Читать книгу Kriegerwallfahrt nach Vierzehnheiligen - Georg Enzor Vojer - Страница 5
Die Kriegerwallfahrt
ОглавлениеWas habe ich erlernt? Ich habe gelernt, ein Land zu bebauen und Weidenkörbe zu flechten. Und ich habe gelernt, die Waffe zu führen. Ich bearbeitete das Land und die Weiden. Und ich ging den Weg des Kriegers. Doch der Reihe nach: Wer bin ich, wo befinde ich mich? Ich heiße Georg Vojer und bin hier, zusammen mit meinem Enkel und Mitgliedern der Sodatenkameradschaft (ehemals Kriegerverein) Marktgraitz, auf der Kriegerwallfahrt nach Vierzehnheiligen. Hier ein Bild von mir. Was soll ich mich mit Worten beschreiben, wenn Du, lieber Leser, mich sehen kannst? Ich amüsiere mich geradezu über die "Romanciers", die verzweifelt-gequält versuchen, die Erscheinung eines Menschen in Worte zu fassen, wenn doch ein Bild - so man sehen gelernt hat (das wohl!) - mehr sagt als tausend Worte! Solche Versuche scheinen mir antiquiert, nicht zeitgemäß. Das hängt bei den "Romanciers" natürlich mit dem fiktiven Charakter ihres Machwerks zusammen: Sie könnten ja gar nichts vorweisen, selbst wenn sie wollten! Sind ihre "Figuren" doch alle erfunden - und sie müssten dann ja auch die Bilder erfinden. Eines Tages wird auch das geschehen! Das vorauszusehen ist nicht schwer.
Abb. 1
Abb. 2 Ein Krieger – etliche Jahre nach dem Krieg
Hier also mein Bild, bestimmt nicht erfunden. Auf den Bildern siehst Du eine eher leptosome denn eine athletische Gestalt, oder sagen wir vielleicht etwas positiver: eine leptosom-athletische Gestalt. Aber täusche Dich nicht! Es ist die ideale Kriegergestalt. 1,72 m groß, 67 kg schwer, muskulös und sehnig, kein überflüssiges Fett; und mit "nerviger Faust", wie Hölderlin einst schrieb. Hunger, Durst und Strapazen konnte und kann ich ohne Jammern ertragen, lange ertragen - wenn andere längst schon zusammengebrochen sind. Diese Gestalt, dieser Mensch, dem die Gestalt zugehört, der die Gestalt ist, war - und auch das, wohlgemerkt!, eine ideale Bedingung für einen Krieger - nicht frei von Todesfurcht, konnte diese aber im entscheidenden Augenblick immer wie- der überwinden, ja sie diente ihm, wenn ich es recht bedenke, als Stachel zu weit überdurchschnittlichen Leistungen.
Wenn wir hier schon bei Bildern sind: Hier noch mein offizielles Soldaten-Bild aus dem Jahre 1912, kurz vor Entlassung aus meiner zweijährigen Dienstzeit aufgenommen.
Abb. 3 und 4 Der Krieger als junger Mann, aufgenommen gegen Ende meiner Militärdienstzeit von 1910-1912
Stimmt es, dass Bilder mehr als tausend Worte sagen, so sind wir schon recht weit fortgeschritten in dem, was ich zu sagen habe und was keine Erzählung, kein Roman ist.
Zurück zu unserer Wallfahrt. Vierzehnheiligen wirst Du kennen. Es ist weit über die Grenzen meiner Heimat hinaus bekannt, eine kunsthistorische Kostbarkeit, wie man sagt. Aber darum geht es heute nicht - oder vielmehr: darum geht es heute nicht nur. Denn natürlich nehme auch ich die Kirche wahr in ihrer Schönheit, Erhabenheit. Das, was wir hier erleben, hat mit dieser Schönheit und Erhabenheit zu tun, aber es geht beileibe nicht in ihr auf.
Aber was ist eine Kriegerwallfahrt? Der Name stammt nicht von mir. Er ist offiziell - oder vielmehr: Er war offiziell. Denn seit einiger Zeit nennt man sie, sucht sie wenigstens so zu nennen: "Friedenswallfahrt". Dieser neue Name ist töricht, zumindest gedankenlos. Denn auch auf der Kriegerwallfahrt haben wir niemals zu er-beten versucht, dass es wieder einmal einen Krieg gibt; und die geführten Kriege wurden niemals glorifiziert. Wer in dem Krieg war, in dem ich war, glorifiziert den Krieg nicht, auch nicht im Nachhinein. Mag sein, dass man das, was mit dem Krieg einhergeht, wie etwa die Kameradschaft der Kämpfer, bewundert; aber damit verherrlicht man doch niemals den Krieg als solchen. Darüber wird noch zu sprechen sein. Bei einer Kriegerwallfahrt - ich bleibe bei diesem Namen -, wie sie einmal jährlich nach Vierzehnheiligen stattfindet, immer am ersten Maiensonntag, treffen sich die Mitglieder der Kriegervereine oder eben jetzt "Soldatenkameradschaften" (warum nicht "Friedensvereine"?) der näheren und weiteren Umgebung, um gemeinsam nach Vierzehnheiligen zu wallfahren. Welchen Zweck diese Wallfahrt hat? Sie ist, im Gedenken an den Krieg und das Soldatentum, zu Ehren Gottes, sie ist zu seinem Lobpreis. Aber was haben die Kriegervereine, was hat der Soldat mit dem "lieben" und "friedfertigen" Gott zu tun? Nun, darüber redet man nicht gerne, offiziell wenigstens nicht. Inoffiziell gesprochen, und damit offen und wahrhaftig, der Wahrheit verpflichtet, haben Gott und Krieg viel, sehr viel miteinander zu tun. War es nicht unsere Religion, die das Bild des Feindes im grundlegenden Sinne, des "Ur-" und "Erz-Feindes", erst geschaffen hat? Denn der Teufel als Widersacher Gottes (ein gestürzter Engel) ist ja geradezu das Musterbild des Feindes. Vor ihm, so die offizielle Lehre, muss man ständig auf der Hut sein. Denn ein für allemal besiegen kann man ihn nicht. Er steht immer wieder auf! Dann ist ja speziell unser Gott, der Gott des Christentums, ein Gott des Leidens, der Schmerzen und des Blutes, ein Gott, der gedemütigt wird mit dem schändlichsten aller Tode, dem Kreuzestod. Freilich ist unsere Religion auch eine Religion der Auferstehung. Doch die ist eine Sache des Glaubens, während Leid und Tod real, erfahrbar sind. Zu unserer Religion gehört eine Mutter, die ihren Sohn verliert, vor der Zeit und durch gewaltsame Eingriffe. Erzfeind, Tod, Schmerz, Leid, Blut, verlorene Söhne, trauernde Mütter und Väter: das alles gibt es im Krieg im Überfluss. Sie sind der Krieg. Mir zerreißt es noch heute das Herz, wenn ich daran denke, dass mein Sohn aus dem Zweiten Krieg nicht zurückgekehrt ist. Er gilt als vermisst. Aber das kann heute nur heißen: Niemand weiß, wo und auf welche Weise er gefallen ist. Da wird mein Herz noch schwerer. Offiziell, laut amtlicher Mitteilung des Englischen Roten Kreuzes an meine Frau, bin auch ich gefallen, und zwar - dieser Mitteilung zufolge - bei Ypern.
Abb. 5 Telegramm aus dem Felde vom 21 XII 17, das meinen "Tod" revidierte: "Unteroffizier Vojer gesund bei der Kompanie"
Wohl kämpfte ich bei Ypern, aber es handelte sich um eine Verwechslung. Wäre doch auch bei meinem Sohn dergleichen noch möglich. Aber das zu hoffen ist gegen alle Wahrscheinlichkeit, gegen alle Vernunft. Meine Frau, ein wenig schlichter noch als ich und mit allen Vor- und Nachteilen sehr katholisch erzogen (darüber wird noch zu sprechen sein), wartet aber noch immer auf die Heimkunft unseres Sohnes aus dem Zweiten Weltkrieg. Wartet noch immer. Und jedes Mal, wenn sie diesen Schlager "Junge, komm bald wieder, bald wieder nach Haus!" hört, entweicht ein Seufzer, der aus dem Herzen kommt, ihrem Mund. Dann sagt sie bisweilen, dass sie wartet auf den vermissten, den - verlorenen Sohn. Auch mir wird dann schwer ums Herz, ja mir stehen die Tränen in den Augen. Doch muss ich Haltung bewahren, damit das Elend nicht überhandnimmt.
Was also soll die Frage nach dem Zweck der Kriegerwallfahrt? Es gehört zur Unbekümmertheit, ja Verworrenheit dieser Zeit, die beinahe alles ins Gegenteil von dem verdreht, was es wirklich ist, dass man die Frage nach dem Zweck der Kriegerwallfahrt stellt, bei Wallfahrten, die Kegelclubs, Gemütlichkeitsvereine und dergleichen unternehmen, aber nicht. Was hat, diese Frage ist doch wohl eher angebracht, der Gemütlichkeitsverein auf einer Wallfahrt verloren, was hat die "Gemütlichkeit" mit unserer Religion gemein? Sogar die Pfarrer auf der Kanzel, die unsere alte Religion "zeitgemäß" machen wollen, kämen da ins Stottern.
Auf einer Kriegerwallfahrt versammeln sich die Mitglieder der Kriegervereine, also Männer, die im Ersten und Zweiten Weltkrieg gekämpft haben, zusammen mit ihren Angehörigen, so sie dabei sein wollen, morgens um 8.15 Uhr am Seubelsdorfer Kreuz, und das ist am Fuße des Berges oder besser der Anhöhe, auf der die Kirche Vierzehnheiligen steht, um gemeinsam zur Kirche zu wallfahren, um in der Kirche Gottesdienst zu feiern, um am Ehrenmal für die Gefallenen einen Kranz niederzulegen, während das Lied "Ich hatt' einen Kameraden" unter dem Abfeuern von drei Böllerschüssen erklingt. Und nicht erst diese Böllerschüsse rufen zurück die Detonationen ungeheuren Ausmaßes, denen ich als Infanterist im Ersten Weltkrieg an der Westfront ausgesetzt war.
Dies ist der äußerliche und gleichsam protokollarische Ablauf der Wallfahrt. Innerlich können sich andere und wesentlichere Szenen abspielen. Dann kann es vorkommen, dass, angeregt durch die wesentlichen Merkmale unserer Religion - Erzfeind, Leid, Kreuz, Blut, Verlust des Sohnes, Schmerz der Mutter -, der Krieg noch einmal ersteht, noch einmal, sage ich, aufsteht und fürchterlich dasteht: als wäre er auch heute noch.
*
Meine Stimme, mein Körper soll beben, soll werden zum Resonanzboden meiner Gedanken, meiner Stimmungen. Und nicht möge der Leser, der Hörer weglaufen, weil er solche Schwingung nicht mehr erträgt!
*