Читать книгу Kriegerwallfahrt nach Vierzehnheiligen - Georg Enzor Vojer - Страница 10
Litanei vom Leiden Christi
ОглавлениеDer halbe Weg zur Kirche Vierzehnheiligen liegt hinter uns. Der Weg steigt sanft an, Atem und Puls beschleunigen sich etwas - aber das ist nichts im Vergleich zum Laufen beim Sturmangriff, beim Laufen auf zerpflügter und trockener Erde oder gar beim Laufen auf zerpflügter und lehmig-sumpfiger Erde, wenn die Füße und Beine dem Willen nicht mehr gehorchen wollten, weil sie im Lehm stecken blieben, während die Kugeln an uns vorbeipfiffen und die Granaten heulend einschlugen.
Mein Geist, so mein Eindruck, wird durch die leichte körperliche Beanspruchung umfassender und durchdringender, er fügt zusammen und empfindet bis auf den Grund.
Wir beten die Litanei vom Leiden Christi:
Herr, erbarme dich unser
Christus, erbarme dich unser
Herr, erbarme dich unser
Erbarmen - für uns? Wer, wer hat es? Davongekommen, ja ... noch alle Gliedmaßen, heil auch Gesicht . . . man kann mir sehen ins Gesicht ... Die Seele nahm wohl Schaden, doch "Psychotherapeuten" ... verlacht hätten wir sie ... Wallfahrt ... Frieden ... Frieden mit uns selbst?
Christus, höre uns
Christus, erhöre uns
Erhört? ... In gewissem Sinne, vielleicht ... als wir riefen nach Hilfe, nach Gott ... zu überleben ... das nackte Leben retten, nur dies ...
Gott Vater vom Himmel
Erbarme dich unser
Gott Sohn, Erlöser der Welt
Gott Heiliger Geist
Heilige Dreifaltigkeit, ein einiger Gott
Einigkeit ... ja, Voraussetzung von allem. Noch nie überwunden, wenn wir einig ... Solange wir einig - Deutsche, keine Parteien - solange unbesiegt - eigentlich ja bis zum Schluss ... im Feindesland waren wir, nicht umgekehrt! Nicht umgekehrt! ... Unfassbar war ... ist es, unbesiegt, vergraben im Feindesland - und die Bedingungen wurden diktiert - uns diktiert. Möglich das alles, weil keine Einheit mehr war ... viele Abweichler, Vaterlandsverräter sogar ...
Jesus, Mann der Schmerzen
Opferlamm für die Sünden der Welt
Hoherpriester des Neuen Bundes
König des Friedens
Im Ölgarten bis zum Tode betrübt
Mit blutigem Schweiß bedeckt
Erlebten auch wir, den blutigen Schweiß ... an unseren Körpern ... wir wissen, wie ihm zumute ... Er elender gefühlt als wir - als ich? Er: Gottes Sohn ... und ich??
In den Willen des Vaters ergeben
Ja, ergeben Leutnant … Kronprinz ... Kaiser … selbstverständlich war es … nach vier Jahren müde … unendlich müde … doch ergeben, immer noch … anderes nicht, nicht vorstellbar …
Von Judas verraten
Verraten, am Ende verraten, von Politik … unfassbar … Gründe, wo …
Wie ein Verbrecher gefesselt
Von den Jüngern verlassen
Von Petrus verleugnet
Von falschen Zeugen angeklagt
Vom Hohen Rat verworfen
Vor Pilatus die Wahrheit bezeugend
Von Geißeln zerschlagen
Mit Dornen gekrönt
Im Purpurmantel verspottet
Verspottet? Vielleicht von Stubenhockern … ohne Fronterfahrung - Heldentod anpreisend, um nicht selbst vorne sein zu müssen … gegeißelt, ja gegeißelt auch wir … von Granatsplittern der fremden Artillerie - auch der eigenen, bitter das, zu kurz geschossen - ins eigene Regiment - freundliches Feuer, komischer Begriff
Zum Tode verurteilt
Alle verurteilt - zum Tode, die, die in vorderster Linie … Sturmlauf vor - und zurück - und vor … Dann Versorgungsgänge nachts … Plötzlich: der Tag in der Nacht, taghell: Leuchtraketen … verhasstes Licht - Präsentation dem Feind … nah an die Erde sich schmiegen! Da: eine kleine Erhebung - Du Retterin in höchster Not - Schutz vor Feindeskugeln
Mit dem Kreuz beladen
Wie ein Lamm zur Schlachtbank geführt
Schlachtbank … auch ich habe erfahren die Bedeutung, erfahren! Ich kenn es … Wenn auch nicht tot, so abgeschlossen mit Leben, man musste abschließen … jede Handlung sonst unmöglich … im Geiste sterben - wie oft, wie oft musste ich es - immer wieder - das ist kriegshandeln: sterben für höheres Ziel, wie geglaubt … für Leben der Heimat, der Familie, des Vaterlands …
Der Kleider beraubt
Ans Kreuz genagelt
Unter Mörder und Verbrecher gezählt
Vom Durst gequält
Mit Galle und Essig getränkt
Für die Feinde betend
Betend für Feinde? … nein, keine Heiligen wir, keine Halbgötter … unser Geist und Horizont anders … wohl es gab Minuten, Stunden, wo man gedacht: Was hat der Franzos' uns getan, dass so viele sollen ihr Leben lan? Er ebenso arm dran wie wir … Doch: nicht zulassen solches, alles sonst zerstört, unseren Glauben … an Gott, an Kaiser, an König
Dem Schächer zur Rechten verzeihend
In Verlassenheit gestoßen
Gehorsam bis zum Tode
Ja, ja, ja, gehorsam bis in den Tod - das waren wir, Er: Vorbild; Wir: Nachahmer; nur der Zufall, vielleicht ein wenig Instinkt hat bewahrt vor Tod; gehorsam …
Das Haupt im Sterben neigend
Das Haupt -: Kameraden ich sah: das Haupt kein Haupt mehr, so auch: es konnte sich nicht neigen, nicht mehr … ! Oft auch kein Sterben mehr, vielmehr: Verlöschen, Auslöschen, Zuschütten, Vernichten. Lächerlich zu sagen: kein schöner Tod …
Von der Lanze durchbohrt
Unsere Lanze: das Seiten
gewehr, Stoßwaffe - ein halber Meter lang! Wirkt wie Lanze … noch näher, noch direkter - kostet Überwindung, das Zustoßen … musste geübt werden … mechanisiert, musste träumen davon, sollte normal, alltäglich werden … nur so möglich … Wichtig: man darf nicht ins Auge sehen, nicht dem Blick begegnen, der bricht … Keine Ruhe sonst, tagelang nicht … Grausam, eklig, der Befehl: Seitengewehr pflanzt auf! … Aber noch schlimmer - der Grabendolch … für Grabenkämpfe, für die Seitengewehr zu unhandlich … zu uneffizient … Nicht vorgesehen er, der Grabendolch … von Heeresleitung nicht vorgesehen … wie auch: keine Grabenkämpfe vorgesehen, nicht als Dauerzustand wenigstens ... Erfunden vom einfachen Soldaten, der Dolch … Krieg wurde zum Grabenkrieg - brutalste Kampfhandlung, aber doch Mann gegen Mann - ohne Technik, mit Nahwaffen … Grabendolch: handlichste, effizienteste Waffe … gehärteter Stahl, nichts sonst, nichts sonst …
In das Grab gelegt
Keine Zeit hierfür - oder nur in seltensten Fällen … weiter mussten wir - vor, zurück, egal; Grab ist Friede …
Abgestiegen zu den Toten
Darübersteigen mussten wir … bahnen Weg durch die Toten - vorwärts, zurück ... durch die Toten, lagen ungeschützt auf nackter Erde … Und bisweilen sie waren ihrer Kleider beraubt ... Oft auch nicht mehr kenntlich, nicht alle Gliedmaßen, keine Gesichtszüge mehr …
Auferstanden in Herrlichkeit
Jedes Überleben: Auferstehung für uns … aber nicht in Herrlichkeit … zu nah: der nächste Befehl vorzurücken … Auferstehung in Herrlichkeit: erst mit großem, heldenhaftem Sieg … uns verwehrt - nicht durch Feind, durch - "Freund" …
Wir armen Sünder - wir bitten dich, erhöre uns
Sünder wohl … vielleicht … denn was hat uns der
getan, dass er musste sein Leben lan?
Lass uns dein Leiden und Sterben zu Herzen gehen
Führe uns zu Umkehr und Buße
Reinige uns von Schuld und Sünde
Zeige uns den Weg des Kreuzes
Du hast gewiesen diesen Weg … zu deutlich! Gingen ihn, den Kreuz- und Sterbensweg … lagen auf Erde unter Hagel von Granaten, Schrapnells, Verhau von Stacheldraht … Dir gleich, unterm Kreuz … mit Dornen gekrönt - auch wir Blut und Wasser schwitzten, abgeschlossen mit Leben - wir lagen - die Zeit wurde uns Ewigkeit … dann das Wunder - standen auf, konnten zurück, fühlten uns wie drei Tage gelegen - und nun auferstanden, neu das Leben, geschenkt … aber … morgen schon: wieder leiden, wieder liegen … kein Trost, kein Trost mit Deinem Leiden … hättest Du gelitten für uns: ein für allemal gelitten für uns … gelitten für uns … dann erspart uns, dieses Leiden … Aber Du, Du sagtest: Jeder soll Kreuz nehmen auf sich … nachfolgen Dir …
Hilf uns, dein Kreuz zu tragen
Erschließe uns die im Kreuz verborgene Herrlichkeit
Uns verwehrt: diese Herrlichkeit … erreichbar nur mit dem großen letzten Sieg … aber uns verwehrt …
Lass uns in deinen Wunden geborgen sein
In Wunden geborgen sein … wie ist das?
Gib uns im Leid Geduld und Hoffnung
Lass die Gemeinschaft mit deinem Leiden der Welt zum
Segen werden
Wir hatten Gemeinschaft … aber wo Segen …?
Lehre uns Vergebung und Versöhnung
Zeige uns dein Antlitz in den Armen und Geschlagenen
Geschlagen … wohl … in mancher Hinsicht ... doch nicht im Felde … hielten aus … zurückgerufen wurden wir … von wem?
Stärke uns in der Stunde des Todes
Ja, absurd, aber wohl wahr: Stunde des normalen, bürgerlichen Todes, Todes im Bett: vielleicht auch hier Beistand nötig … wer weiß schon? Auch Bett-Tod könnte grässlich sein … Wenn auch komisch für uns, Erfahrene der Front … der bürgerliche Tod … Sterben bleibt Sterben, vielleicht Differenz klein … viel kleiner als gemeint … vielleicht Sterben im Bett - schmerzlicher, schwerer als Tod im Felde - schwerer, weil banal … so unendlich banal … schmerzlicher, weil vielleicht lang sich hinziehend … so unendlich langweilig - auch wenn es ein "Ringen" sollte sein, das langweiligste Ringen vielleicht … auf verlorenem Posten … dieser "Feind" nicht zu fassen … mal da, mal dort, überall … mächtiger, weil ohne Waffe, weil mit d e r Waffe kämpfend …
Führe uns durch dein Kreuz zur Herrlichkeit
Lass die Verstorbenen bei dir im Paradiese sein
Führe die Welt durch deinen Tod und deine Auferstehung zur Vollendung
Lamm Gottes, du nimmst hinweg die Sünden der Welt -
Verschone uns, o Herr
Lamm Gottes, du nimmst hinweg die Sünden der Welt -
Erhöre uns, o Herr
Lamm Gottes, du nimmst hinweg die Sünden der Welt -
Erbarme dich unser.
Wir beten dich an, Herr Jesus Christus, und preisen dich.
Denn durch dein heiliges Kreuz hast du die Welt erlöst.
Lasst uns beten: Wir bitten dich, Herr, sieh gnädig herab auf diese deine Familie, für die du die Qual des Kreuzes auf dich genommen hast. Gib uns die Kraft, dir jederzeit nachzufolgen und der Frucht deiner Erlösung teilhaft zu werden. Der du lebst und herrschst mit Gott dem Vater in der Einheit des Heiligen Geistes von Ewigkeit zu Ewigkeit.
Amen.
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Und so war am Ende des Krieges der Sinn des Krieges aufgebraucht, aufgezehrt, wir wussten nicht mehr so recht, was das alles soll. Man hatte sich verzehrt, man war zwar gewöhnt an den Krieg, aber eben diese Gewöhnung war der Tod oder die Ermattung unseres Willens, kurz: wir waren müde, im körperlichen und - mehr und entscheidender noch - im geistigen Sinne.
*