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Reise nach Griechenland 1927

Friede in Europa. Briand und Stresemann hatten sich in Locarno getroffen, und Austen Chamberlain hatte Stresemann den Liebestrank in der Guildhall kredenzt.

Ich fuhr nach Griechenland, um eine Freundin und ihre Ausgrabungen zu besuchen. Der Mond stand hoch, die Augustnacht war warm im Hafen von Triest. Ein Flugzeug hob sich vom Wasser, ein Segelschiff flitzte mit Marinesoldaten dahin, übers Wasser hörte man »Giovinezza« singen. Neben mir stand ein Italiener. »Sehen Sie sich diese verrückte Jugend an! Krieg und nochmal Krieg!« Er gehörte meiner, der Kriegsgeneration des ersten Weltkrieges, an.

So ging das internationale Gespräch: »Oh yes – mais oui – si si – ne, ne. Es ist auch bei uns schlecht. Vor dem Krieg da ging es uns gut, aber jetzt – die Steuern, die taxes, die Inflation, die zweite Zwangsanleihe für die Flüchtlinge (griechisch) – mein Sohn fiel in Frankreich – Haben Sie die Kirchhöfe gesehen? In Triest? An der Somme? In Jerusalem? In Flandern? In Saloniki? Tja. Da liegt unsere Jugend. Und die blieben? Alle kaputt – Wir haben schlechte Zeiten. Keine Arbeit – si, si – eine internationale Handelskrise.«

»A devilish thing«, sagte die Engländerin, »mein Bruder war in Deutschland gefangen, in Krefeld, er kam schwindsüchtig nach Hause. Wir schickten ihn nach Afrika, yes, and the other one has bad nerves.«

Ich saß neben einem alten Matrosen aus Fiume auf aufgerollten Tauen. Er war als Österreicher ausgefahren und nach sechsjähriger Gefangenschaft als Italiener heimgekehrt. Tja, Frau weg und Kinder; »Schlecht in Fiume, sehr schlecht, Fiume liegt still, der Handel geht über Giurgiu.«

Das Meer war bewegt, das Schiff klein. Der Steward läutete, aber die Herren waren seekrank. Die Engländerin und ich aßen allein. Sie züchtete Wicken in Sussex. Sie war nach Deutschland gefahren, weil sie das Land kennenlernen wollte, gegen dessen ›Prussian customs‹ sie soviel Vorurteil hatte, und sie hatte fleißige Menschen gesehen, und freundlich war man überall gewesen. Wo waren die ›Prussian customs‹?«

In der Nacht las ich weiter in der griechischen Geschichte von Professor Wilcken, die gerade herausgekommen war, und fand folgenden Satz: »Ein schöner Zug ist es, daß nur dem Helden, der im Kampf gefallen ist, ein besseres Los im Jenseits winkt. Wie irrig war es doch, wenn man gelegentlich die Babylonier zu Pazifisten machte, die nur dem Ausbau der Kultur gelebt hätten!«

Genau das waren die ›Prussian customs‹, die die Engländerin vergeblich in der Freundlichkeit der Menschen und der Schönheit der deutschen Städte gesucht hatte. Ein Vertreter der höchsten deutschen Geistigkeit fand 1927 Pazifismus und Leben für den Ausbau der Kultur einen Makel, von dem man ein großes Volk reinwaschen mußte.

Nur im Süden lebt der Mensch. Der Rand des Mittelmeers ist seine Heimat. Hier wächst der Feigenbaum des Paradieses, hier ist der Dornbusch, aus dem Gott zu Moses sprach, hier fällt das Samenkorn zwischen die Steine und wird vom Winde verweht wie im Gleichnis vom Sämann, hier ist der Weinstock Noahs und des Götteropfers. Hier ist der Ölzweig, den die Friedenstaube heimbrachte und mit dem sich zu Olympia der Sieger kränzte. Hier trafen in der hellen Luft die Göttinnen auf Paris, den Ziegenhirten.

Einfach ist das Leben von Ewigkeiten her. Fischerboote mit großen braunen Segeln fahren abends aus dem Hafen hinaus. Morgens kehren sie heim mit Früchten vom Peloponnes, kindskopfgroßen Tomaten, Pfirsichen, Auberginen und Fischen. Frauen und Kinder kommen, holen die Nahrung, braten auf dem primitiven Dreifuß mit Reisigholz die Fische.

In Gewölben haust das Handwerk, der Schuster, der Schlosser, der Tischler. Die Esel kommen vom Töpfer, tragen schwerbeladen die Tonkrüge zum Schiff, das wie vor sechstausend Jahren äginetische Keramik nach Attika bringt. Wie vor sechstausend Jahren kommen Schiffe, beladen mit Weizen, vom Pontus Euxinus. Vor den Häusern ist ein grauer Brei. Das ist mit Wasser vermischter Lehm zum Hausbau. Weiter im Lande aber macht der Bauer alles allein. Er kompliziert nicht sein Dasein, indem er es durch Vereinigung mit anderen erleichtern will. Nur in einem rosa getünchten Hause mit blauen Läden in einer engen Gasse, durch die man auf das Meer sieht, steht in einer Wohnstube ein Tisch mit jenem kleinen Apparat aus Holz und Messingteilen, den man Telegraph nennt.

Wir waren stundenlang auf dem Esel geritten in einer menschenleeren kahlen Berglandschaft. Nun wanderten wir den steilen Bergweg zum Tempel hinauf. Oben wohnte der Tempelwächter, der Phylax. Er gab uns einen Tonkrug voll Wasser, sein kleiner schwarzer Hund trottete neben uns. Wir aßen unser Mittag, Ölsardinen, Eier, Tomaten, Weißbrot in der unbewegten Glut eines griechischen Julitages. Die kleine schwarze Kreatur machte Ordnung, fraß die Brotkrumen, leckte das Öl aus der Büchse und legte sich auf die andere Seite zum Schlaf hin. Ich sah durch die Olivenbäume in den blauen Himmel, sah zur Seite den Tempel, weithin das Meer mit felsigen Inseln. Ich konnte nicht schlafen vor Glück, wach bleiben, verweilen, sich wiegen im Zauber der guten Stunde. Nie war man so glücklich, nie so dankbar, nie so ganz auf reinen Ton gestimmt. Es wird zu viel von einem verlangt im Westen, zu viel an Klugheit. Dir Wärme zu schaffen und Licht und einen gepolsterten Sitz, das kostet so viel, und fettes Fleisch und wollene oder gar pelzene Kleidung. Das verschlingt des Menschen Denken und Tun mit Haut und Haar. Hier in diesem Licht lebte ich wunschlos dem heiteren Augenblick, der klaren Freude.

Das Haus, in dem wir übernachteten, war bewundernswert sauber, mein Kopfkissen war mit Sand gefüllt, der Boden gestampfter Lehm, das Licht eine Kerze in einem Flaschenhals. An der Wand hing eine amerikanische Flagge mit einer griechischen gekreuzt. Der Sohn war nach Amerika ausgewandert.

Denn es gab nicht nur Klima und Schönheit. Ein uneheliches Kind wurde krank. Niemand ging zu seiner verzweifelten Mutter, außer meiner Freundin, die ihm helfen konnte. Die griechische Dame, bei der wir öfter Kaffee tranken, warnte uns, wir dürften uns nicht so gegen die Sitte stellen. Oder da waren die ganz jungen Mädchen, die eine Nonne zwang, zwölf Stunden am Tag mit einem Hämmerchen Mandeln aufzuklopfen und die Kerne in einen Korb zu werfen. Und in dem kleinen Hotel war ein Mädchen, das immer da war, immer Wasser trug, denn jeder Tropfen mußte vom Brunnen gebracht werden. Eines Tages warf sie sich auf den Boden und schrie. Man brachte sie in ihr Zimmer, das fensterlos war, Licht und Luft nur von der Tür erhielt, genau wie das Pellerhaus in Nürnberg, wie die Schlafzimmer in Pompeji, wie 361.000 fensterlose Zimmer in New York für die armen Einwanderer am Ende des 19. Jahrhunderts. Sie schrie stundenlang. Am nächsten Tag erschien sie, als ob nichts geschehen sei, holte Wasser, kehrte den Boden, brachte Kaffee, ich weiß nicht, wie viele Stunden am Tag. Auch persönlich war es nicht ganz unbewölkt. Ich war ärgerlich, weil ich noch keine Zeile von Heinz bekommen hatte, und wollte schon einen meiner hemmungslosen Wutbriefe schreiben, über die sich jeder in meiner Familie ärgerte. Meine Freundin, zwanzig Jahre älter als ich, eine Frau, die viele Liebhaber gehabt hatte, riet mir dringend ab. Ich könnte ja gar nicht wissen, was passiert sei. Tatsächlich, als ich nach Athen kam, lagen zwölf Briefe im Hotel, die sie nicht weitergeschickt hatten. Das war etwas, womit ich überhaupt nicht gerechnet hatte. Ich telegraphierte sofort, da Heinz mich treffen wollte: »Briefe erst jetzt vorgefunden, bitte um genaue Anweisungen, München hauptpostlagernd.« Und was, wenn er mich in Italien oder Tirol treffen wollte, dann war es ganz dämlich?

Athen war eine traurige Stadt. Wie konnte das Land eine und eine halbe Million Flüchtlinge absorbieren? Schon wurde das Geld abgewertet. Es handelte sich um Griechen, die aus der Türkei ausgewiesen worden waren nach dem Massaker von Smyrna, wo die Schiffe der Großmächte, der Franzosen und Engländer nämlich, die ins Meer springenden Griechen nicht gerettet hatten. Die Stadt hatte keine Wasserleitung, und so sah auch alles aus, staubig und kahl und blumenlos. Und überall waren die Zelte und sonstigen provisorischen Behausungen der Flüchtlinge. Schon sechs Jahre später war es verändert. Athen hatte Wasser und überall sproß und blühte es. Die kleinasiatischen Flüchtlinge hatten mit ihrer Intelligenz und ihrer Zahl das Land nur bereichert.

Das Schiff, mit dem ich nach Italien zurückfuhr, war sehr voll. Die Engländerin von der Hinfahrt war wieder auf dem Schiff und sorgte dafür, daß ich an den Tisch des Kapitäns kam. Warum? Weil ich einfache Baumwollkittel trug, meine Haare, wie sie gewachsen waren, weder Puder noch Lippenstift benutzte. Auch in Preußen hatte man einfach zu sein, wenn man dazugehören wollte. Der Snobismus der Schlichtheit.

Das Schiff wackelte, die Brötchen fielen vom Tisch. »Was der Philipp essen wollt, unten auf der Erde rollt«, sagte ein Engländer, der im – wie man das damals nannte – Vorderen Orient regierte. »Und die Mutter blickte stumm auf dem ganzen Tisch herum«, setzte ich auf deutsch fort. Der Struwwelpeter als gemeinsame europäische Kultur. An unserem Tisch saß die Frau eines hohen französischen Beamten aus Syrien. Sie trug ein schwarzes Kleid mit Stehkragen und kehrte mit den Rüschen ihres Rockes das Schiff auf, zu einer Zeit, als wir kniefrei gingen. Sie mißbilligte, daß die Engländer mich, eine Deutsche, dazurechneten. Es gab auch ein ganz junges griechisches Mädchen mit einem klassischen Gesicht. Sie fuhr nach Paris und träumte von Kleidern von Chanel und von Wiener Operetten.

In der zweiten Klasse war ein nervöser kleiner Deutscher, der versuchte, die Umsitzenden mit seiner Begeisterung zu erfüllen. Er hatte ein Leben lang gespart für diese Reise. Er war Oberlehrer in Hamburg. »Das ist Ithaka«, sagte er aufgeregt, »dort wohnte Eumaios, der Schweinehirt, und dort sehen Sie den Weg, dort genau war es, wo Telemach seinem Vater Odysseus entgegenging«. Kein Mensch hörte ihm zu. Einer hatte ihm den Liegestuhl weggenommen. Er sagte zu dem Mann: »It is not noble of you.« Ein rührender hilfloser Mensch. Würde er später zu den Vernichtern oder den Vernichteten gehören?

Ein Herr borgte mir eine illustrierte Zeitschrift. Koffer bildeten die Staffage für eine Dame in Tweed. Filmschauspielerinnen trugen crèpe de chine-Nachthemden. Das Meer war ein Mittel, um Strandanzüge, Schwimmhosen und Büstenhalter zu zeigen. Dazwischen gab es eine Geschichte von einem Mord im Palacehotel. Ich drehte die Zeitschrift um, und was stand darauf? Nichts geringeres als Das Leben.

Das sahen sich Millionen Menschen im Kino an und das war ihre Lektüre. Das alles, dachte ich, ist zum Untergang reif. Ich hatte eine Offenbarung empfangen. Ich wußte, was das Leben ist von Uranfang an. Fische fangen im Meer, mit seinem Mann schlafen, Kinder zur Welt bringen, Kinder sterben sehen, krank werden, zurückgebracht werden zum Staube, aus dem man genommen ward. So war das wahre Leben, das himmlische unbewußte Leben.

Diese meine Sehnsucht und diese meine Offenbarung waren keine private Offenbarung und keine private Sehnsucht. Hunderttausende hatten die gleiche Sehnsucht. Es war das Mißbehagen an der Kultur. Es war eine von den Ingredienzen, aus denen der Nazipudding gekocht wurde.

Der regierende Engländer war das, was wir in Preußen albern genannt hätten. Aber schon am ersten Tag der Reise wurde mir klar, daß ich es mit einer überragenden Intelligenz zu tun hatte. Jeden Morgen rief er mir entgegen: »Hallo, what about the love story of the fat Englishman?« »Sorry, no material«, sagte ich. So fing der Tag an und so setzte sich das fort bis zum Abend. Ich nannte ihn von Zeit zu Zeit zu mir selber »Geheimrat« oder »Excellenz«, um mir den Unterschied klarzumachen. In Deutschland hatte man Probleme, in Deutschland hielt man immer eine Fahne hoch, in Deutschland war es unfein, es sich so wohl wie möglich sein zu lassen. Man hatte zu leiden: unter der Schande des Versailler Vertrags, unter dem Mangel an Sozialisierung oder unter sonst was.

Am tollsten war es, als wir von Brindisi abfuhren. Der dortige Konsul sprach mit zwei winzigen Kinderfähnchen Flaggensprache, noch dazu auf zwei Kisten stehend. Unserer erwiderte im Stil eines englischen Clowns. Ich hatte nicht gewußt, daß hohe Beamte, Männer von vierzig Jahren sich so wie lustige Schuljungen benehmen konnten, und obwohl mir klar war, daß der Lustige Schuljungen-Ton genau so ein Comment war wie das Hackenschlagen der preußischen Offiziere, war es eine beneidenswerte Haltung.

Am selben Tag hatte ich grundlegenden politischen Unterricht von ihm empfangen.

Mir waren zwar immer die zu weiten Breeches und zu hohen Kragen der italienischen Offiziere auf die Nerven gegangen, aber Mussolini erschien mir doch als Nachfolger Cäsars. Und Cäsar liebte ich nach der Darstellung Mommsens, und weil man uns in der Schule gelehrt hatte, Cäsar zu bewundern. Als ich mit dem Engländer durch Brindisi ging, kamen wir an einem Denkmal vorbei, an dem mit goldenen Buchstaben stand: »Hier ruht der heldenhafte Roberto Giuseppe Schniprikapazzo, der im heroischen Kampf gegen die roten Verbrecher sein junges wertvolles Leben um des Vaterlandes willen aushauchte. Evviva Italia, evviva il Duce.«

Der Engländer las das durch, dann blies er sich auf, hob die gekrümmten Arme bis zur Brust. Es machte den heldenhaften Schniprikapazzo endgültig lächerlich. »So sehen Sie das?« sagte ich.

»Wie denn sonst?«

»Sie glauben also nicht, daß Mussolini den Wohlstand Italiens hebt, für Ruhe und Ordnung sorgt?«

Der Engländer quakte mit cäsarischen Gesten, und dann sagte er: »Awful lot« (Gräuliche Bande).

Es war der Anfang vielen Nachdenkens und das Ende meiner Heldenverehrung.

Ganz aus war es damit, als wir genau zwölf Jahre später im verdunkelten Winter 1939 in London den Shakespearschen Julius Caesar sahen, einen nervösen Diktator, einen Epileptiker, der mit Schaum vor dem Munde hinfällt, der nicht schlafen kann, der Leute nicht leiden kann, die denken und lesen, der sich aufbläht: »Ich fürchte nicht … Doch wenn ich überhaupt fähig wäre, was zu fürchten …« Und als ihm die Frauen zujubeln, sagt Caska, der Börsianer von ihnen: »Wenn er ihre Mütter getötet hätte, würden sie ihm genau so zujubeln.« Alles von Shakespeare, nicht bearbeitet, nichts geändert. Und über die Worte, an denen wir uns in der Schule berauscht haben: »Mir haben stets Gefahren im Rücken nur gedroht; wenn sie die Stirn des Cäsars sehen werden, sind sie verschwunden«, lachten die Londoner. Aus dem Munde eines aufgeregten Herrn in Pumphosen und Militärstiefeln klang es ja wirklich nur großmäulig und dumm: »Die Gefahr«, rief er, »weiß ganz genau, daß Cäsar gefährlicher ist als sie! Wir sind zwei Zwillingslöwen, nur daß ich der ältere und schrecklichere bin!«

Hand aufs Herz, wer von uns hat gelacht, wenn Julius Cäsar erklärte, er sei das Zwillingskind der Gefahr und ein schrecklicher Löwe?

Wir hörten auch eine schauerliche Szene. Der von Antonius aufgehetzte Mob trifft Cinna den Poeten und verhört ihn und fragt ihn nach seinem Namen, und als er »Cinna« sagt, rufen sie: »Schlagt ihn tot!«

»Ich bin der Dichter Cinna, ich bin nicht der Verschwörer Cinna.«

»Ganz gleich. Er heißt Cinna.« Und dann wird er auf offener Bühne totgeschlagen.

Diese Begebenheit wurde nicht von Shakespeare erfunden. Sie ist wahr und von Plutarch überliefert. Uns aber im Londoner Theater überlief es kalt, niemand anderes ist der Dichter Cinna als der Musiker Willy Schmidt, der aus Namensverwechslung ermordet wurde am 30. Juni 1934 in München, wie der Dichter Cinna aus Namensverwechslung ermordet wurde am 16. März 44 v. Ch. in Rom. Das eine Mal ein Dichter, das andre Mal ein Musiker. Der Mob vergreift sich am liebsten an den Zarten.

1980 wurde am BBC gesagt, daß die Cinna-Szene der Angelpunkt des Stückes sei. Sie wurde in deutschen Aufführungen meist weggelassen. Es ist auch welthistorisch interessant, daß der Julius Cäsar im verdunkelten London des Winters 1939/40 in moderner Faschistenuniform gespielt wurde. Mussolini, das war der Feind, seine afrikanischen Abenteuer, der Seeweg nach Indien gefährdet, der Suezkanal, das Mittelmeer. Was ging einen Engländer die Tschechoslowakei an?

Am selben Tag in Brindisi nahm mich die englische Gesellschaft in ein dem Schiff gegenüberliegendes Hotel mit. Wir saßen bequem in der Halle, als der Kellner sich dem Regierenden näherte und mit der Serviette wedelte. Der winkte ab: »We are only sitting down, there is our boat.«

Ich wurde rot. Ich dachte an meinen Vater, der zu sagen pflegte, wenn wir in ein Wirtshaus gingen: »Man muß dem Wirt was zu verdienen geben.«

Am späten Abend lag ich noch im Liegestuhl. Der junge italienische Offizier, der mir seit dem Beginn der Reise folgte, saß auf einem Feldstuhl. Wir schwiegen. An diesem Abend wurde ich ihm freundlicher gesinnt. Irr dich nicht, sagte ich in Gedanken, ich gehöre nicht zu den Mächtigen, auch wenn ich den ganzen Tag mit ihnen zusammen bin. Wenn du und ich in ein Hotel gehen, dann müssen wir vorher in unserem Portemonnaie nachsehen, ob wir genug Geld haben, und wenn ein Mensch müde Füße hat und er geht in so ein Hotel und setzt sich in einen weichen Sessel, dann schmeißen sie ihn raus. Aber ein englischer Regierer, der darf. Warum? Weil er Macht hinter sich hat. Wenn man zum britischen Empire gehört, dann setzt man sich in die weichen Sessel umsonst. Aber wir beide haben keine Macht.

Als wir in Venedig das Schiff verließen, gab mir der Engländer seine Visitenkarte, die ich verlor. Ich kam nicht auf die Idee, sie könnte für mich wichtig sein. Ich brauchte keine Adressen. Das Berliner Telefonbuch genügte.

In München fand ich Heinzens sorgfältig vorbereiteten Plan mit allen Zügen und Anschlüssen, genau wie es mein Vater gemacht hätte, indem er das dicke gelbe Kursbuch wälzte. Er würde mich in Weimar vom Bahnhof abholen. Falls wir uns verfehlten: Zimmer im Erbprinzen. Im Coupé München/Weimar saß nur eine nette junge Norddeutsche, die aus Wien kam, wo sie studiert hatte.

Sie half mir mit dem Gepäck, und wir unterhielten uns ausgezeichnet. Später in London hatte Heinz zweimal dasselbe ulkige Erlebnis, es sprachen ihn großgewachsene Intellektuelle an und fragten: »Cambridge?« »Oxford?«, weil sie offenbar annahmen, so ein Geschöpf wie sie selber könne nur zu einer der alten Universitäten gehören, also ein Kollege sein. Heinz konnte nur den Kopf schütteln und lächeln: »Sorry no«, »leider nicht«.

Nun stand er also auf dem fast leeren Bahnsteig in Weimar. Ich sah ihn vom Korridorfenster bei der Einfahrt. Das Mädchen, das sich neben mich gestellt hatte, sagte entsetzt: »Aber das ist doch wohl ein Jude« und floh ins Abteil zurück und sagte kein Wort mehr. Der Gepäckträger, den Heinz schickte, nahm die Koffer aus dem Netz, und ich verließ wortlos das Coupé. Das Mädchen sah von ihrem Fensterplatz hinaus. Ich erzähle diese läppische Geschichte, weil sich nur aus tausend Einzelheiten die Atmosphäre erklären läßt, aus der es zu dem kam, was Walter Jens die »Jahrtausend-Katastrophe« nennt.

Heinz war zum ersten Mal in Weimar. Ich war schon einmal mit den Eltern als Backfisch dort gewesen. Nun sahen wir alles zusammen an. Ich sehe ihn noch heute im bescheidenen Schillerschen Arbeitszimmer stehen mit der mit Arsenik getränkten giftgrünen Tapete, die wahrscheinlich zu Schillers frühem Tod beigetragen hat. Das Wittumspalais, jener Höhepunkt des Geschmacks, der Schönheit, der Verfeinerung kurz vor der Französischen Revolution. Heinz war hingerissen von der Bibliothek. Als wir das Goethehaus betraten, legte Heinz seine offene Hand auf den Mund und sagte: »Das ist ja ne Schloßtreppe, na verrückt, das verdirbt ja den ganzen Maßstab.« »Das hatte Goethe schon bedauert«, sagte ich. Wir sahen uns das Junozimmer und die Sammlungen, Goethes Gartenhaus und Tiefurt und das römische Haus an, die bescheidene Villa des Herzogs Karl August.

Theodor Wolff gab zweimal eine volle Seite für meine griechische Reise. Das bekamen sonst nur die besonderen Auslandskorrespondenten. Höllriegel zum Beispiel.

Etwas Seltenes überhaupt

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