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ОглавлениеRückkehr zu den deutschen Belangen
Und ich begann wieder, nach dieser griechischen Reise. Ich schrieb: »Man kommt zurück nach Europa nach vielen Wochen gelösten Inseldaseins, traumfern vom Gerauf, und kommt nach Moabit. Auf der Anklagebank zwei rote Frontkämpfer, ein alter SPD-Mann, ein Nationalsozialist, welches der Berliner in ›Nazialist‹ zusammenzog.« Noch konnte ich es nicht ernst nehmen. Ich nannte den Bericht: »Montag und Donnerstag Überfall. Heimkehr zu den deutschen Belangen.«
Auf dem Korridor des Gerichts saßen auf zwei getrennten Bänken die gleichen jugendlichen Arbeiter. Rotfront die einen, Nazis die anderen. Dazwischen hielt einer die Leute auf dem Korridor am Jackenrevers fest: »Wie kommt denn die Polizei dazu, einen harmlosen Passanten festzunehmen? Im ›Feuchten Dreieck‹ war Preissingen. Wer die schönste Stimme hatte, bekam eine Gans. Ich kümmere mich nicht um die Politik, ich bin Waldpfeifer, ich gehöre einem Chor an. Ich bin nur für Frau Musika. Können ja nachfragen im ›Feuchten Dreieck‹.« Wenige Wochen früher war der abendliche Strom der Arbeiter des Osramwerkes über die Brücke gegangen, die das weite Eisenbahngelände überspannte. Eine typische Berliner Arbeitergegend, die Häuser fünf Stock hoch, und manchmal wohnten Hunderte von Menschen darin, im Vorderhaus, im Seitenflügel, im Hinterhaus. Die Toilette ist auf den Treppenabsätzen und die Wasserstelle auf dem Korridor, was beides von zehn Parteien benützt wurde. Auf der Straße stehen kümmerliche Bäume, aber sonst ist weit und breit kein grüner Fleck.
Max Feldtke und Paul Spinner saßen auf einer Bank unter einem der Bäume.
»Du weißt wohl, was ich von dir will?«
»Kanns mir denken.«
»Willste?«
»Na klar.«
»Ich fühle mich verpflichtet, dir aufzuklären, daß hohe Strafe auf Plakatekleben steht, wenn dich die rote Polizei zu fassen kriegt.«
»Weiß.«
»Also morgen abend, wir sind viere.«
»Du kommst besser nich mit, Spinner.«
»Wat is los? Ich nich mitkommen? Du hast wohl ne weiche Birne?«
»Du bist doch zu alt für die Politik. Du bist doch schon zwanzig.«
»Det is wahr.«
»Du kannst doch nich mehr richtig wegloofen. Dir verhaften sie bloß.«
»Na, is gut«, sagte Spinner, »klebt alleine.«
»Kommste mit in ›Fliederbusch‹. Die Parteigenossen treffen sich heute dort.«
»Jrossartjes Verkehrslokal der ›Fliederbusch‹. Ich habe dicke Schulden. Denkste der Wirt mahnt? Fürn P.G., hat er jesagt, tut er alles.«
»Ick jeh heute abend dem Reichsbanner seinen Paukenschlegel klauen. Die Sozis können doch nischt andres als trommeln. Sind se doch aufgeschmissen ohne Paukenschlegel.«
Ein paar Tage später sagte auf der gleichen Bank der Kommunist Ratschek zu dem Kommunisten Maier: »Dem Reichsbanner ist sein Paukenschlegel geklaut worden. Rotfront soll mitmachen bei der Wiedererlangung.«
»Kommt janich in Frage«, sagte Maier, »ich werd den Sozialfaschisten helfen, diesen Verrätern an der arbeitenden Klasse. Nee, nee, auf keinen Fall.«
»Sei kein Frosch. Die Nazialisten sind ganz gefährliche Brüder. Die nehmen uns die ganze Jugend weg. Kannste mir glauben, gefährliche Brüder. Ich bin mit Schulze in die 534. Gemeindeschule gegangen. Den kenn ich, wir arbeiten beide bei Osram. Det is son anständiger Kerl. Ich möchte dem helfen, den Nazis was auszuwischen.«
»Das mußte auf deine eigene Kappe nehmen. Ich kann dir Rotfront nich als Rotfront zur Verfügung stellen. Da käme mir die KPD schön aufn Kopp. Aber wenn du heute abend in die Hinterstube vom ›Weißen Meer‹ gehst, kannste alle unsere Leute sprechen.«
Sozis und Kommunisten versammelten sich zweihundert Mann stark. Einer kletterte durch das Fenster in das Parteilokal der Nazis und nahm den Paukenschlegel vom Tisch weg. Nur ein SA-Mann hatte Wache. Der mobilisierte seine Freunde und auf der Straße kams zum Zusammenstoß. Die Polizei kam rasch und nahm die meisten fest, sozialdemokratische Reichsbannerleute, kommunistische Rotfront, SA-Männer und zwei Verwundete, einen Nazi und einen Sozi. Alle waren über zwanzig. Die Sechszehn- und Siebzehnjährigen waren schneller als die Polizei gewesen. Hatte Feldtke recht behalten. Die waren entwischt.
»Nun zum Angeklagten Spinner«, sagte der Richter, »das sieht ja nun böse aus. Bei Ihnen wurde ein Messer blitzen gesehen.«
»Bei mir? Ich bin Schlächtergeselle, ich geh nich mitn Messer aus. Es war ein Malerpinsel.«
»Warum soll denn ein Schlächtergeselle mit einem Malerpinsel ausgehen?«
»Entschuldigen Sie«, sagte Feldtke, »mein Freund wollte mir die Stube streichen. Des is doch hoffentlich in der freien Repuplik noch nich verboten?«
»Auch ein Schlächtergeselle legt abends sein Schanzzeug weg.«
Die ganze Geschichte ist jetzt sechs Wochen her. »Ich bin aus die SA ausgetreten, ich bin nich mehr bei die Politik. Ich bin doch schon vierundzwanzig, Herr Richter. Ich widme mich nur noch dem Sport. Ich bin Ringkämpfer geworden.«
Kann man das ernst nehmen? Ich nahm es nicht ernst. Niemand nahm es ernst. Ernst nahm ich es erst ein paar Jahre darauf, als mir Olden sagte: »Die Fememordprozesse sind öffentlich. Gehen Sie mal auf alle Fälle hin.«
Auf der Sachverständigenbank saß die deutsche Oberschicht, saßen die Gründer der Reichswehr, der vorzüglich aussehende Hammerstein, der kleine plumpe subalterne Schleicher, dem niemand glauben würde, daß seine Ahnen schon im 13. Jahrhundert auf ihrer Burg saßen, Fritsch, der die Moltketradition des Schweigens fortsetzte, und Oberst Beck, alle mit den breiten Streifen des Großen Generalstabs. Das waren nach dem Gesetz der natürlichen Auslese die begabtesten Deutschen. Seit zweihundert Jahren war es in Preußen der oberste Ehrgeiz der obersten Schicht, daß ihre begabtesten Kinder in der Armee aufstiegen. Das waren nicht die Offiziere einer geschlagenen Armee. Das waren die selbstbewußtesten Leute in Deutschland.
Sie waren die Liebenswürdigkeit selbst, und nicht für einen Moment verloren sie, die sich anschickten die tödlichste Armee der Welt zu schaffen, ihr konziliantes Lächeln. Sie würdigten die Männer auf der Anklagebank keines Blicks.
Denn das war die Unterwelt, von der der gute Bürger aller Zeiten und Länder keine Notiz nehmen will, wo sich Draufgängertum und Verbrechertum schneiden, wo das Gewissen erstickt ist durch den Befehl, gedungene Mörder, Leutnants vom kleinen Herkommen, die fast noch als Schulknaben Herr wurden über Leben und Tod, ein Gott für Vater und Mutter und die Mädchen: »Mein Sohn, der Leutnant«, der nun reden konnte wie die feinen Leute: »Mein Kamerad vom Regiment X«, und nicht mehr heimfand in das bürgerliche Leben, den Zigarrenladen des Vaters.
Oberleutnant Schulz wurde im Militärwaisenhaus aufgezogen, die menschlichen Beziehungen bestanden zeit seines Lebens in Befehl und Gehorsam. Dr. Dr. Ing. Stantien, Typus des staatsfeindlichen Studenten, völlig besessen von der Terminologie des Krieges, weil Lernen Unsinn scheint, Wissenschaft eine überlebte Angelegenheit, und wer war Nothelfer und wer Hochverräter? Klapproth war ein Riese, der Kopf nur Kinn, keine Stirn: »Wenn ich einen packe«, sagte er und hob die Hände über den Kopf, »und auf den Zementboden schmeiße, dann ist er eben ohnmächtig.« Schwere Eisenmuffen wurden in den Saal geschleppt. Einen Toten hat man mit ihnen ins Wasser versenkt. »Heute haben wir einen schwimmen lassen.« »Wenn der Auspuff offen ist und es knattert, kann der Schuß krachen.« Der Schuß, den Fuhrmann »ein Schüßchen in den Hinterkopf« nannte, eine Atmosphäre der Fußtritte, des Ochsenziemers. Was zehn Jahre später als der Anfang des Endes des alten Reiches begann, es war alles schon da.
Der Kunstgewerbler Schmidt-Halbschuh, als eine Art von militärischem Wandervogel gekleidet, sagte: »Wir gründeten 1920 eine nationale Armee. Ziel der nationalen Armee war die Vernichtung der Republik in allen ihren Organen. Wir beschlossen die Tötung Severings, Seeckts und die Befreiung Ehrhardts.«
Der Richter fragte: »Wie groß war die nationale Armee bei ihrer Gründung?«
»Sechs Mann.«
Auch die Nazis begannen mit sechs Mann. Warum Hitler und nicht Schmidt-Halbschuh? Oder: ein alter preußischer Beamter gibt vor, alles sei ordentlich zugegangen.
Der Richter sagte: »Erlauben Sie mal, es sind doch Morde vorgekommen?«
»Ja, ich habe davon gehört. Mir aber kann nicht zugemutet werden, daß ich Kameraden, ehrenwerte Männer, als Mörder betrachte.«
Einer der Mörder nennt sich Tell. Das ist ein Programm. Es ist zu kompliziert, auf die Nachkriegswirren einzugehen, nur ein Beispiel: In Oberschlesien war Grenzschutz notwendig. Die fünfzig ungesühnten Morde, die dort geschahen, die als Selbstjustiz galten, hat sie das Recht gedeckt? Legal war es, dort einzutreten, illegal war die Organisation Consul, aber sie wurde wiederum legal, als sie in die Schwarze Reichswehr eingeschmolzen wurde. Man weiß, daß es sie gibt, die Parodie des »Krümpersystems« nach 1806, winzig, aber da, töricht, aber vergiftend.
Noch ein finsterer Bursche trat auf, Heines auf Baldur, auf hellen Sonnengott getrimmt, in fast weißem Tweed mit kurzen Sporthosen und weißen Strümpfen mit breiten hellblauen Strumpfbändern mit Schleifen an den Außenseiten, hellblauer Krawatte, blonden langen flatternden Haaren, im Zuhörerraum junge Leute, die ihn anschwärmen wie normale Jünglinge eine Primadonna.
Er ist es, der besonders gern die Menschen zu Tode prügelt.
1933 wurde er Polizeipräsident von Breslau. Er ließ als erstes die jüdischen Richter die hohen Steintreppen des Gerichts hinunterwerfen.
Breslau war die Hauptstadt der Provinz Schlesien, dem Land der alten Aristokratie, der Herzöge von Sagan, der Fürsten Pleß.
Damals war die preußische sozialdemokratische Polizei noch völlig intakt. Damals waren noch die alten Beamten und Richter in ihren Ämtern. Damals existierte noch das alte Offizierskorps mit seinen berühmten Ehrbegriffen. Alle diese ließen einen homosexuellen Sadisten über Tod und Leben einer Million Seelen bestimmen.
Heines wurde zusammen mit allen übrigen Fememördern am 30. Juni 1934 umgebracht, aber von seinen eigenen Leuten.
Hitler war damals noch ein kleiner Mann. Man nahm an, er würde als Führer einer kleinen antisemitischen Partei im Reichstag enden. Er hatte einen Prozeß wegen eines Preßvergehens. Das Gerichtsgebäude wurde gesperrt, so daß alle Personen, die an diesem Morgen darin zu tun hatten, draußen warten mußten und einen Auflauf bildeten, der Neugierige anzog. Ein Mann, der die Entstehung des Auflaufs beobachtet hatte und nun die Menge sah, die unfreiwillig Spalier für Hitler bildete, sagte: »Die machen ja den Jungen mit Gewalt verrückt.«
Die Angeklagten, Goebbels, Hitler und noch einige Nazis sahen aus, daß man sich keine Rasse vorstellen konnte, die sie zu den Ihren zählen möchte.
Der ruhige Richter begann das Verhör: »Wie heißen Sie?«
»Adolf Hitler.«
»Wo sind Sie geboren?«
»Braunau am Inn.«
»Was haben Sie zur Sache zu sagen?«
In diesem Moment begann Hitler zu schreien, er hielt eine Rede an eine Riesenversammlung, die nicht da war, er rief ein Volk auf, das nicht vorhanden war. Er keuchte, warf den Kopf zurück und redete ohne Unterlaß. Es wurde nicht klar, spielte Hitler den Hysteriker oder war er es, jedenfalls hätte sich niemand gewundert, wenn er hingefallen wäre oder Schreikrämpfe bekommen hätte.
Der Richter war sehr erstaunt über diesen völlig fassungslosen Menschen und fragte: »Warum regen Sie sich denn so auf, Herr Hitler?«
Hitler betonte immer wieder, daß er als ein so besonders anständiger Mensch seine Mitangeklagten nicht verraten werde. Er sagte ganz hemmungslos: »Ich als ein so besonders anständiger Mensch.«
Im Zuhörerraum hatten etwa zehn Leute die erste Bank besetzt, junge Berliner Arbeiter, die sich besonders ordentlich angezogen hatten. Für diese Verbrecher hatten sie sich die Haare mit Wasser gebürstet. Als Hitler mit Gefolge den Raum verließ, erhoben sie sich im gleichen Moment, rissen den Arm hoch und riefen: »Heil Hitler.«
Ich habe vierzig Jahre lang über diesen Prozeß nachgedacht, gedacht, was ich schon während des Prozesses dachte. Hitler und Goebbels saßen mir drei bis vier Meter gegenüber. Wenn ich einen Revolver besessen hätte und ich hätte sie erschossen, hätte ich fünfzig Millionen vor einem frühzeitigen Tod gerettet und ich wäre Judith II. geworden. Aber wer hätte das gewußt? Die Juden in Deutschland hätten es zu büßen gehabt, daß ich ein ungeteiltes Deutschland erhalten hätte, weil ich Deutschlands Retter ermordet, Retter wovor? Vor dem polnischen Korridor.
Goebbels, der alle Fäden in der Hand hielt, beschuldigte bald einen hohen Beamten, bald einen Minister vom Landesverrat bis zum gemeinen Diebstahl, setzte einfach ein »Isaak« oder »Isidor« vor den Namen, gab allen Verbrechern jüdische Namen. Beleidigungsklagen wurden erhoben, aber Goebbels erscheint nicht vor Gericht. Und keine Regierung wagte oder wollte bereits 1929 Goebbels, das heißt einen nationalen Mann, verhaften. Der Oberstaatsanwalt Werner war ein Mitglied der NSDAP. Nun endlich kam Goebbels zum erstenmal, der Teufel der Volkssagen, ein Zwerg mit zu großem Kopf, Klumpfuß, schwarzen Haaren.
Schwärmerische Mädchen flatterten um ihn. Sie tragen stilisierte Dirndlkleider mit kunstgewerblichem Schmuck, haben blonde Zöpfe um den Kopf, sind besonders hübsch. Deprimierend, wie sie sich dem Wunschbild der Nazis angeglichen haben. Das sind keine vier verschiedenen Geschöpfe, sondern »Das Weib«, unterscheidbar nur durch die Farben ihrer Gewänder. Sie streiten sich, wer seine Mappe halten darf.
Goebbels hat eine besondere Taktik. Er antwortet nicht. Der Richter fragt: »Wie heißen Sie?« Und Goebbels antwortet nicht. Der Richter fragt: »Wo sind Sie geboren?« Und Goebbels antwortet nicht. Der Richter war hilflos. Herr Goebbels war stark – ein großer Teil der Richter stand hinter ihm. Denn Goebbels ist national. Der Richter konnte nicht wagen, gegen einen nationalen Mann vorzugehen. Schon damals kamen sozialistische oder republikanische Richter nicht vorwärts. Der Richter, der kein Wort aus Goebbels herausbrachte, verurteilte ihn zu einer Gefängnisstrafe. Das war ganz formal, denn die nächste Instanz würde das Urteil aufheben, oder wenn sie es nicht aufhob, so würde ihn doch niemand verhaften.
Vor dem Gerichtseingang stand ein Zeitungshändler, Hakenkreuz an der Armbinde, den Hut ringsum mit Hakenkreuzfähnchen besteckt, Hakenkreuzfahne im Knopfloch. Er trug braune Hosen militärisch in den Stulpenstiefeln, eine Ziviljacke. Die Überschrift der Zeitung war dick rot unterstrichen: »Rotmord tobt. Er schrie: ›Furchtbares Verbrechen des Juden Isidor Weiss!‹« Dr. Bernhard Weiss, der schon unter dem Kaiser ein Beamter war, war der makellose Schöpfer der sozialdemokratischen Polizei. Aber die Bevölkerung sagte: »Geht ja auch nicht, ein Jude Polizeipräsident.«
Die Gerichte schritten nicht ein. Für den, der sich wundern mag, sind hier zwei Prozesse: Theodor Knobel, der Führer des Jungsturms in Guhrau, machte einen Ausflug mit den Jungen. Sie gingen über Wiesen, durch Wälder. Knobel ließ die Jungen am Judenfriedhof haltmachen. »Spuckt alle dreimal aus!« befahl er. Er wurde wegen Religionsschändung angeklagt. Das Gericht in Glogau sprach ihn frei. Religionsschändung liege nicht vor, denn Knobel habe nicht die religiöse Gemeinschaft der Juden, sondern die jüdische Rasse treffen wollen.
Wandervögel zogen in die deutschen Wälder, sie hatten Lauten mit vielen bunten Bändern, entzückende Bänder, die die Mädchen für ihre Freunde bestickt hatten mit Vergißmeinicht und mit alten weisen Sprüchen. Und wenn sie durch die Dörfer zogen, dann sangen sie: »Ich hört ein Bächlein rauschen« und »Blut muß fließen, Judenblut«.
Die Gerichte lehnten es ab, dagegen einzuschreiten, denn es gab nur ein Vergehen wegen Aufreizung zum Klassenhaß, aber die Juden seien keine Klasse, sondern eine Rasse.
Die entstehenden Prozesse waren mittelalterlich, denn die Nazis und die Kommunisten hatten das Institut des Eideshelfers wieder eingeführt. Zeuge war der politische Gegner. Die Seite, die die meisten Meineide schwor, gewann. Damit hatten die Nazis angefangen.
Die Narretei war die Typisierung des Menschen, die Verwerfung der Renaissance, die den Menschen als Individuum entdeckt hatte, was jahrhundertelang Europa zu Europa gemacht hat. Der Kommunist war und blieb ein Untermensch. Der Nazi war und blieb ein edelblütiger Germane. Man wurde gefoltert für etwas, was man vor sechs Wochen und jetzt schon nicht mehr war. Menschen sind keine Eichen, die Eichen bleiben, oder Buchen, die Buchen bleiben. Scheringer, der im Prozeß gegen die Ulmer Offiziere wegen nationalsozialistischer Propaganda zu Gefängnis verurteilt worden war, wurde noch im Gefängnis Mitglied der Kommunistischen Partei. Er schrieb in Die Linkskurve: »Die Volksrevolution in Deutschland, die Zerreißung der Tributverträge und der revolutionäre Krieg gegen die wahrscheinliche Intervention der Kapitalistischen Westmächte …« Fünfzehn junge Offiziere folgten ihm. Der Bombenleger Klaus Heim, von dem Falladas Roman Bauern, Bonzen, Bomben handelt, trat ebenfalls in die KPD ein, genau wie Bruno von Salomon, der Bruder des am Rathenaumord beteiligten Ernst von Salomon.
Mit dieser Einschränkung: Wer waren die Nazis? Da war Pantel, ein Krümel im riesigen Brot Berlin, mit dem Wunschtraum aller farblosen Millionen, ein Held zu sein, das hieß 1930 ein wilder Nazi, gefürchtet von den Kommunisten, sie würden ihn überfallen, verwunden, nicht zu schwer natürlich, nur so, daß er einen Verband um Kopf und Arm haben könnte, er würde wie im Märchen sieben auf einen Streich erledigen, er würde eine Überschrift sein im Völkischen Beobachter »Parteigenosse Pantel – Opfer von Rotmord!« Die Zeitungshändler würden durch Berliner Straßen brüllen: »Pantel Opfer der Kommunisten!« Und die Mädchen würden sich um ihn reißen. Aber nichts geschah. So schrieb er einen Brief an die Rote Fahne:
»Werte Genossen, ich mache Euch hier auf einen besonders gefährlichen Mann, namens Pantel, aufmerksam … Er muß umgelegt werden. Nieder mit der Hitlersau!«
Aber er irrte sich in den Kommunisten. Die haben eine Weltanschauung, die individuelle Terrorakte verbietet. Schließlich lauerte er selber an einer Straßenecke, brach, als zwei Sozialdemokraten vorbeikamen, in den alten Straßenräuberruf aus: »Halt oder ich schieße«, und schoß wild um sich.
Noch einfacher war der Fall Kunze. »Ihr Beruf?« fragte der Richter.
»Ordonnanz des Standartenführers II der NSDAP.«
»Ich denke Sie sind Postbote?«
»Das auch«, sagte Kunze.
Er kam aus wohlhabendem Kaufmannshaus. »Aber ich hatte keine Lust zum Schacher.« Der Vater kaufte ihm ein Gut. »Aber ich war nicht dafür. Ich wurde Nazi.«
Und nun verfolgen ihn die Kommunisten. Da stand zum Beispiel ein Bettler vor seiner Tür. »Aber das war kein Bettler, das war ein Abgesandter der Kommunisten, der sich als Bettler ausgab.« Oder er ging in den Park, und da saßen auf der Bank, zunächst seinem Haus, lauter Kommunisten.
»Wieso Kommunisten?« fragte der Richter.
»Die Nazis in meiner Gegend kenne ich, und Zentrumsleute sitzen nicht auf Bänken.«
»Warum aber Kommunisten?«
»Ja, was denn sonst?«
Er kam von einem Uniformappell der Nazis um sechs Uhr eines Sommerabends durch die Hauptstraße in Schöneberg, sah Leute vor einem Lokal stehen. »Heil Hitler!« riefen die höhnisch.
»›Gott sei Dank, immer noch Heil Hitler, wenn ihr das wollt, kommt doch ran!‹ Und dann verfolgten sie mich, und in meiner Todesangst schoß ich hinter mich.« Er traf den sechzehnjährigen Lehrling Nathan zu Tode.
Das Gericht sprach 1931 den Mörder eines Juden frei. Keiner fragte, warum er denn nicht einen Passanten angesprochen oder in einen Bus gestiegen sei. Staatsanwalt Steinäcker, dessen Namen ich nie mehr nach dem Krieg gehört habe, einer der großen Zerstörer, war es, der dem Mörder des sechzehnjährigen Lehrlings im Gewühl der sommerlichen Hauptstraße in Schöneberg um sechs Uhr nachmittags Notwehr erlaubte. Er war es, der den Sklarek-Prozeß zur Sensation, die Sklareks zu Verderbern des deutschen Volkes hochspielte, die ins Zuchthaus gehörten, der ein Verbrechen wie das des Pastors Cremer, der Gelder für die Innere Mission unterschlug, fast freundlich ansah. Er hat auch einmal gesagt: »Nicht im Namen des Volkes, sondern im Namen Hitlers wird Recht gesprochen werden als Prinzip. Man kann nicht gleichsetzen die idealen vaterländischen Forderungen der NSDAP-Bewegung mit der grob-materialistischen eigensüchtigen nur einer Volksklasse dienenden Ambition der KPD!«
Im selben August 1932 stieg ich mit meinem vierjährigen Sohn am Bahnhof Tiergarten in ein Coupé der Stadtbahn. Steinäcker saß darin, ein gepeinigtes, haßerfülltes, tief unglückliches Gesicht. Er versuchte sofort auszusteigen. Aber der Zug fuhr schon. Er stellte sich also mit dem Rücken zum Coupé an die Tür. Am nächsten Bahnhof Zoo stieg er aus, rannte ein paar Coupés entlang, sah hinein. Im Konflikt zwischen Selbstmord und wieder mit Juden im Coupé zu sitzen, sprang er, als der Stationsvorsteher »Zurückbleiben!« schrie, in eine noch offene Tür.
»Was war denn mit dem los?« fragte mein Sohn.
»Varickt jeworn«, sagte ich in Heinzens Tonfall.
»Der Liebende, nicht der Geliebte ist der Gesegnete. Das Gefäß schüttet sich in Fülle aus, aber der Becher setzt seiner Fülle die Grenze.« Der Hassende, nicht der Gehaßte, ist der Verdammte.
Diese Verrücktheit kam mir ein Jahr später (1933) noch näher. Karlsbad war ein Traum und ganz leer. Hitler erlaubte nur noch ausgewählten Parteimitgliedern, die böhmischen Bäder zu besuchen. Mit einem Federstrich ruinierte er Zimmermädchen, Badefrauen, Kellner, Hoteliers, obwohl sie Deutsche waren, ein kleiner Rest seines eigenen österreichischen Volks, Sudetendeutsche und obwohl meistens Winterantisemiten, judenfreundlich nur in der Saison.
Ringsum blühten Dahlien, höhere, buntere, aufrechtere Dahlien. Auf der Leinendecke stand ein silbernes Kännchen mit dem besten Kaffee der Welt und Tassen und Teller aus dem zartesten Porzellan. Hörnchen waren veredelt aus dem Weizen, der in den meisten Ländern zur Sättigung genügt, nicht zum Genuß. In der Butter war der Duft des Heus, des Wiesenschaumkrauts und der Pechnelken. Eine sanfte Herbstsonne leuchtete.
Ein kleiner Herr mit Pincenez und Gamsbart auf dem Hut setzte sich an den Nebentisch. Kaum saß er, rief er zu seiner Frau: »Siehste da das Firmenschild Cohen? Und da Pinchas, und da Braun? Braun könnten auch Juden sein, meinst du nicht? Überall Juden! Dem muß ein Ende gemacht werden! Unser Führer ist auf dem besten Wege dazu.« Er blätterte in einer Illustrierten: »Hier sind Photos vom Hochgebirge, den erhabenen Alpen. Aber auf den Hütten können Sie Leute finden«, sagte er zu mir hinüber, »die haben keine Ahnung von der erhabenen Schönheit. Sie wissen, wen ich meine? Juden!« Dann fiel sein Blick auf den Namen des Cafés: »Luise!« schrie er voll Angst und Schrecken. »Komm.« Und sie gingen.
»Seinen Kaffee hat er auch nicht bezahlt«, sagte der Kellner.
Wenn der Sturmtrupp 33 einen Abendspaziergang in Berlin machte, lagen hinterher Leute mit eingeschlagenem Schädel auf der Straße. Endlich wurden zwei Sturmmänner angeklagt. Eine junge Baronin hatte den ganzen Vorgang vom Fenster ihrer Apotheke beobachtet. Zwei Arbeiter gingen die Straße entlang und wurden von den SA-Leuten überfallen, schwer verwundet, wobei auch ein Nazi schwer verwundet wurde. Auch der Pfarrer vom Lützow[platz] in Charlottenburg hatte alles beobachtet, ein Mann Gottes, der feierlich seinen Eid ablegte. Er wußte, daß aus dem Wirtshaus geschossen worden war: »Ich sah ganz deutlich den Pulverdampf. Die beiden Angeklagten sind nationale Männer.«
»Fräulein von X sah ganz etwas anderes«, sagte der Richter.
»Natürlich«, sagte ein Nazi, »die Baronin ist ja Kommunistin.«
»Ich habe nie auch nur eine kommunistische Zeitung in der Hand gehabt. Ich bin deutschnational. Ich kann doch nur sagen, was ich sah.«
Und nun kommen ein paar dicke Bürger, der Wirt, der Oberpostschaffner, der Bäcker. Sie hatten im Wirtshaus Skat gespielt. Sie hatten Zigarren geraucht. An den anderen Tischen saßen auch Leute, die Zigarren rauchten. Als sie schießen hörten, öffneten sie die Tür … und dabei kam eine Wolke von Zigarrenrauch nach draußen, der beschworene Pulverdampf des Pfarrers vom Lützow.
Der verwundete Nazi verschwand. Wohin? Er wurde in ein Krankenhaus gebracht. Der Portier des Krankenhauses, der ihn gesehen hatte, machte keine Eintragung. Der Arzt, der ihn gesehen hatte, war nicht herauszufinden, die Krankenschwestern, die ihn gepflegt hatten, waren nicht herauszufinden. Die Polizei fand blutige Sachen des Mannes in einer Kiste im Krankenhaus.
Wer hatte sie dahin gebracht? Alle, Ärzte, Krankenschwestern, hatten sich strafbar gemacht. Aber welcher Arzt, und welche Krankenschwestern? Und dann war der Mann verschwunden.
In München war die Zentralstelle, die Leute weiter beförderte. Hier bekamen sie vom Polizeibeamten Frick, der später in Nürnberg verurteilt wurde, falsche Pässe. Von München fuhren sie nach Innsbruck. In Innsbruck wurden sie wiederum mit Geld und Ratschlägen versehen. Viele fuhren nach Italien. Viele verschwanden auch in Österreich. So organisiert war der Fluchtweg schon 1931.
Bild 7: Auszug aus dem Nachruf von Gabriele Tergit auf Varian Fry, 1967
Die Juden hatten nie einen Fluchtweg vorbereitet, weder aus Deutschland, Österreich oder der Tschechoslowakei. Die Rettungsaktion aus Südfrankreich organisierte der Amerikaner Varian Fry mit Hilfe von Eleanor Roosevelt. Die gemeinsame Flucht einiger Manns, Varian Frys und Alma Mahlers von Marseille über die Pyrenäen nach Spanien und in den Hafen von Lissabon zu den Schiffen nach Amerika ist von den Teilnehmern so verschieden beschrieben worden, daß es einen mißtrauisch gegen jede Geschichtsbeschreibung machen könnte. Franklin Roosevelt hat sich an keiner Rettung beteiligt. Er hätte nur die nicht verbrauchten Einwanderungsquoten für Deutsche von 1933, 34, 35, 36, 37 freizustellen brauchen, um alle deutschen Juden nach dem Novemberpogrom 1938 zu retten. Das tat er nicht. Vielleicht hätte er damit sogar den Krieg verhindert, da Hitler erkannt hätte, wo Amerika stand. Diese Flucht Marseille-Lissabon führt an Weltgeschichtliches. Franco, gewiß keine angenehme Figur, ließ die Flüchtlinge ohne weiteres durch Spanien. Es heißt, Franco sei ein Marrane gewesen, das heißt Abkömmling der zwangsgetauften spanischen Juden von 1490, die an ihrer Religion festhielten. Wenn es also stimmt, daß er aus diesem Grund nach fünfhundert Jahren die Flüchtlinge paß- und visumlos durchließ, so kann man auf den großen Madariaga verweisen, der Kolumbus ebenfalls für einen Marranen hält, der Amerika auf der Suche nach einem Rettungshafen für die verfolgten spanischen Juden entdeckt hat. Madariaga hat hebräische Daten auf Briefen von Kolumbus gefunden. Und ich möchte in diesem Zusammenhang vom PEN-Kongreß in London 1940 erzählen. Wells am Vorstandstisch, Madariaga stand unten. Madariaga sagte oder vielmehr schrie, daß die spanischen Eroberer, die Konquistadores, sich gut gegen die Indianer benommen hätten, besonders die katholischen Priester, von den Angelsachsen im Norden seien sie vernichtet worden. Wells schrie dagegen. »Wo leben sie noch?« rief Madariaga, »in Mittel- und Südamerika. Nicht in den Vereinigten Staaten.«
Bild 8: Brief vom Londoner PEN-Zentrum an Gabriele Tergit, 1940
Was sind große Männer? Mitten in einem uns alle bedrohenden Krieg lauschten wir gespannt auf diesen Disput des protestantischen Engländers mit einem katholischen Spanier. Zu diesem PEN-Kongreß, auf dem sich alle freiheitsliebenden Menschen Europas vereinigt zu haben schienen, kamen auch Dos Passos und Thornton Wilder. Dos Passos stand, wo Madariaga gestanden, unter dem Podium, merkwürdig bescheiden: »Wir flogen«, begann er. »›Werden wir abgeschossen werden‹, fragten wir einander. Aber wir wußten, wir müssen auf die kleine Insel fliegen, wir müssen ihnen zeigen, wir gehören zu euch. Ihr seid nicht allein in eurem Freiheitskampf.«
Ich sehe Dos Passos dastehen, genau wo Madariaga gestanden hatte, genau, was man sich wünscht, der Teilnehmende, der Mitfühlende. Zwei große Amerikaner, die ihr Leben riskierten, um uns allen zu zeigen, hier findet der Kampf gegen das Böse statt. Friedenthal, gewiß kein Pathetiker, sagte zu mir: »Wunderbar gewesen, nicht?«
Wo sind sie heute, die Wells, die Madariagas, die Dos Passos?
Alle im Fernsehen untergegangen?
Ich habe so vor mich hin erzählt von der Nazivorbereitung, sogar eines Fluchtwegs München, Innsbruck, Österreich oder Italien, vom Mangel eines solchen bei den Juden, diesen ewigen Optimisten.
»Und Gott sah hin auf seine Werke und siehe, alles war sehr gut«, den [Fluchtweg] schufen dann Eleanor Roosevelt und Varian Fry, wobei der Deutsche Dieterle sehr half und Franklin Roosevelt sich draußen hielt und der sehr viel mehr gefährdete Franco mitmachte. Ich will nun sieben Jahre zurückgehen und vom letzten Nazi-Prozeß, über den ich berichtet habe, erzählen.
Wanda Schmottek, klein, dick und blond, die Hauptzeugin gegen neun Arbeiter, die wegen Totschlags angeklagt sind. Sie verlangte Ausschluß der Öffentlichkeit, weil sie sich bedroht fühlte.
»Von wem?«
»Eine Frau hat gesagt: ›Warte, du Sau, du wirst auch noch kaltgemacht.‹«
»Welche Frau? Was für eine Frau?«
»Also nicht nur eine Frau, sondern auch ein Mann.«
»Also ein Ehepaar.«
»Ja, beide haben gesagt: ›Warte, du Sau, du wirst auch noch kaltgemacht!‹ Übrigens sind mir auch die Fensterscheiben eingeworfen worden.«
»Wann sind Ihnen Fensterscheiben eingeworfen worden?«
»Wenn mich der Herr Rechtsanwalt so viel fragt, kann ich überhaupt nicht antworten.« Und sie weint.
Wanda Schmottek ist aus barer Neugierde mit den Kommunisten mitgegangen und hat alles genau gesehen: »Ein Mädchen zog eine Pistole aus ihrer Bluse und reichte sie einem Mann. Ich ahnte schon, daß da einer totgeschossen wird.« So erzählt sie. Es waren zwei Trupps, einer, in den geschossen wurde, und ein Nachtrupp.
Im Schützentrupp schossen zwei Leute, die sie in der Anklagebank bezeichnet, und zwei weitere waren mit im Trupp. Glatt und rund, unter Eid, sind das zwei Todesurteile und zwanzig Jahre Zuchthaus. Der Verteidiger versucht ihr den Ernst und die Folgenschwere ihrer Aussage klarzumachen. »Leider«, sagt er, »kam nämlich dabei ein Nationalsozialist ums Leben.«
»Warum leider«, sagt sie, »ich weiß doch, wie sehr Sie sich freuen.«
Ja, sie kann die Kommunisten nicht leiden. Sie hat einen Laden, und da nennen sie sie Nazikaufmann und boykottieren sie, und es gibt Flugblätter: »Rote Macht, habt acht«. Alles gegen sie. Es ist kein angenehmes Leben. Und sie bleibt dabei, zwei haben geschossen, und zwei andre waren dabei. Sie erkennt sie nach Gesicht, nach Gestalt, nach grauer Hose und blauem Hemd und aufgekrempelten Ärmeln. Zweifel ausgeschlossen. Und als der Verteidiger sie immer eindringlicher fragte, sagte sie: »Muß ich mir diesen süßen Schmus weiter anhören?« Sie sitzt auf dem hohen Ross, sie weiß alles. »Ich hätte noch welche festnehmen lassen. Der Polizist hat bloß keine Zeit gehabt, als ich ihm noch Leute melden wollte.«
Aber der Rechtsanwalt fragte weiter ohne Gnade und Barmherzigkeit. »So«, sagte sie und sprang auf, blond und dick und voller Wut, »jetzt werde ich Ihnen auch die Wahrheit sagen, jetzt gerade. Da hinten stehen noch zwei, die dabei waren und die habe ich sogar verhaften lassen.« Und sie zeigte auf zwei weitere in der Anklagebank. »Diese beiden haben am anderen Tag an der Litfaßsäule gestanden und auf die verdammten Nazis geschimpft, die ihre eigenen Leute totschießen. Wie können die so reden, habe ich gedacht und habe den Schutzmann geholt und habe gesagt, die beiden waren auch dabei, und das sind die, die da hinten stehen.«
Glatt und rund unter Eid sind das zwanzig Jahre für Tobehn und Krüger, die Männer, die da hinten stehen. Niemand bringt sie davon ab. Es sind die beiden, die da hinten stehen. Aber die beiden, die da hinten stehen, wurden erst acht Tage später verhaftet, und die beiden, die sie acht Tage früher verhaften ließ, waren ein Radrennfahrer und ein Mitglied eines katholischen Gesellenvereins, die keinesfalls an diesem Abend bei der Schießerei dabei waren.
»Das sieht ja nun sehr düster aus«, sagte der Richter, »und es wird zu erwägen sein, ob wir Sie nicht selber verhaften müssen. Jetzt können Sie jedenfalls nach Hause gehen.« Und wen wird sie nach der nächsten Schießerei an der Litfaßsäule verhaften lassen? fragten sich alle Zuhörer. »Das ist ja die Wiedereinführung des lettre de cachet. Wenn das so weitergeht«, sagte der Richter, »wird jeder, der den anderen nicht leiden kann, sagen: dich werd ich an der Litfaßsäule verhaften lassen.«
Er sagte es am 26.9.1932. Ein halbes Jahr später war es soweit.