Land auf einer eisernen Disziplin beruht. Es gab nie eine Zensur im Krieg, eben weil es diese Disziplin gibt. Vielleicht, aber ich bin nicht ganz sicher, könnte man sie Patriotismus nennen. Jedenfalls haben alle Demokratien Vertrauensleute in andern Ländern. Die Namen dieser Vertrauensleute zu veröffentlichen ist Landesverrat und wird bestraft.
In unsern Stammtisch kam Werner Hegemann, der große Architekt und Schriftsteller, der Vorkämpfer der Gartenstadtbewegung, der Verehrer Ebenezer Howards und des englischen Einzelhauses: »Die Geschichte des englischen Städtebaus wirkt wie ein erfolgreicher Kampf um den Sieg der anständigen Gesinnung, die in dem Elisabethanischen Erlaß von 1580 zu Worte kam.« Der Sieg der unanständigen Gesinnung war für ihn verkörpert in Friedrich des Großen Hypothekenordnung, die aus Berlin eine Mietskasernenstadt gemacht hatte, nicht mit fünfzig Menschen auf dem acre wie in England, sondern mit fünfhundert! Es gab keine Slums für ihn in England, denn, verglichen mit den Mietskasernen des Kontinents, waren sie anständige Menschenwohnungen. Hegemann hatte die großen internationalen Städtebauausstellungen in Boston und Berlin 1909, in London und in anderen Städten geleitet. Er hatte gehofft, daß ein großes Wohnungsbauprogramm den Weltkrieg aufhalten würde, »indem es den später verpulverten Milliarden sehr viel nützlichere Verwendung schaffen würde, als der Weltkrieg nachher zu bieten vermochte«, wie er sagte. Und dann endlich hatte sich ein Teil seiner Hoffnungen verwirklicht in den Bauten der Berliner sozialdemokratischen Stadtverwaltung zwischen 1920 und 1930, Bauten, die in die Architekturbücher der ganzen Welt übergegangen sind. Diese Stadt Berlin war zweihundert Jahre lang ein Ausbeutungsobjekt der preußischen Könige gewesen, in ihren Freiheiten beschränkt, in ihrer Ausdehnung behindert, ihrer grünen Lungen beraubt. Das Resultat war, daß sie die entsetzlichsten Wohnungsverhältnisse aller Großstädte hatte, daß 1912 sechshunderttausend Menschen in Wohnungen wohnten, in denen jedes Zimmer mit fünf bis dreizehn Menschen belegt war, und daß Berlin, als einzige aller Weltstädte einen Sterbeüberschuß hatte. Und was für gemeine Dinge geschehen waren: die Berliner Straßenbahn wurde in ihrem Ausbau beschränkt, damit sich die Grundstücke in der Innenstadt nicht entwerteten.
In der armen Weimarer Republik bekamen es dann die Sozialdemokraten fertig, sechsundvierzig Quadratmeilen für die Bevölkerung zu erwerben und Gartenstädte zu bauen, zum Beispiel die berühmte Hufeisensiedlung von Britz. Es war Kiaulehn, der uns zum erstenmal die Nachteile einer solchen Siedlung darstellte, sehr geringe Nachteile, verglichen mit den Mietskasernen. »Da möchte man lesen«, sagte Kiaulehn, »aber man kann nicht, man muß Gras schneiden, und wenn man zum Bahnhof geht, kommt sicher ein Nachbar, der einen ermahnt: ›Gar kein Gemüse? Aber das geht doch nicht. Und Sie müssen auch düngen.‹ Und dann kommen Rechnungen, Rosenbüsche und Stangen und Bohnensamen und Rasenschneidereparatur. ›Wenigstens zwei Rosenbüsche …‹, sagte der Nachbar, also Rechnung für Rosenbüsche.«
Später in angelsächsischen Ländern mit ihren Gartenstädten hörten wir mehr dieser Klagen, jedermann ein Zwangsgärtner.
Die Sozialdemokraten errichteten zum erstenmal in Berlin Spiel- und Sportplätze. Die Kosten, gemessen am Gesamtetat Berlins, waren winzig, nämlich 0,07 %. Schöpfer dieses neuen Berlin waren kleine Leute, ehemalige Buchdrucker und Werkmeister, zum Beispiel Stadtrat Busch. Sie waren die echten Fortschrittler, nicht die veralteten Kommunisten, die die scheußliche Erfindung der Neureichen, den Kurfürstendamm von 1900, im Osten wiederholten und Stalinallee nannten, natürlich auch für die Neureichen. »Nur für Sachsen«, sagte uns ein Ostberliner, »unsereiner hat da nischt zu suchen.«
Die treuesten täglichen Stammtischler waren keine Beiträger zum Wunderbaren, aber zur Weltbühne: Dreyfus und Berthold Jacob, beide unabhängige Sozialisten. Jacob hatte nur ein Thema, das war die heimliche Reichswehr. Er und sein Bruder Hans Roger Madol waren die verschiedensten Brüder, die ich je kennengelernt habe. Madol hatte seinen Namen von seinem französischen Lehrer der Geschichte bekommen. Er machte die Fürsten Europas zu seinem Thema. Er hat einmal Heinz und mir in seinem Heim im Londoner Richmond eine brillante Studie über den Fürsten Ferdinand von Bulgarien vorgelesen. Der Unterschied zwischen den Coburgern und den Dänen, die zwei Häuser, die noch Könige lieferten, war für ihn faszinierend. Berthold Jacob war der echte Jakobiner, bereit, sämtliche Idole seines Bruders in irgendeine Verbannung zu schicken. Die beiden so verschiedenen Brüder waren grundehrlich. Berthold war ein David, der mit seiner Füllfeder gegen den Goliath Deutsche Reichswehr anrannte, völlig im Zug der Zeit Pazifist und Marxist. Madol liebte die europäischen Fürstenhäuser mit echter, im ganzen kritikloser Liebe. Es war leicht komisch, wenn ein Historiker nach 1918 die Dynastien als sein Thema wählte. Für Madol bewährte sich sein Puschel, er lebte mit den Großen, besichtigte die Welt – es wurde festgestellt, daß der europäische Hochadel erstaunlicherweise seinen Reichtum behalten hatte, führte ein volles Leben. Berthold war immer arm, im Gefängnis, in Gefahr. 1934 wurde er von der Gestapo aus der Schweiz entführt. 1934 gab es noch eine europäische Moral. Die kleine Schweiz setzte durch, daß Jacob entlassen wurde. Der Aufruf an Deutschland war ein großartiges Dokument. Ich erinnere mich nur noch daran, daß die Schweiz mitteilte, daß Europa sie zum Hüter der Alpenpässe erwählt habe, daß sie ein freies und unabhängiges Land bleiben müsse, um diese Aufgabe zu erfüllen, und daß Europa Menschenraub auf dem Boden dieses wichtigen Hüters nicht dulden könne. Berthold Jacob wollte nur das Beste, aber als er 1934 entführt wurde, fand man sein Notizbuch mit allen unseren Adressen bei ihm. Alle, die in Deutschland geblieben waren, kamen ins Gefängnis oder gar ins KZ. Auch Kiaulehn hatte schwere Wochen. 1941 ging Jacob in Lissabon zum amerikanischen Konsulat, um sich nach seiner Schiffspassage zu erkundigen. Was nur in ganz wenigen Fällen in Lissabon vorkam, Jacob verschwand. Kein Zweifel, daß in diesem Fall Portugiesen und Deutsche zusammenarbeiteten. Man hat nie mehr etwas über sein Schicksal gehört.
Es kamen auch ausländische Journalisten an unseren Tisch. Knickerbocker, dessen Buch Deutschland so (Hakenkreuz) oder so (Hammer und Sichel) ein Bestseller war. Er hatte in ganz Deutschland vom Untergang an den Reparationen gehört, (zum Beispiel hatte Reusch, der Generaldirektor der Gutehoffnungshütte, gesagt: »Wenn Frankreich nicht unsere politischen Schulden streicht, stehen wir Deutschen vor einem geistigen Zusammenbruch.«) Von Knickerbockers Tatsachen wurde nicht Notiz genommen: deutsche Stahlausfuhr dreimal so groß wie die amerikanische, Stickstoffwerke allein könnten Reparationen decken. Beruhigend war aber sein Besuch bei Klagges: »Bürgerkrieg, Blutvergießen und Anarchie: das ist es, was viele unter den Gegnern der Nationalsozialisten dem deutschen Reich für den Fall prophezeien, daß Hitler ans Ruder kommt. Umsturz der internationalen Vereinbarungen, wirre Verhältnisse auf dem Kontinent, vielleicht ein Revanchekrieg.« … Und nun will er den Amerikanern die Wahrheit sagen:
»Der einzige Nationalsozialist, der bereits an der Macht ist, erwies sich als eine humorvolle und ausgeglichene Persönlichkeit mit überraschend gemäßigtem politischen Standpunkt, dessen Hauptneigung nur schwer mit dem Ruf der Nationalsozialisten, blutrünstig zu sein, in Einklang zu bringen ist, diese Neigung galt seinen fünf Kindern … Die meisten Hitlerianer tragen angeblich Schlagringe. Der hier hatte einen Ehering an der Hand. Die meisten Hitlerianer sind angeblich überaus brutal. Dieser hier sieht dem liberalen und menschenfreundlichen Herausgeber der New Republic, Mr. Bruce Bliven, so ähnlich, daß er sein Zwillingsbruder sein könnte … Der Besuch in der Wohnung des Herrn Klagges hatte eine ebenso beruhigende Wirkung wie die Unterredung mit ihm. Vater Dietrich, Frau Mali und die fünf kleinen Germanen mit den ganz germanischen Namen, Ingrim, Hugdietrich, Irmhild, Rainer und Waltraut boten ein Bild des Familienglücks, das unmöglich mit den Vorstellungen in Einklang zu bringen war, die man sich nach den Karikaturen gemeinhin von den Nazis macht.« Trotz dieses Quatsches ist Knickerbocker ehrlich genug, die Sturmabteilungen zu erwähnen, und trotz der »Gesetzesfürchtigkeit und Ordnungsliebe des deutschen Volkes« seien Morde vorgekommen, aber immerhin auch bei Klagges habe er jene Redlichkeit gefunden, die die Zinsen für die amerikanischen Anleihen bezahlen würde. Auch der französische Journalist Kessel sagte mir am Telefon, als ich ihn warnen wollte, daß Göring ganz ungewöhnlich angenehme Manieren habe. Im Gegensatz zu mir schien er sagen zu wollen. Ich dankte und legte den Hörer auf.
Was konnten diese unabhängigen Deutschen erwidern, wenn Amerikaner und Franzosen andeuteten, die Nationalsozialisten schienen doch gar nichts anders zu wollen, als den schandbaren Versailler Vertrag zu revidieren, die Größe ihres Vaterlands, den Deutschen wieder Selbstachtung zu geben. Sehr schwer zu sagen: »Das sind Gangster. Sie irren sich.«
Komisch war auch, daß unsre angelsächsischen Besucher so entsetzt waren über Dinge, die sie in Paris ganz selbstverständlich fanden. »Pre-Hitler Berlin was a sink of iniquity. The fingers of any moderately fussy patriot must have itched to springclean it. Its male prostitution alone with their india rubber breasts and padded hips – the fair hostesses of Eldorado – were a standing invitation to the puritan to organize a ›March on Berlin‹«, schrieb Wyndham Lewis. Ich weiß nicht, wer in Londons Fleet Street den Tip »Eldorado« und »Mali und Igel« gegeben hat, aber genauso gut hätten wir alle einen Falschspielerklub in Soho als Charakteristikum von London ansehen und finden können, deswegen müßte die englische Demokratie gestürzt werden.
»Eldorado« und »Mali und Igel« waren, am Gesamtbild dieser gewaltigen Stadt gemessen, irrelevant, genauso irrelevant wie Isherwoods Hurenpension in der berüchtigten Motzstraße. Das Allerkomischste dieser Überbewertung ist, daß bei Isherwood aber auch die Journalistinnen, die von ihren Besuchen im Eldorado und Mali und Igel erzählten, Kommunisten waren. Die freundliche Unterstützung der Nazis haben solche Schriftsteller ausgezeichnet vorbereitet. Wenn man in der angelsächsischen Welt kratzt, kommt kein Barbar, sondern ein Puritaner heraus. Die wirklich gefährlichen und unsittlichen männlichen Prostituierten waren jene Naziführer, die von den angelsächsischen Literaten für Patrioten gehalten wurden im Gegensatz zu den Leuten an unserem Stammtisch, die nichts waren als »zersetzende Elemente«.
Im Winter 1932, November oder Dezember, trafen wir uns noch einmal nicht im, aber am ›Capri‹. Olden, Kiaulehn, ich standen in einem Hausflur und sahen hinüber auf unser ›Capri‹, das ein SA-Verkehrslokal geworden war. Wir waren vertrieben, bevor wir noch vertrieben waren.
Niemand hatte daran gedacht, von der Wand hinter dem Tisch die Ansichtskarten eines großen Teils der europäischen Intellektuellen zu retten, die sie an uns geschrieben hatten.