Читать книгу Etwas Seltenes überhaupt - Gabriele Tergit - Страница 14

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Der Anfang des Endes

1918 ging ich durch einen unvorstellbar wunderbaren Wald.

Plötzlich sah ich ein Gasthaus. Ich öffnete die Tür. Es war völlig überfüllt, aber ich fand noch einen freien Stuhl. Es roch nach Kaffee. Ich kam aus Berlin. Das gab es also noch. Eine Kellnerin trug eine Schokoladentorte mit ziemlich großen Tortenstücken. Ich traute mich nicht, mir eins geben zu lassen. Ich war an das alles nicht gewöhnt. In der Eisenbahn zurück nach Dresden sprachen eine Dame und ein Herr von Tennis.

Da wußte ich, es war etwas geschehen in der Welt. Vor dem Bahnhof sagte ein Arbeiter zu mir: »Wir sind irregeführt worden.«

Als ich in das kleine Hotel auf dem Weißen Hirsch bei Dresden kam, hörte ich laute Stimmen. Die Gäste sprachen aufgeregt miteinander. Ein Herr von den Leunawerken sagte: »Es ist ja unmöglich, daß wir Longwy und Briey aufgeben.« Ein Offizier sagte: »Das würde ja unser ganzes Schützengrabensystem auflösen.«

Alle riefen durcheinander: »Wir können Nordfrankreich nicht aufgeben.« »Räumen!« rief einer. »Deutschland hatte immer zu viel Kohle und zu wenig Eisenerz.« »Na selbstverständlich behalten wir die französischen Erzgruben.« Die Tochter des Direktors des berühmten französischen Gymnasiums, einst für die Hugenotten in Berlin errichtet, Hauchecorne, rief: »Die Armee muß nach Tirol zurückgezogen werden und von dort weiterkämpfen.« Schließlich erfuhr ich, was geschehen war, Waffenstillstand! Ich fuhr sofort nach Berlin zurück. Dort erfuhr ich, daß Walther Rathenau einen Aufruf erlassen hatte: »Bürger zu den Waffen!« Nach berühmtem Vorbild: »Aux armes, citoyens!« Noch Brüning schreibt in seinen Memoiren von einem Durchbruchsversuch – Versuch des Feindes. Der Bruder seiner Mutter, der jahrelang mit seinem bayerischen Regiment in den Vogesen gelegen hatte, sagte ein paar Monate später: »Nicht an Schuß hams abzufeuern sich getraut, die Franzosen, und dann verraten uns die Berliner.« Noch 1948 sagte der vorzügliche Walther von Hollander, der in keiner Beziehung ein Nazi war, zu mir, daß Ludendorff infolge eines Autounfalls 24 Stunden eine Art Nervenzusammenbruch gehabt habe und darum überflüssigerweise einen Waffenstillstand verlangt hätte. Der Skandal wäre, daß ihn keiner gehindert hätte, also nicht eine Vertretung oder Ersatz für ihn vorgesehen war.

Der allgemeine Glaube an das unbesiegte deutsche Heer ist von den allerverschiedensten Leuten auf die allerverschiedenste Weise ausgedrückt worden. »Das deutsche Volk hat das große historische Verdienst und wird es behalten, den Krieg beendet zu haben.« »Der Sturz des blutigen Tyrannen Krieg durch den Entschluß einer sich selbst opfernden Nation«, »ja ›Die Waffenstreckung der Deutschen‹ wird sogar als ›Rettung der abendländischen Kultur‹ gepriesen.« Das viel gebrauchte Wort von den »Novemberverbrechern« und von dem »Dolchstoß von hinten« wurde von Nationalisten gegen Kommunisten gebraucht, später fast nur noch ironisch und verspottend, wenn auch mit furchtbaren Folgen.

Erst aus Brünings Memoiren hat der Durchschnittsmensch erfahren, daß Ebert um die Erhaltung der Monarchie gekämpft hat, daß es Hindenburg war, der dem Kaiser riet nach Holland zu fliehen.

Ich erfuhr von einer militärischen Niederlage erst 1939 in unsrem Londoner Emigrantenzimmer während einer Unterhaltung von Heinz mit Hans Jaeger, die beide vor Verdun gewesen waren. Die beiden Männer waren fassungslos. Heinz sagte: »Na, was hast du dir denn vorgestellt?« Und zu Jaeger: »Na, was sagen Sie, hier bei uns im Zimmer?« »Haben Sie an den Dolchstoß von hinten geglaubt?« fragte Jaeger. »Ich dachte, dieser Hungerwinter 16 auf 17, die entsetzlichen Verluste, Verstümmelte, Blinde, dieses Elend, die Bevölkerung wollte nicht mehr.« Ich veröffentlichte darüber einen Artikel im Daily Telegraph, nicht über den Schwindel des Dolchstoßes von hinten, sondern über diese ehrliche Unkenntnis von Millionen.

Obwohl der Brief ungezeichnet war, erkannte ihn Olden sofort als von mir: »Nur ein bißchen übertrieben, aber im Grunde richtig.«

Die Wahrheit war ganz anders. Weder ein Matrosenaufstand in Kiel noch, wie Brüning meint, das Unglück des Friedens an der Ostfront, der die von Bolschewismus infizierten Divisionen nach dem Westen brachte, noch konnte der einzige Liebknecht die ganze deutsche Armee zu einem Waffenstillstand zwingen.

1903 hatte H. G. Wells in einer Geschichte The Land Ironclads den Tank erfunden, den der englische Generalmajor J.F.C. Fuller militärisch brauchbar machte. Am 8. August 1918 kam der erste Tank (Panzer) – Angriff der Welt aus Villers-Cotterêts, der den deutschen Rückzug zur Flucht machte, so daß Hindenburg und Ludendorff Ende September 1918 telegraphisch um einen Waffenstillstand binnen achtundvierzig Stunden baten. Nichts da von »Novemberverbrechern«, die den Krieg verloren, sondern eine handfeste Niederlage durch eine neue Waffe. Ludendorff, mit einer schwarzen Brille verkleidet, flüchtete nach Schweden und bürdete seine Niederlage dem Volk auf. Man vergleiche das mit dem russischen General Samsonow, der nach seiner Niederlage bei Tannenberg weder Niederlage noch Verantwortung leugnete und sich erschoß. Als Hindenburg erklärte, er werde die deutschen Truppen zurückführen, herrschte Begeisterung und tiefe Dankbarkeit. Leute sprachen sich auf der Straße an: »Hindenburg bringt die Truppen zurück, doch großartig!«

Man kann die Wahl Hindenburgs zum Reichspräsidenten nicht verstehen, wenn man sich nicht dieser tiefen Dankbarkeit dafür, daß ein General bei seinen Truppen bleibt, erinnert. Er blieb übrigens ein siegreicher General, der Sieger von Tannenberg, obwohl er den Krieg verloren hatte. Aber der Krieg galt im Volksbewußtsein nie für verloren.

Die Waffenstillstandsverhandlungen wurden auf französischer Seite von dem unbeliebten Marschall Foch geführt. Auf deutscher Seite stand nicht Feldmarschall Hindenburg, sondern das Oberkommando wählte den Vorsitzenden der Zentrumspartei Matthias Erzberger. Erzberger hatte 1917 im Vatikan sehr beunruhigende Nachrichten bekommen, daß Deutschland nicht mehr siegen könne. Zentrum und Sozialdemokraten brachten daraufhin im Reichstag den Friedensvorschlag des Papstes vor, der von dem nur kurz amtierenden Reichskanzler Michaelis abgelehnt worden war. Aus dieser Verbindung bei der Friedensresolution 1917 ging die Koalition, die die Weimarer Republik regierte, hervor. Hindenburg umarmte Erzberger bei Erteilung des Auftrags mit Tränen in den Augen. Erzberger war ehrgeizig und lehnte nicht ab. Bei Bernhard Menne in einem genialen, im zweiten Weltkrieg herausgebrachten Heftchen The Case of Dr. Brüning (Hutchinson, London), in dem schon das meiste steht, das dreißig Jahre später aus Brünings eigenen Memoiren hervorgeht, steht der erschütternde Satz: Erzberger hätte genauso gut das eigene Todesurteil unterschreiben können. Es ging noch über den »verschenkten Sieg«, »das unbesiegte Heer« hinaus. Er wurde sofort beschuldigt, um des persönlichen Vorteils willen das unbesiegte Heer dem Feinde ausgeliefert zu haben. Dazu trug seine törichte oder auch nur taktlose Eintragung in einem Fremdenbuch bei: »Erst mach dei Sach, dann trink und lach«. Zum Trinken und Lachen war der November 1918 wirklich nicht die richtige Zeit. Aber Todesstrafe für Taktlosigkeit? Ein Wort von Hindenburg, ein einziges Wort, daß er ihn geschickt habe, hätte genügt. Das Wort kam nie, und Erzberger wurde bald ermordet. Zentrum und Sozialdemokraten hatten kaum eine Chance, bis es damit endete, daß Goebbels sagte: »Zentrum steht Schmiere bei Rotmord.«

Der Kommunist Ratschek und der Sozialdemokrat Schulze waren endgültig auseinander. Sie erinnerten sich nicht mehr, daß sie zusammen auf die 534. Gemeindeschule gegangen waren, und sich noch vor kurzem für anständige Kerle gehalten hatten, denen man zur Wiedererlangung eines von den Nazis geklauten Trommelschlegels hilft. Die Kommunisten hatten Stalins Befehl, die Sozialdemokraten Faschisten zu nennen, zwar mit sozial davor, aber das nützte nichts. Sie wurden auch Verräter an der arbeitenden Klasse genannt. »Rauferei« wurde zur »Saalschlacht«, führte zu hundertachtzig Toten im Jahr und zu vierzig Verletzten am Tag. Die Krankenkasse der Nazis hieß »Verwundetenhilfe«. Wenn man Berliner Arbeiter fragte, was die Nazis wohl vorhätten, sagten sie: »Die Krumme Lanke (bei Berlin) gradezuziehen« und »den Schwarzwald weiß anzustreichen«. Ein Nazi, gefragt, was sie mit der Macht vorhätten, antwortete: »Festhalten.« Das war von Anfang an klar, daß sie ebensowenig je freiwillig zurücktreten würden wie die Kommunisten. Carl von Ossietzky, der Herausgeber der Weltbühne, drückte es unübertroffen aus: »Der Stalinismus in seiner Unfähigkeit, die demokratisch-republikanischen Traditionen Europas zu verstehen, hat überall auf den faschistischen Nationalismus gesetzt.« Trotz dieser Klarheit hatte Ossietzky nie aufgehört, für ein Zusammengehen von Kommunisten und Sozialdemokraten, die sogenannte »Volksfront« zu kämpfen, da er den Klassenkampf für ein Naturgesetz hielt. Dem Tod von fünfzig Millionen Menschen, den Gebombten aller europäischen Städte – angefangen mit dreißigtausend in einer Nacht in Rotterdam, weiter: ein Teil der Leningrader Bevölkerung verhungert, zwanzig Millionen Russen, mit der permanenten Folge, daß die europäischen sich ständig gegenüber den asiatischen Russen vermindern, zwei waffenlose Völker (Juden und Zigeuner), die Erwachsenen und Kinder vergast, die Kleinkinder in Säcke gepackt und lebendig verbrannt – dem Untergang Preußens, dem geteilten Deutschland und Indien, der übereilten Rückgabe der holländischen, französischen, britischen Kolonialreiche an die Bewohner ging, da alles erst in den Köpfen von Menschen anfängt, weltweite Geistesverwirrung voraus. Die russische Revolution ist die seltsamste aller Zeiten. Revolutionen hatten, vom Spartakus an, stattgefunden, um Macht zu beschränken, religiöse, verwaltende, richterliche, die des Eigentums; die russische Revolution, »die tollste intellektuelle Niederlage der Weltgeschichte«, wollte das Gegenteil. Nach einem Bürgerkrieg mit einer Million Gefallener übergaben die Sieger demütig alles, was auf der Erde stand und wächst und darunterliegt, dem Staat als Alleinbesitzer, ohne diese Allmacht, früher Absolutismus genannt, im geringsten zu beschränken, und das alles unter lauter falschen Voraussetzungen, nämlich daß der Staat nur die Gesamtheit der einzelnen Bürger ist, also jeder den gleichen Anteil an diesem Staatsbesitz hat. Dieser Staat in Gestalt Stalins ließ zwar vier bis fünf Millionen russische Bauern verhungern, richtete Arbeitssklavenlager ein, richtete Massen hin, aber Stalin war, nach Herkunft und Gewohnheiten – er schob die Papiere zusammen und aß auf der Ecke seines Arbeitstisches – ein Proletarier, das heißt das neue Vorbild.

Die deutschen Arbeiter waren seit einem halben Jahrhundert für Alter und Unfälle versichert, es gab Krankenkassen, alles ziemlich jämmerlich, nicht zu vergleichen mit der englischen Krankenversorgung, die ja eben auch die Kraft des Staates übersteigt, aber immerhin gab es in Deutschland eine gewisse Versicherung gegen die Wechselfälle des Lebens, bezahlt in verschiednen Prozentsätzen von Staat, Arbeitgeber und Arbeiter selbst. Das hatten die deutschen Arbeiter bereits unter Bismarck erreicht, was in England erst unter Lloyd George und in Frankreich in den dreißiger Jahren unter Leon Blum begann.

Inzwischen hatte Hitler mit sechs Mann eine Partei gegründet, die die zwei neuen Weltgefühle, die zum Nationalismus degenerierte Heimatliebe und den aus den grauenhaften Zuständen der industriellen Revolution im England des frühen 19. Jahrhunderts entstandenen Wunsch nach gerechterer Verteilung der Weltgüter als Sozialismus, verband. Eine ähnliche Partei entstand zuerst in Italien.

Die deutsche Geistesverwirrung beruhte auf der öffentlichen Verdammung der Kommunisten durch die Nazis, Goebbels nannte sie – unter vielem Ähnlichen: »bolschewistische Bluthorden«, »roter Marxistenhaufen«, »das verkommene und verlumpte marxistische Verbrecherpack«, was dann zum Tod von Nazis und Kommunisten in den Straßen deutscher Städte führte, während heimlich Reichswehr und Rote Armee kollaborierten. Stalin lieferte ungeheure Mengen von Waffen an die Reichswehr. Waffenhandel gehört zu den unbekanntesten Bewegern der Welt. Im 19. Jahrhundert haben die Engländer der ganzen Welt Kriegsschiffe verkauft. Geschosse von Vickers Armstrong töteten englische Soldaten auf den Dardanellen. Aber das wurde dem Kapitalismus, Handel und Profitgier zugeschrieben. Die deutsche Luftwaffe trainierte seit 1926 in Lipezk in Rußland, natürlich, wie Stalin glaubte, nur gegen die Westmächte. Selbst unser harmloser Schriftstellerschutzverband, der im Hinterzimmer eines Cafés in der Berliner Potsdamer Straße tagte, wurde zum Schlachtfeld der zweiten und dritten Internationale, die die Weltrevolution propagierten, während die Naziminorität dabeisaß und sich amüsierte. Damit wurde zugleich das deutsche Volk, das gegen die Kommunisten aufgehetzt wurde – »Rotmord tobt« als Überschrift über dem Angriff –, und die Franzosen, denen gesagt wurde: »Wir sind abgerüstet bis auf die nackte Haut«, belogen.

Die Besetzung des Rheinlandes war eine der nationalen Schanden des Versailler Vertrages. Dr. Gertrud Bäumer, Vorsitzende der deutschen Frauenvereine, deren Artikel aus der liberalen Die Hilfe während des Kriegs in der Times als typisch deutsche Stimme abgedruckt wurden, schrieb: »Anfang Oktober (1918) schlug mir zum ersten Mal die Tatsache entgegen, daß man mit der Möglichkeit eines Einmarsches in das Rheinland rechnet, eine Vorstellung, die einem bisher noch niemals von fern in den Sinn gekommen war …« Kein Wort, daß Nordfrankreich vier Jahre besetzt gewesen war. Und als diese nationale Schande beendet war, erschien das Hindenburg so gleichgültig, daß er, wie Koplin, der Biograph Ossietzkys, mitteilt, Ministerpräsident Braun drohte, die Feierlichkeiten anläßlich der Räumung des Rheinlands zu boykottieren, falls Braun dem Stahlhelm die militärische Beteiligung verbiete.

Heinz Neumann, ein begabter Mann, lernte Georgisch, sprach Stalin zu dessen Entzücken georgisch an, und machte damit seine Karriere. Neumann fand offenbar die Stalinsche Politik Wahnsinn und prägte die Parole: »Der Feind steht rechts!« Er wurde von Stalin hingerichtet. Als Heinz dem Vater dieses Heinz Neumann sagte, wir hätten einen klugen Sohn, antwortete er: »Das größte Unglück, das einem passieren kann.« Auch an solchen Sätzen erkannte man, wie unsere Welt aus den Fugen ist.

Als das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei beschloß, den Volksentscheid des Stahlhelm und der Deutschnationalen zur Absetzung der sozialdemokratischen Preußischen Regierung zu unterstützen, schrieb Ossietzky: »Dieses Schachspiel darf sich nicht wiederholen, sonst erhalten wir mit linksradikaler Hilfe einen Reichskanzler Hitler!«

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