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"Erzähl mir nichts!"

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Der Zug hielt.

Und dies ist kein Roman.

Damit, lieber Leser, ist alles gesagt: Bewegung und Stillstand; sowie: Nichts ist bloß erdacht. Aller Inhalt, alle Handlung ist heraus; und es geht nicht um Fiktionen. Du, lieber Leser, kannst Dich auf anderes konzentrieren.

Bewegung und Stillstand. Wir rücken vor und geraten ins Stocken. Wir stocken und rücken vor. Bisweilen - bisweilen? - taumeln wir. Oder wir laufen sogar zurück.

Aber was habe ich eigentlich gesagt? "Zug" - was bedeutet dies? Nichts Eindeutiges, geradezu viel, sehr viel, erschreckend viel. Zug - das ist im Kontext meines Lebens, von dem Du, lieber Leser, etwas erfahren sollst, wenn Du nur willst: ein Gespann, in meinem Fall ein Gespann von zwei Kühen, zum Ziehen eines Wagens oder eines Pfluges; dann ein Fortbewegungsmittel, eines, das uns soeben nach Lichtenfels gebracht hat, den Ausgangspunkt unserer Kriegerwallfahrt nach Vierzehnheiligen; aber doch auch die unter dem Kommando eines Zugführers stehende militärische Teileinheit von etwa 35 Soldaten, die wiederum in Trupps zerfällt und deren übergeordnete Einheit die Kompanie ist. "Zug" bezeichnet aber auch die gewundene Vertiefung im Lauf einer Feuerwaffe, um dem Projektil zur Stabilisierung der Flugbahn einen Drall zu verleihen. Aber auch die Bedeutung ‚Zug als Fortbewegungsmittel' ist komplex: Ein Zug in Friedenszeiten ist etwas anderes als ein Zug, der Soldaten an die Front fährt, ein Zug, der zur Kriegerwallfahrt fährt, etwas anderes als ein Zug, in dem man möglichst rasch eine Wegstrecke zurücklegen will. Und stocken und vorrücken: Wie viele Arten davon gibt es wohl?

Ich überblicke die Zeilen und bemerke, dass ich in eine Art merkwürdige philologisch-philosophische Reflexion geraten bin. Dabei wollte ich doch nur etwas verdeutlichen, wollte mich nur verständlich machen. Ich bin ein einfacher Mann. Weder studiert noch Facharbeiter oder dergleichen. Doch bin ich, das darf ich, muss ich sagen, empfänglich für das Andere, Höhere, über die bloße Arbeit Hinausgehende. Reflexionen über das Leben, über "Gott und die Welt", gehören zu mir, wie ich auch einen Bezug zur Musik habe. Zudem habe ich in letzter Zeit viel gelesen, vor allem auch Literatur über den Krieg, zum Krieg. Ja, ich habe mich gebildet: nicht aus Frivolität oder Langeweile, sondern weil es mir notwendig schien, das zu verstehen, was mir widerfuhr. Das, was ich gelesen und, wie ich glaube, auch verstanden habe, half mir und hilft mir noch, mein einfaches Leben reflexiv zu beleuchten, ihm nicht mehr bloß verhaftet zu sein. Steht man zu nah vor einer Sache, sieht man sie nicht mehr als Ganzes. Ich war mir selbst zu nah, daher musste ich Abstand gewinnen - um mich nicht zu verlieren. Ich habe mein naives Empfinden, das Empfinden eines Menschen ohne höhere Schulbildung, dadurch auf eine andere Stufe gestellt. Zunächst erzeugte dieses Vorgehen ein großes Chaos. Ich konnte beides nicht zusammenbringen: das Ganzheitlich-Naive meines Lebens (und ich meine das gar nicht abfällig) und das reflexive Durchdringen(das ja nicht selten rein destruktiv verfährt). Aber nach und nach, ich rede hier nicht von Wochen, auch nicht von Monaten, sondern von Jahren, nach und nach, sage ich, konnte ich etwas "anfangen" mit dem, was ich las: Ich konnte es einordnen, konnte es beurteilen und bewerten, war dem Gelesenen nicht einfach ausgeliefert. Und nach und nach fanden sich mein naives Leben und mein reflexives Durchdringen zusammen. Sie haben sich zusammengeschlossen, zusammengebildet. Mit der reflexiven Durchdringung, mit der Arbeit des Begriffs, wie die Philosophen sagen, habe ich mein naives Dasein bewerten und verstehen gelernt - soweit man es eben verstehen kann. Denn dunkel ist - und bleibt! - das Leben, bleibt der - Tod. Die Reflexion nimmt die Dunkelheit nicht in dem Sinne weg, wie man, darf ich es sagen?, einem gefallenen Kameraden die Erkennungsmarke wegnimmt oder den Mantel, wenn der eigene zerschlissen ist. Ja, in einem Sinn, den ich hier, auf den ersten Seiten, nicht sogleich darlegen will, steigert die reflexive Durchdringung die Dunkelheit sogar. Durch die Reflexion wachsen beide: Klarheit und Dunkelheit. Wie sollte ich heute nicht froh sein, dass ich mich gebildet habe!

Dennoch glaube ich, mein Wesen als einfacher Mann behalten zu haben. Ja, manchmal kommt es mir sogar vor, dass ich erst durch dieses "Studium" recht eigentlich einfach geworden bin, da ich erst jetzt das Einfache und seinen Zusammenhang mit dem Abgeleiteten und Komplexen zu bewerten weiß. Was wir einfachen Leute den anderen voraushaben, ja voraushaben, ist dies: Wir nehmen die Dinge schwer; wir nehmen die Dinge schwer, ohne es zu wissen; "schwer" heißt: für sich, nicht nur und sogleich in Relation zu anderem. Wir kennen nicht schon tausend Gründe, warum es so ist und nicht anders, warum es aber auch hätte anders kommen können, wenn nur das oder jenes eingetroffen wäre. Erzähler, zumal die, die sich allwissend gebärden, gehören zu den Leuten, die die tausend Gründe kennen oder vielmehr so tun, als würden sie diese kennen. Ich will nichts erzählen. Ich bin kein Erzähler, geschweige denn ein "Romancier". Ich verachte sie alle, die Erzähler und "Romanciers": Sie erfinden, anstatt zu erleben. "Erzähl' mir nichts!" sagt unwillig und leicht erzürnt bisweilen ein Bekannter oder Freund zu mir, wenn ich ihm etwas zunächst Unglaubwürdiges mitteile. "Erzähl' mir nichts!" - das sollte man heute allen Erzählern entgegenrufen. Wenn ich hier, auf diesen Seiten, von mir berichte, so kann ich versichern, dass ich keine "Figur" bin in einem fiktiven Geschehen, sondern ein Mensch, ein Mensch durchaus. Es gibt somit auch keine "Figuren-Konstellationen", denn alle Personen, die hier vorkommen, sind wirkliche Menschen oder waren wirkliche Menschen. Ich habe erlebt - zu viel, zu Großes. Sind diese Erfahrungen überhaupt mitteilbar? Erzählen kann ich sie jedenfalls nicht, hätte ich das Erzählen auch erlernt gleich einem professionellen Erzähler. Und Du, lieber Leser, spendetest mir ein großes Lob, könntest Du sagen - ist es denn schon einmal gesagt worden in der langen Geschichte des Erzählens? -: Man glaubt, einen Geschichtenerzähler vor sich zu haben, und man erkennt - einfach nur einen Menschen, einen einfachen Menschen.

Aber vielleicht, lieber Leser, zweifelst Du auch daran, dass ein so einfacher Mensch wie ich das nun Folgende niederschreiben kann. Das wäre einerseits ein großes Lob für mich, fast schon das größtmögliche, andererseits aber auch betrüblich, denn Glaubwürdigkeit und Wahrhaftigkeit sind ja für ein Buch wie dieses sehr, sehr hohe Werte. Ich gebe hier für alle Zweifelnden zu bedenken: Wer sagt, es sei unmöglich, dass ein Mensch mit Volksschulbildung all das, was nun im Folgenden behandelt wird, sich aneignen und für den Leser verständlich niederschreiben kann, der, möchte ich mit der Erfahrung des Kriegers sagen, weiß nichts davon, dass ein von einer Sache geführter und von ihr eingenommener Mensch wahrlich mehr als nur Gewöhnliches und Erwartbares vollbringen kann.

Ich gebe aber auch zu - doch eigentlich ist da gar nichts "zuzugeben" -, dass ich in einigen Angelegenheiten und Problemen meinen Enkel, von ihm wird noch die Rede sein, oftmals um Rat gefragt habe, um den Rat dessen, der an der Akademie jahrelang Philosophie und andere Dinge studiert hat. Und ich gebe auch zu - wenn, wie gesagt, "zugeben" hier das rechte Wort ist -, dass einige Stellen des nun Vorliegenden in Zusammenarbeit oder im Gespräch mit ihm entstanden sind. Bei einigen Passagen wird dies offensichtlich sein, etwa wenn es gegen Ende dieser Ausführungen um die Übersetzung und das Verständnis einer griechischen und lateinischen Sentenz geht. Dieses gemeinsam Erörterte und Verhandelte habe ich unmittelbar nach dem Gespräch aus dem Gedächtnis niedergeschrieben. Es ist aber unmöglich, jetzt zu sagen, welcher Satz nun von mir und welcher von ihm, welcher von uns beiden ist.

Gar manches von dem, was ich hier schriftlich vortrage, habe ich schon Bekannten und Freunden vorgelesen. Und diese waren nicht selten überrascht ob der Thesen und der Ausführungen, die ich ihnen vortrug. Sie sagten dann gelegentlich: Das ist ja gar nicht von dir, das hast du von deinem studierten Enkel, und jetzt erzählst du das einfach nach. Ich gebe zu: Man kann so denken und es so sagen, und ich habe mich in diesen Fällen auch nicht weiter verteidigt. Ich hätte natürlich manches anführen können: meine eigenen Studien, die Gespräche mit meinem Enkel, die Diskussionen, auch die Einwände und Kritikpunkte, die ich ihm gegenüber aufgrund meiner reichen Kriegs- und Lebenserfahrungen machen und zu bedenken geben konnte. Aber ich ließ es bei diesen Vorwürfen. Einmal war bei solch einer Vorlesung zufällig mein Enkel dabei und musste sich diese Einwände anhören, also etwa, dass das alles "geklautes Zeug" und nicht von mir selbst sei. Da sagte mein Enkel, dass gerade in diesen Dingen nicht der kleinste Spalt zwischen ihm und mir sei. Wörtlich sagte er, und ich erinnere mich genau: "Ich und der Großvater sind eins." Aber niemand merkte, dass, was mein Enkel da vortrug, fast schon einen blasphemischen Touch hatte, denn es steht ja bei Johannes geschrieben: "Ich und der Vater sind eins."

Apropos Anspielungen: Oft haben wir, also mein Enkel und ich, uns gefragt, ob denn der Leser, der zukünftige Leser, all das verstehen wird, was wir da in gemeinsamen Diskussionen erdacht und erörtert haben. Ich bezweifle es. Obgleich ich, obgleich wir Spitzfindigkeiten und Abseitiges zu vermeiden suchten - das Vorliegende sollte ja schließlich von allen gelesen und verstanden werden -, obgleich wir also weit davon entfernt waren, die Kenntnisse und die Sprachen von Spezialisten in dieses Buch einzulassen, so sind doch hier und da Anspielungen zu lesen, die womöglich nicht jeder sogleich verstehen wird. Ich werde später, gegen das Ende hin, z. B. vom "führenden Vegetarier Deutschlands" reden, und es ist mir doch tatsächlich vorgekommen, als ich eine kleine Probelesung vor nicht einmal ungebildeten Menschen hielt, dass diese nicht wussten, wer das ist oder war, dieser "führende Vegetarier Deutschlands". So geschichtsvergessen sind wir mittlerweile geworden. Es wird Zeit, dies wieder in Erinnerung zu rufen. Es wird Zeit für dieses Buch.

Mein Geist ist trotz aller Bewegtheit ruhig. Durchstößt man die Oberfläche, so sind Welle und Wasser, Geformtes und Gestaltlos Unendliches, eins. Ich musste lernen, die Oberfläche zu durchstoßen, wie ich lernen musste, mit dem Seitengewehr zuzustoßen. Und vielleicht gelingt es mir, etwas von dieser Ruhe in die Sprache zu bringen, und alle Bewegung aus dieser Ruhe ihren Ursprung nehmen zu lassen, wohin sie auch wieder zurückfinden soll. Oft ist unser Geist, ist unser Herz ja bloß unruhig, unruhig auch in Dir, Herr. Das immer wieder neue Aufreißen der alten Wunde, die nie ganz vernarbte, gehört zu dieser Unruhe. Aber ein Dasein ist möglich, in dem Ruhe und Unruhe, Wund-Sein und Gesund-Sein eins sind, so wie Welle und Wasser eins sind, wenn man die Oberfläche durchstoßen hat.

Kriegerwallfahrt nach Vierzehnheiligen

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