Читать книгу Kriegerwallfahrt nach Vierzehnheiligen - Georg Enzor Vojer - Страница 7
Gericht Verdun
ОглавлениеIch kämpfte in schwersten Schlachten den über vier Jahre dauernden Krieg an Frankreichs Front entlang bis hinauf nach Flandern, von Gottes Segen reich beschenkt und also beschützt. Am 18. August, mittags 2 Uhr, kam ich zum ersten Mal ins Gefecht, erhielt ich die Feuertaufe. Es war in den Vogesen bei Weiler. Mein Name "Vojer" hat übrigens nichts mit Feuer zu tun, obgleich ich ihn so ausspreche. Zunächst war meine Vermutung - und das hätte die Angelegenheit noch brisanter gemacht -, dass mein Familienname französischen Ursprungs ist und auf eingewanderte Hugenotten zurückgeht. Es ist belegt, dass in Erlangen (Fürstentum Ansbach) und Bayreuth (Fürstentum Bayreuth), unweit meines Heimatdorfs, Hugenotten aufgenommen wurden. Hätte sich meine Vermutung bewahrheitet, dann hätte ich in Frankreich gar auf meine Herkunft geschossen. Aber diesen Gedanken musste - durfte ich wieder verwerfen, denn der Name "Vojer" ist, geschrieben noch als "Fohÿer", in der Nachbargemeinde Schwürbitz seit 1660 belegt. Der große Hugenotten-Strom nach Deutschland setzte aber erst um das Jahr 1685 ein. Es ist also sehr unwahrscheinlich, dass französisches Blut in meinen Adern fließt. Aber ganz ausschließen kann man es nicht.
War ich tapfer, war ich ein guter Krieger? Ich denke doch. Ich erwähne hier meine zwei Orden: das Eiserne Kreuz 2. Klasse und das bayerische Militärverdienstkreuz 3. Klasse mit Schwertern. Da diese Orden sehr oft, millionenfach, vergeben wurden, sagt das nicht viel, ich weiß. Aber ich will hier versichern, dass es bisweilen, und nicht nur bisweilen, so war, dass wir unter Einsatz unseres Lebens Heldenhaftes vollbrachten und unsere Offiziere, oft gar nicht am eigentlich gefährlichen Geschehen beteiligt, dafür die Orden kassiert haben. Nun ja. Vielleicht mehr als meine beiden Orden sagt folgende Begebenheit aus: Bei einem Sturmangriff auf die französischen Stellungen zerschoss man mir, wohl ein Streifschuss oder ein Granatsplitter, den Befestigungsriemen meines Stahlhelms. Noch heute ist davon eine kleine Narbe an meinem Kinn zu sehen. Wie habe ich damals reagiert? Nun, ich war, einfach und ohne Pathos gesagt, verblüfft - und später dann auch dankbar dafür, dass ich mit dem Leben davongekommen bin. Zeit zum Ausruhen und Zittern hatte ich während dieses Sturmangriffes nicht. Das hätte mich wohl das Leben gekostet. Deine Überlebenschancen vermindern sich rapide, wenn Du während eines Angriffs zu lange an einem Ort verharrst.
Ich nenne zunächst nur einen Namen: "Verdun". Ich war dabei. Ich wurde verlegt zur Offensive. Die Tage und Wochen vor der Offensive, ich betone: vor der Offensive, waren, nun ja, ich kann es nicht anders sagen: schön. Wir hatten genug zu essen und zu trinken, gutes Essen, auch Alkohol, keine Feindberührung, wohl aber Kontakt zu französischen Mädchen, die uns gar nicht feindlich gesinnt waren. Es entwickelte sich in der Tat das, was man heute einen "Flirt" nennt. Sogar einige Brocken Französisch haben wir von unseren Offizieren gelernt, um mit den Mädchen, hübschen Mädchen übrigens, in Kontakt treten zu können. "Mademoiselles, vous êtes jolie ... Revenir de-main ...? Bien? Très bien!" Meist lächelten sie dann, die Mädchen. "Konkretes" hat sich nicht ergeben, in unserem Zug wenigstens nicht; nicht, dass ich wüsste. Aber gehört hat man immer wieder davon, dass sich etwas ergeben hätte. Bei den Offizieren vielleicht. "Krieg" ist im Französischen übrigens weiblichen Geschlechts. "La Grande Guerre" oder - seltener - "La Première Guerre mondiale" sagen die Franzosen zum Ersten Krieg.
Aber dann ging es los. Die Schönen waren nichts als des Schrecklichen Anfang. Von diesem Schrecklichen kann man sich keine Vorstellung machen, wenn man nicht dabei war. Man kann einige Zahlen nennen, aber was heißt das schon. Den ersten Schuss gab die Artillerie mit dem "Langen Max" ab, einem 38-cm-Kampfgeschütz. Das Geschoss schlug in der Innenstadt von Verdun ein. Darauf eröffneten 1 225 Geschütze das Feuer: auf die französischen Frontlinien, auf rückwärtige Stellungen, auf Straßen, Bahnhöfe und die Stadt Verdun. Der Angriffsplan hatte übrigens den Decknamen "Gericht". Geschossen wurde den ganzen Tag. Gegen 16.00 Uhr ging man zum Trommelfeuer über. Die Geschütze werden dann nicht mehr punktuell ausgerichtet, sondern so schnell wie möglich für den nächsten Schuss geladen. Das Bombardement ist flächendeckend. Das hat, ich habe es umgekehrt ja selbst erlebt, eine ungeheure Wirkung auf das Gemüt des Infanteristen. Es ist schlicht demoralisierend - und wenn das Wort, im grundlegenden Sinne verstanden, angebracht ist, dann hier -, es ist schlicht demoralisierend, stundenlang in seinem Unterstand beschossen zu werden - bevor man auch nur einen Schuss aus dem eigenen Gewehr abgeben kann. Kennt der Leser die Sekunden oder auch nur Zehntelsekunden, die vergehen vom ersten Hören eines leichten Sirrens, das das Fliegen des Geschosses in der Luft versursacht, bis zum Einschlagen und zur Detonation? Es ist die spannendste, die Nerven anspannendste Zeit, die man sich denken kann. In diesen Bruchteilen von Sekunden konzentriert sich die Zeit: sie ist erfüllt, das Gericht ist nahe, man schließt ab - wenn man denn die psychische Kraft hierzu noch hat. Und wenn das Bombardement zum Trommelfeuer übergeht, dann kann man noch nicht einmal mehr dieses Geräusch als ein einzelnes vernehmen, dann ergibt sich das weiße Rauschen des allgegenwärtigen, in der Luft liegenden Todes. Nah ist dann der Tod, allgegenwärtig und nicht zu fassen.
Nach diesem Trommelfeuer auf die Franzosen mussten wir dann auf Befehl losstürmen: Mit dem Gewehr und mit Handgranaten versehen, mussten wir das Niemandsland, schrecklich zugerichtet durch die vielen Granaten, überqueren und die französischen Gräben stürmen. Es gab, wenigstens bei meinem Trupp und meiner Kompanie, massiven Widerstand der Franzosen. Wir hatten geglaubt, die Artillerie habe schon alles "erledigt", "vernichtet", wie es offiziell heißt: "den Feind vernichten". Aber dem war nicht so. Es war ein Nahkampf, Mann gegen Mann, geführt mit Feuer- und Stichwaffen. Wir obsiegten und setzten uns in den vorderen französischen Gräben fest.
Auch in der Nacht ließen die Kämpfe nicht nach. Immer hin durften wir uns etwas ausruhen, indem wir von der vorderen Frontlinie zurückgenommen und durch andere Einheiten ersetzt wurden. Aber an Schlaf war nicht oder kaum zu denken. Aller Lärm des Krieges blieb ja: der Einschlag der Granaten, das Maschinengewehrfeuer, der helle, weithin sichtbare Schein der Flammenwerfer - eine schrecklich-wirkungsvolle Waffe, die Menschen zu brennenden Fackeln macht oder sogleich verkohlt. Und dann war es ja auch kalt, sehr kalt, zu kalt zum Schlafen. Höchstens kurz einnicken konnte man bisweilen. Aber im Grunde waren Erschöpfung und Anspannung auch zu groß, um Schlaf zu finden. Der Körper rebelliert auf seine Weise; er rebelliert gegen die Erschöpfung mit Erregtheit und falscher Wachheit. Jedenfalls war an Ruhe nicht zu denken. Und dann hatte man ja immer das Jammern und Stöhnen der Sterbenden im Ohr, die Hilferufe der Verletzten, die schnell behandelt, wenigstens aus der unmittelbaren Kampfzone getragen werden wollten. Oft wusste man im Halbschlaf nicht, ob man die Geräusche und Schreie vom letzten Angriff noch hörte oder ob wirklich einer jammerte und nach den Sanitätern schrie.
Und das war nur der erste Tag, der erste Tag von 300 Tagen dieser furchtbaren Schlacht. Dauerte in früheren Kriegen eine Schlacht einige Stunden, höchstens einmal wenige Tage, so waren es nun 300; und diese Schlacht war nur eine von vielen in diesem unseligen Krieg. Wie kam es, dass sich der Krieg so verändern konnte? Wo lagen die Ursachen?
Immerhin konnten wir zunächst Geländegewinne machen und auch zwei Forts einnehmen - Geländegewinne, die am Ende der Offensive aber größtenteils wieder zunichte gemacht wurden, da der Feind standhielt und sogar zum Gegenangriff übergehen konnte.
Verdun war, wie es unser (ich setze das "unser" wohl eher in Anführungszeichen), wie es "unser" General Falkenhayn gesagt und auch gewollt hatte, eine Blutmühle, freilich auch für uns, nicht allein für die Franzosen. Die Kämpfe wurden im Verlauf immer erbitterter geführt, man wollte mit unüberbietbarer Entschlossenheit, Willensstärke und Gewalt den Feind zur Aufgabe seiner Stellungen zwingen. Hierfür wurden immer neue Konzepte entwickelt, teuflische Konzepte, wie etwa das der Unterminierung der feindlichen Stellungen: Es wurden unterirdische Gänge hin zu den feindlichen Stellungen gegraben, lange Stollen, oft kilometerlang, um unter den französischen Stellungen große Mengen Sprengstoffs deponieren zu können, die den Franzmännern "Feuer unter dem Arsch" machen sollten. Ich habe erlebt, wie bei solchen Grab- und Schachtarbeiten die eigenen Leute verschüttet wurden und dadurch zu Tode kamen.
Das Nervenaufreibende begann aber schon vor dem eigentlichen Angriff. Wir waren für den 12. Februar 1916 zum Losschlagen gerüstet und bereit. Doch an diesem Tag war dichter Nebel. Schlecht für die Artillerie, die ihre Geschütze nicht ausrichten kann. Der Angriff wird verschoben. Am 13.2. wird das Wetter noch schlechter, es kommen Orkane mit schweren Regengüssen. Unsere Gräben laufen voll mit Wasser, und unsere Kleidung wird durchnässt. Wir müssen sie - bei Minusgraden! - am Leibe mit unserer Körperwärme trocknen. Soweit eben möglich. Noch heute leide ich schubweise an Gliederreißen. Erst am 21.2. - soll man sagen: endlich? - begann die Offensive.
Es ging voran, wenngleich langsamer als erwartet. Erst am vierten Tag konnten wir nennenswerte Geländegewinne machen, und am fünften Tag hatten wir, ich selbst war nicht beteiligt, einen spektakulären Erfolg zu verzeichnen: Wir nahmen das Fort Douaumont ein, das modernste und größte Fort, das die Franzosen besaßen. Das Fort war kaum besetzt, so dass nur 60 Gefangene gemacht werden konnten. Im Grunde hatte die Besatzung nur das Geschütz des Panzerturms bedient. Die Eroberung war so ein Leichtes, und sie hatte für uns, die Kämpfenden, den großen Vorteil, dass wir uns nun unter dem meterdicken Beton vom Gefecht ausruhen und in Sicherheit glauben konnten, wenigstens für einige Stunden. Leider war das Geschütz für uns nicht von Bedeutung, da es nur nach Westen und Norden auszurichten war. Aber immerhin hatten wir mit dem Turm einen guten Aussichts- und Überblickspunkt für die folgenden Operationen gewonnen. Doch so schnell, ich greife jetzt vor, wir das Fort genommen hatten, so schnell musste es auch verlassen werden, und zwar im Oktober 1916. Die Franzosen hatten ein neues 40-cm-Geschütz entwickelt, das den Beton der Forts zu durchschlagen vermochte. Der sechste Treffer traf das Munitionsdepot, die MG-Munition sowie die Leuchtgeschosse explodierten, und die Handgranaten lagerten im Nebenraum! Da das Feuer nicht mehr zu löschen war, entschloss sich der Kommandant, das Fort zu räumen. Welch ein Hohn! Es waren die Franzosen, die das Geschütz entwickelten, mit dem sie den von ihnen selbst gegossenen und für die nächste Ewigkeit als undurchdringbar geltenden Beton durchschlugen.
Am sechsten Tag, glaube es nur!, standen wir kurz vor dem endgültigen Durchbruch. Wir waren zwar selbst sehr erschöpft, und persönlich war ich sogar ein wenig verwirrt. Mir war wirr im Kopf. Denn oft war es nicht ich, der da kämpfte, sondern Unteroffizier Vojer. Ich sah ihm dabei zu. Und war gelegentlich stolz auf ihn. Aber das ist der Kampf im Höhepunkt, wo nicht "ich" kämpfe, sondern wo "es" kämpft, wo man tut, was zu tun ist: das Notwendige, nicht das Beliebige; wo man das Notwendige unmittelbar-instinktiv, reflexhaft tut, durch Reflexion nicht verzögert. Es ist ein mehr als persönlicher Kampf - mechanisch, transzendent, geradezu mystisch und unheimlich. Gelegentlich kann dann das Gefühl der Unverwundbarkeit aufkommen; oder die Vorstellung, dass der Tod eine Erlösung, dass er nur ein Tor ist, durch das man geht, um in einer lichteren Welt anzukommen. Das Leben nehmen und das Leben hingeben - das wird in solchen Augenblicken die selbstverständlichste Sache der Welt, nicht weiter von Bedeutung, eine anthropologische Konstante, wie man gelehrterweise auch zu sagen pflegt; eine Konstante, die in Zeiten des Friedens schlummert: potentiell da ist, aber nicht aktualisiert wird.
Ich sprach vom Kampf in seiner Hochform und dass diese erst entsteht, wenn Bewusstsein und kalkulierendes Denken eingeschränkt, zurückgedämmt sind. In solchen Augenblicken kann dann eine Einstellung aufkommen, wie ich sie verbalisiert erst Jahrzehnte später fand, nämlich in folgenden Gedichtversen: "Leben - niederer Wahn! / Traum für Knaben und Knechte". Ja, diese Vorstellung konnte in einem erwachen in den Hochformen des Kampfes. Leben war dann etwas für Knaben und Knechte; aber der Freie, der Mann, der freie Mann, der war bereit, den Trug des Lebens zu durchschauen, das Leben hinzugeben für etwas anderes, für etwas, das zu beschreiben schwer ist und für das in unserer Zeit Kaiser, Vaterland und Gott standen. "Leben - niederer Wahn! / Traum für Knaben und Knechte." Man war in den Augenblicken, in denen solche Gedanken aufkamen, kein Knecht mehr; in solchen Augenblicken fasste man ins Unendliche, berührte das Unendliche, konnte über den Tod das Tor durchschreiten, das ins Unendliche führte. Aber solche Augenblicke waren die Ausnahme. In der Regel ängstigte man sich vor dem Geschehen. Man sah diese Angst auch noch denen an, die aus dem Trommelfeuer zurückkehrten und die wir, die ausgeruhten Kämpfer, abzulösen hatten: Dieser Blick der Zurückkehrenden war leer, gänzlich ohne Ausdruck, es war der Blick von Abwesenden, fast Entrückten; der Blick fixierte nichts mehr, es war kein Präsenzblick, er hielt nichts mehr, war noch nicht einmal mehr verstört, in diesem Augenblick noch nicht einmal mehr ängstlich zu nennen. Der Blick hatte sich ent-ängstigt: durch allumfassende Angst die Angst hinter sich gelassen. Dann wussten wir, was uns die nächsten Stunden und Tage bevorstehen würde. Und es ist ja beinahe ein Wunder zu nennen, dass wir die Trommelfeuer, sie wurden auch "Vernichtungsfeuer" genannt, so lange ertragen konnten, ein Wunder, dass man psychisch das alles verkraftete. Denn es ist eine ungeheure Belastung, wenn Du im Graben stehst und der Gegner das Artilleriefeuer eröffnet. Ein Volltreffer mitten in den Graben - da nutzt auch die Brust-, Rücken- und Seitenwehr nichts. Dann ist es aus. Selbst wenn Du im Unterstand stehst oder liegst, ist die Chance, dass Du bei einem Volltreffer lebend davonkommst, ziemlich gering. Diese Anspannung, diese Erwartung des nächsten Einschlages - es kostet einige Überwindung, nicht loszubrüllen aus Verzweiflung, nicht loszuheulen. Ich leistete diese Überwindung. Freilich schlug sich bei mir die Nervosität beim fortwährenden Beschuss feindlicher Artillerie auf den Magen. Warum sollte ich es nicht gestehen? Die Seele, der Geist: Sie suchen sich ein Ventil, um Luft, um Spannung abzulassen. Bei mir war es der Magen, warum sollte ich es nicht gestehen. Der Geist hielt stand, aber der Magen nicht. Mein Magen war, lange Zeit noch nach dem Krieg, ständig überreizt. Man kann durchaus sagen: Ich war krank. Einen Arzt habe ich deswegen nicht aufgesucht. Jahre nach dem Krieg noch hatte ich Probleme, ein Bier zu behalten, so ich mir eines gönnte. Wenn es mir heute besser geht, so waren es vor allem zwei in freier Natur wachsende Pflanzen, die das ermöglichten: die Schafgarbe und die Preiselbeere. Bei beiden waren es wohl vor allem die in ihnen enthaltenen Bitterstoffe, die mich heilten. Die Schafgarbe wird als Tee zubereitet; die Preiselbeeren werden mit nur wenig Zucker eingekocht und als eine Art Juice als Beilage gegessen. Ich habe diesen beiden Pflanzen, die in meiner Heimat zu Genüge zu finden, also unentgeltlich zu haben sind, sehr, sehr viel zu verdanken. Ich behandelte mich selbst, einen Arzt hätte man damals nicht behelligt mit diesen Angelegenheiten. Eher durch Zufall bemerkte ich, dass mir diese beiden "Medikamente" halfen. Noch heute nehme ich sie zu mir und bin dankbar wie damals. Die Natur heilt, der Arzt, in dem Falle ich selbst, sorgt, besorgt nur.
Zurück zum Schlachtverlauf. Die französischen Einheiten waren nach den ersten sechs Tagen sehr geschwächt, sie konnten nicht sogleich durch neue Kämpfer abgelöst werden. In den Reihen des Feindes wuchs das Chaos. Und wir standen fünf Kilometer vor Verdun! Die französischen Führer waren geneigt, sich vom rechten Maas-Ufer zurückzuziehen. Doch dann kam dieser General Pétain! Zum Oberbefehlshaber der Verdun-Front ernannt, konnte er seine Kämpfer zu einer letzten Kraftanstrengung aufrütteln, nicht zuletzt auch durch die Androhung des Kriegsgerichts beim geringsten Rückzug. Vier Tage lang ging es noch hoch her unter unsäglichen Strapazen und Willensermahnungen. Dann waren auch wir erschöpft, völlig erschöpft. Es lässt sich nicht beschreiben, auch nicht nachempfinden, was es heißt, zehn Tage und zehn Nächte in höchster Anspannung zu sein: zu frieren, zu töten, den Tod, das Krepieren zu sehen, zu hören, zu riechen, über verletzte, tote oder auch nur halbtote Körper hinwegspringen, auf Körper treten zu müssen, in aufgerissene und mit Erde vermischte Körper, in verwesendes Fleisch, aufgeplatztes Gedärm und Exkremente hineingreifen zu müssen, Körperteile aus der Erde herausragen zu sehen, Stiefel zu sehen, in denen der abgerissene Unterschenkel steckt - vermengt alles mit Schnee, Dreck, Steinen, Wasser, Schlamm, Holz und Eisen. Ich sah so viele sterben, sah so viele Tote: zerschossen und zerfetzt. Aber am unheimlichsten, gespenstischsten war mir ein Toter, dem man keinerlei äußere Verletzungen ansah: Der Luftdruck einer explodierenden Granate hatte seine inneren Organe zerstört - ohne dass er durch Granatsplitter äußerlich verletzt worden wäre.
Von unserer Kompanie war am Ende dieser Tage mehr als die Hälfte gefallen, mein Zug bestand nur noch aus 12 Mann - wie sollten wir da noch geordnet kämpfen?
Auf dem Höhepunkt dieser langen Schlacht hatten wir Verdun zwar zu drei Vierteln eingekesselt, aber es gab noch einen Verbindungsweg ins Hinterland, auf dem die Franzosen mit frischen Kämpfern und neuem Material, vor allem auch mit schweren Geschützen, versorgt werden konnten. Jeden Tag, jede Stunde. Zweifellos eine logistische Glanzleistung, wie wir sie vor und während der Schlacht ja auch selbst erbringen mussten. Die sogenannten rückwärtigen Dienste waren in diesem Krieg ja so wichtig wie die Frontkämpfe selbst. Denn ohne sie hätte man an der Front nur sehr kurze Zeit kämpfen können. 1916 benötigte eine Infanteriedivision pro Tag annähernd 150 Tonnen Material - Baumaterial, Munition, Lebensmittel. Pétain hatte sofort erkannt, dass Mobilität gefordert ist und nun an erster Stelle zu stehen hätte: Er entwickelte zunächst und mit aller Dringlichkeit ein Straßeninstandsetzungsprogramm! Eine Million Tonnen Schotter wurden für die Instandhaltung der Departementstraße von Bar-le-Duc nach Verdun verbraucht. Die Straße wurde zur "Heiligen Straße", zum "Heiligen Weg" - "Voie Sacrée". "Voie Sacrée": Ist es nicht merkwürdig, dass in meinem Namen Vojer (Voier, Voyer) auch "Voie" steckt? Auf diesem Heiligen Weg, um nicht zu sagen: Wallfahrtsweg, wurden mit 3 500 Lastwagen wöchentlich 90 000 Mann und 50 000 Tonnen Material befördert. Wäre es uns gelungen, diese Straße zu zerstören, so wäre den Franzosen bald der Nachschub in allen Bereichen ausgegangen.
Aber so bekamen die Franzosen ihr Chaos, ihre Panik in den Griff und stabilisierten die Front. Es gab für uns keine nennenswerten Geländegewinne mehr. Nun wurde um jeden Granattrichter, fast jedes Maulwurfsloch gekämpft. Der Boden war zerwühlt und zerpflügt, ein einziges Trichterfeld, die Gräben waren längst zugeschüttet von den durch Bomben und Granaten herumgewirbelten Erdmassen, und der Wald, von der Artillerie schrecklich zugerichtet, war schon lange kein Wald mehr.
Die Franzosen hatten in meinem Kampfgebiet einen Geländevorteil, weil sie sich auf einer Höhe hatten einnisten können. Sie konnten fast alles überblicken - und mit Maschinengewehrfeuer bestreichen. Der ganze Nachschub musste nun in der Nacht herangebracht werden - und selbst da war es gefährlich, denn Leuchtkugeln erhellten oft die Landschaft. Die Nacht zum Tag machen: eine Erfindung des Krieges. Wir hatten große Versorgungsprobleme, vor allem an frischem Wasser mangelte es. Ein Teich war zwar in der Nähe, aber voller Leichen. Der Durst, zumal an heißen Tagen, war bisweilen so unerträglich, dass wir unseren Urin tranken. War es sehr warm, so gruben wir eine Blechbüchse mit Urin in die Erde ein; heruntergekühlt erregte das "Getränk" etwas weniger Ekel. Und im Sommer die Ratten! Zunächst sah man sie nur vereinzelt, dann kamen sie zu Hunderten, schließlich waren es Tausende. Sie behelligten uns schon am Tag. Und in der Nacht liefen sie oft über uns hinweg. Überall die Ratten, die fraßen, was wir wegwarfen, die aber auch all das zurichteten, was sich an toten Körpern in und auf der Erde befand. Sie zerfleischten noch kenntliche Gesichter, fraßen die Augen heraus, so dass einen die Augenhöhlen anstarrten. Am schlimmsten aber, doch Steigerungen haben hier etwas Willkürliches, ja Lächerliches, war der Verwesungsgeruch, der im Sommer unerträglich war. Als ob wir noch eine Mahnung an den Tod gebraucht hätten! Der ganze Krieg war ja ein Memento Mori, selbst an den Tagen, wo man sich im Ruheort, also außerhalb der Reichweite der feindlichen Artillerie, ausruhen konnte.
Öfters wurde ich für den nächtlichen Transport ausgewählt. Wir mussten Munition und Verpflegung in das vordere Grabensystem schaffen. Dabei hatte man sich äußerst ruhig und unauffällig zu bewegen, da die Franzosen den Weg von ihrem höheren Platz aus einsehen konnten. Und einmal gerieten wir tatsächlich unter Feuer. Die Franzosen mochten trotz der Dunkelheit wohl etwas bemerkt oder auch nur erahnt haben und erhellten die Gegend mit mehreren Leuchtkugeln. Schnell musste man Deckung suchen, was zwei Kameraden nicht gelang: Einer fiel, der andere wurde verwundet. Dennoch ging ich, nachdem ich den am Bein verwundeten Kameraden verbunden hatte, weiter nach vorne. Wieder zurückzugehen wäre nicht weniger gefährlich gewesen - und ich hätte dann unseren Auftrag nicht ausführen können. Mein Eisernes Kreuz bekam ich übrigens für diesen Einsatz, den ich trotz heftigen Beschusses ordnungsgemäß durchgeführt hatte. Ich bekam, damals schon Unteroffizier, den Orden Zweiter Klasse, mein Kompanieführer, ein Leutnant, der für das Unternehmen den Befehl gab, aber nicht unmittelbar beteiligt war, die Erste Klasse.
Mitte Juni, ich glaube, es war der 20. Juni, eröffneten wir eine neue Offensive, um den elenden Stellungskrieg zu beenden. Diesmal begann das Vorbereitungsfeuer der Artillerie bereits in der Nacht. Geschossen wurden auch Gasgranaten. Die Franzosen wurden überrascht. Wir zogen die Masken auf. Selbst Pferde habe ich gesehen, die Masken trugen. Erneut bricht bei den Franzosen Panik aus, und wir können uns bis auf vier Kilometer an die Vororte Verduns herankämpfen. Aber dem Gegner gelingt es wiederum, die Linien zu schließen. Weiß Gott, woher er die Energie nahm. Aber woher nahmen wir unsere? Doch was heißt "die Linien schließen"? Was stellst Du Dir darunter vor, mein Leser? Welches Bild entsteht in Deinem Kopf? "Die Linien schließen" - das heißt: schrecklicher Nahkampf, barbarisch, hart, Mann gegen Mann. Zögerst Du, bist Du nicht schnell genug, hast Du schon verloren. Tatsächlich hatte diese Art von Kampf viel mit Schnelligkeit, Reaktionsschnelligkeit, zu tun. Vielleicht habe ich deshalb überlebt. Denn schon während meines Militärdienstes von 1910-1912 war ich einer der Schnellsten, Beweglichsten.
Manche Orte, Stellen, Flecken waren besonders heftig umkämpft. Sie wurden immer wieder verloren; so mussten sie immer wieder zurückerobert werden. Das war wie im absurden Theater. (Ich kenne den Begriff "absurdes Theater" von meinem Enkel, nicht aus eigener Anschauung und Erfahrung. Der Begriff hat meine Abneigung gegen jegliche Form der bloßen Schriftstellerei bestärkt.)
Am 11. Juli kam es dann zur nächsten und letzten Offensive - und erneut hatten wir zunächst Erfolg und kamen bis auf 2,5 km an die Stadt heran, konnten aber das Fort Souville, das letzte Hindernis vor Verdun, nicht nehmen - trotz einer allerletzten Entschlossenheit mit entsprechend schrecklichen Verlusten. Die Schlacht um Verdun war endgültig verloren. Nein, nicht verloren. Aber sie war auch nicht erfolgreich, denn das wäre sie nur gewesen, hätten wir Verdun erobern und Richtung Paris marschieren können.
Im Rückblick, das heißt auch mit den Erfahrungen des Zweiten Krieges im Rücken, fehlte dem Angriff auf Verdun die Dynamik. Es gelang uns nicht, mit aller Wucht vorwärtszustürmen, so wie es die Oberbefehlshaber, allen voran der Kronprinz von Preußen, angedacht hatten. In den ersten Tagen der Schlacht, also vom 21.-25.2., konnten wir im Durchschnitt nur zwei km pro Tag vorrücken. Und wo ein Vormarsch von 10-12 km in zwei Tagen geplant war, eroberten wir manchmal nur wenige hundert Meter. Es waren vor allem die nicht ausgeschalteten MG-Nester der Franzosen, die ein schnelleres Vorrücken verhinderten. Mit einem MG, geschützt und gut postiert, so dass man mit ihm das Terrain, auf dem sich der Feind bewegt, auf ganzer Fläche zu bestreichen fähig ist, kann man ja Hunderte von Angreifern, die ihre Deckung verlassen müssen, niedermachen. Die Verlustrate des Angreifers beim Springen von Granatloch zu Granatloch ist enorm. Nach allem, was ich gesehen und erfahren habe, dürfte sie bei mehr als 50 Prozent liegen. Auch wenn Einheiten nachrücken, bleibt diese Verlustquote. Man kann im freien Feld dann Deckungen aus Leichen bauen. Du kannst nur darauf hoffen, dass das MG einmal Ladehemmung hat oder der Lauf zu heiß wird; oder dass irgendwann die Munition ausgehen wird! Die MG-Nester hätten zerstört, vernichtet werden müssen! Dafür war unsere Artillerie zuständig. Und tatsächlich setzte sich im Ersten Krieg mehr und mehr die Doktrin durch: "Die Artillerie erobert, die Infanterie besetzt." Wäre es doch so gewesen! Dann wäre der Krieg für uns Infanteristen tatsächlich der "Spaziergang" geworden, für den man ihn anfangs anpries. Die Artillerie konnte viele, aber nicht alle MGs ausschalten. Man hätte diese Nester zielgenau aus der Luft bombardieren müssen, aber die Einheiten der Armee waren noch nicht so verzahnt, wie es dann im Zweiten Krieg der Fall war. Oder man hätte sie vom Boden aus mit vorrückenden Panzerfahrzeugen ausschalten müssen. Doch auch diese Taktik wurde letztlich erst nach dem Ersten Krieg erdacht und umgesetzt. Es war der deutsche Offizier von Manstein, der, im Ausgang von seinen Erfahrungen im Ersten Krieg, die Artillerie mobil machte: mit der Erfindung des Sturmgeschützes. Dieses ist nichts anderes als eine mitgeführte, also bewegliche Artillerie: Das Geschütz wird auf ein gepanzertes Kettenfahrzeug montiert; näher am Gegner, kann es gezielter schießen als die immobile, weit hinter der vorrückenden Infanterie stehende Artillerie. So ist für uns im Ersten Krieg nur eines geblieben, um ein MG, das das Artilleriefeuer überstanden hatte, auszuschalten: Man musste immer wieder neue Infanteristen vorrücken lassen - bei einer Verlustquote von 50%. Dies haben die führenden Befehlshaber bisweilen versucht, aber nicht bis zum Exzess getrieben. Im Nachhinein habe ich meine eigene Erfahrung bei einem französischen Kombattanten und Beobachter der Schlacht um Verdun bestätigt gesehen: "Sie [er meint uns Deutsche] haben das Prinzip, ihre Infanterie zu schonen, noch nicht aufgegeben und vermeiden es, auf Kosten eines Blutbades vorzurücken." Ja, der Kronprinz als Oberbefehlshaber der Verdun-Front wollte auf keinen Fall der "Metzger von Verdun" werden. Der französische Oberst Marchal schrieb nach dem Krieg: "Der großartige Überraschungsangriff der Deutschen hat ihnen nur Teilerfolge eingebracht. ... Andererseits kann man sich fragen, ob sie nicht beim ersten Vorstoß bis Verdun gekommen wären: 1. Wenn sie über stärkere Kräfte verfügt und auf zwei Frontabschnitten gleichzeitig angegriffen hätten, auf dem rechten und auf dem linken Ufer; 2. Wenn sie weniger planmäßig vorgegangen wären, ihre täglichen Erfolge mehr ausgenützt und ihre Infanterie weniger geschont hätten ..."
Trotz alledem wäre die Verdun-Schlacht womöglich günstig für uns ausgegangen, wenn, ja wenn die Gegner nicht selbst eine Großoffensive eröffnet hätten: die Schlacht an der Somme. Die deutschen Truppen an der Somme mussten nun verstärkt werden, mit Kämpfern und mit Material. Darunter aber hatte die Schlacht um Verdun zu "leiden" (ein vielfach komisches Wort in diesem Zusammenhang, ich weiß). Es konnte nicht mehr alle Energie auf Verdun gelenkt werden. Wir waren schließlich zufrieden, die Stellungen zu halten.
Die Somme-Schlacht, darüber nichts weiter, war übrigens noch gigantischer, wurde mit noch mehr Opfern bezahlt als die Schlacht vor Verdun. Der Gegner hatte von uns gelernt. Nur dies eine will ich sagen: Das Artillerie-Feuer, das bei Verdun am Beginn der Schlacht von unserer Seite ausging, dauerte einen Tag; das einleitende Gewitter an der Somme, vor allem von den Engländern arrangiert und in Szene gesetzt, dauerte eine ganze Woche! Etwa eine Millionen Granaten feuerten die Briten vom 24. bis zum 30. Juni 1916 ab. Wie wäre der Krieg verlaufen, wenn die Engländer - die 1914 in letzter Minute den Entschluss gefasst hatten, am Krieg teilzunehmen - nicht gegen uns gekämpft hätten? Was wäre geschehen, wenn wir an der Marne 1914 obsiegt hätten, was, wenn wir, statt großer Schlachtschiffe mehr U-Boote produziert hätten, mit denen es uns gelungen wäre, Großbritannien auszuhungern? Fragen dieser Art darf man nicht stellen. Man wird sonst irre an der Geschichte. Aber wird man es nicht auch ohne diese Fragen?
Heute stellt sich für mich, wie vielleicht auch für Dich, lieber Leser, die Frage: Wie nur konnten wir das Gemetzel ertragen? Warum konnten wir so lange durchhalten - unter Strapazen, die für Außenstehende nicht vorstellbar sind, die auch für uns nicht vorstellbar waren vor dieser Schlacht?
Oberflächlich betrachtet, sehr oberflächlich betrachtet, könnte man meinen, unser Kampf wäre vergleichbar gewesen dem Kampf der Ameisen und Termiten: dumpf und bewusst los. Aber das wäre wirklich sehr oberflächlich betrachtet, von jemandem, der wenig Ahnung von dem hat, was in solch einem Kampfgeschehen vor sich geht und wie es vor sich geht. Auch wenn man eingesteht, dass der Kampf instinktiv, bisweilen auch instinktiv gewesen war: Diese Art von Instinktivität ist doch etwas gänzlich anderes als die der Tiere. Unsere Instinktivität war eine auf höherer Ebene: eine aus Bewusstheit geborene Instinktivität. Man könnte auch von einer zweiten Instinktivität reden. Denn jedenfalls wussten wir genau, was wir taten und wie wir es taten und zu tun hatten. Unser Kampf war aus dem Willen geboren. Aus einer ständigen Ermahnung, einer Selbst-Ermahnung, aber auch einer Ermahnung durch die Kameraden und Offiziere. Ohne Ermahnung und Willen wäre nichts möglich gewesen, nach dem ersten Tag schon hätten wir aufgegeben. Wir konnten dieses ungeheure Geschehen ertragen, weil wir wussten oder mindestens glaubten, dass eine ungeheure Verantwortung auf uns gelegt ist und dass wir dieser Verantwortung unter allen Umständen, unter allen Umständen!, gerecht werden müssten. Man lese den Tagesbefehl, der die Schlacht um Verdun für uns eröffnete.
Nach langer, zäher Abwehr ruft uns der Befehl Seiner Majestät des Kaisers und Königs zum Angriff. Seien wir von dem Bewusstsein durchdrungen, dass das Vaterland Großes von uns erwartet.
Es gilt, unseren Feinden zu zeigen, dass der eiserne Wille zum Siege Deutschlands Söhnen lebendig geblieben ist und dass das deutsche Heer, wo es zum Angriff schreitet, jeden Widerstand überwindet.
In fester Zuversicht, dass jeder an seiner Stelle sein höchstes dransetzen wird, gebe ich den Befehl zum Angriff! - Gott mit uns!
Wilhelm
Kronprinz des Deutschen Reiches
und von Preußen
Noch heute überkommt mich ein Schauder, wenn ich das lese oder höre. Das sind für mich keine bloßen Worte. Und damals waren sie es erst recht nicht. Worte solcher Art waren für uns Realität, Präsenz, höchste Präsenz, gegenwärtigste Gegenwart, sie repräsentierten nicht allein das, was sie bezeichneten, nein: Sie riefen das Bezeichnete mitten unter uns, sie machten es anwesend. Seine Majestät der Kaiser, das Vaterland, der eiserne Wille, Deutschlands Söhne, Gott - sie waren stets unter uns in diesen Tagen, wirklich unter uns. Wir dachten nicht: Das alles sind bloße Worte, und Worte sind Schall und Rauch. Nein, unmittelbar waren sie unter uns: der Kaiser, der Gott, das Vaterland, die Familie. Wir wollten, wir mussten unter ihrer Ägide tapfer fechten. Wir hätten uns zu Tode geschämt, wenn wir versagt hätten beim ersten kleinen oder auch größeren Widerstand. Kurz: Wir sogen Sinn und Kraft und Ermahnung aus diesen Worten, die eben nicht bloße Worte waren - ich wiederhole es gerne, da man heute so schnell von "Ideologie" und "Ideologiekritik" redet. Ohne Kaiser, Gott und Vaterland wäre uns ja das Leben unmöglich gewesen - sie allein gaben uns die Richtung vor, den Glauben an das Leben, den Sinn des Lebens und nun eben auch des Kampfes vor Verdun. Warum also sollten wir nicht mit allen Mitteln bestehen wollen! Im Grunde waren wir fromm, fromm im Kampfe, bereit zu frommem Kampf, gläubig. Ich erschrak zwar, als ich, zweieinhalb Jahrzehnte später, Goebbels hörte - Stalingrad war an die Russen zurückgefallen, und die Mentalität, der Wille zum Sieg, musste nun noch fiebriger werden -, Goebbels, der erklärte, dass die Deutschen in den Kampf nun "wie in einen Gottesdienst" ziehen würden: dass sie keine Rücksichten mehr nehmen würden, dass der Krieg das Absolute nun wäre, kein Endliches nur. Aber keineswegs war der Kampf im Zweiten Krieg fromm! Was Goebbels sagte war Gerede, Schauspielerei. Ausgesprochen, dass der Kampf ein Gottesdienst und fromm sein soll, ist er nicht mehr fromm, sondern das Fromme, die Frömmigkeit, wird funktionalisiert für etwas anderes, Fremdes. Ich habe es doch an meinem Sohn erlebt: Die Mentalität im Zweiten Krieg war, zumindest in dieser Hinsicht, eine andere als im Ersten Krieg. Wenigstens kann ich das für meine und meines Sohnes Einstellung behaupten: Mein Sohn hat nie und nimmer in dem Sinne an Hitler und Gott geglaubt, wie ich an den Kaiser und Gott geglaubt habe. So war es. Und fern stehe es mir, das moralisch zu beurteilen, es emotional zu bewerten. Es war der Fall. Und wenn Goebbels von Gottesdienst sprach, so war es das beste Zeichen dafür, dass der Krieg kein Gottesdienst mehr war! Eine Sache ausgesprochen, ist sie erkannt. Und damit durchschaut! Die Tür zur Funktionalisierung ist geöffnet.
Man vergleiche doch nur den soeben zitierten Tagesbefehl des Kronprinzen zur Schlacht von Verdun mit der Geheimen Kommandosache des Oberbefehlshabers der Heeresgruppe Südukraine kurz vor dem russischen Angriff, der zum Kessel von Kischinew führte, in dem mein Sohn aller Wahrscheinlichkeit nach gefallen ist.
Geheime Kommandosache H.-Q., 18.8.1944
110 Ausfertigungen.
An alle deutschen und rumänischen Kommandeure (bis einschl.
Div.)
1.In den kommenden Tagen ist auch an unserer Front mit Beginn von Großangriffen zu rechnen, die an einzelnen Abschnitten von zahlreichen Täuschungs- und Fesselungsangriffen begleitet sein werden.
Wir können, Schulter an Schulter mit unseren bewährten rumänischen Waffenkameraden, im Vertrauen auf unsere Ausbildung, unsere Bewaffnung und unseren gut fortgeschrittenen Stellungsbau diesen Angriffen mit entschlossener Zuversicht entgegensehen.
Der Auftrag bleibt bestehen: Verteidigen der befohlenen Großkampf-HKL mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln. Vom verantwortlichen Truppenführer bis zum letzten Mann muß jeder durchdrungen sein von dem verbissenen Willen, seine Stellung bis zum Letzten zu verteidigen. In die HKL eingebrochener Feind ist im Gegenstoß oder Gegenangriff zu zerschlagen.
2. Es kommt in den nächsten Tagen darauf an, durch ständige erhöhte Beobachtung, Aufklärungs- und Stoßtruppunternehmen immer wieder festzustellen, wo der Schwerpunkt der feindlichen Angriffsabsichten liegt. An diesen Stellen müssen wir uns stark machen unter rücksichtsloser Schwächung der Kräfte an nicht angegriffenen Abschnitten.
Ich mache in diesem Zusammenhang alle Befehlshaber und Truppenführer für sachliche, ungeschminkte und laufende Meldungen verantwortlich. Zweckmeldungen verfälschen die Lagebeurteilung der Führung. Hierdurch werden den wahren Schwerpunkten Kräfte entzogen dort, wo es auf jeden einzelnen Mann ankommt.
Gez. F r i e ß n e r
Generaloberst
Die Geheime Kommandosache spricht zwar noch von Entschlossenheit, entschlossener Zuversicht und verbissenem Willen. Doch Ton und Atmosphäre des Schreibens sind gänzlich anders als beim Kronprinzen. Es ist der Ton der Militärbürokratie. Der magisch-mystische Klang, der den Verdun- Befehl bestimmt, fehlt gänzlich. Und: Frießner war nicht der Kronprinz des deutschen Reiches. Selbst wenn Hitler erwähnt worden wäre (mit gutem Grund wohl ist er nicht erwähnt worden!), hätte er in diesem Befehl nicht die Funktion ausüben können, die der Kaiser innehatte. Von Gott ist gar nicht mehr die Rede. Der Tagesbefehl vor Verdun war für alle gedacht, er sollte in allen die feierlich-religiöse Stimmung erzeugen, aus der heraus gekämpft und der Kampf zu einem Höchsten gemacht werden sollte - die Geheime Kommandosache aber war nur für die Kommandeure in den obersten Rängen bis zur Divisionsführung bestimmt; diese hatten dann für die sachgerechte Durchführung bis in die untersten Ränge Sorge zu tragen.
Er war absolut, dieser Zweite Krieg, ja, das wohl; aber er war absolut nicht mehr in irgendeinem transzendenten Sinn. Er war absolut im rein säkularen Sinn, säkular-absolut. Erst dadurch war die absolute Barbarei möglich, die Barbarei auf beiden Seiten, nicht allein auf der unseren, die Barbarei, die auf rein säkularen Weltanschauungen beruhte. Die armen russischen Teufel konnten nach der Niederlage von Tannenberg im Ersten Krieg noch das um den Hals getragene Kreuz vorzeigen, als sie nach tagelangem Umherirren in den Wäldern auf den Bauernhöfen um einen Bissen Brot baten; im Zweiten Krieg wäre das nicht mehr möglich gewesen. Der Nationalsozialismus und der Bolschewismus und der Liberalismus hatten im fundamentalen Sinn kein Verbindungsstück mehr, nichts Gemeinsames, es sei denn im negativen Sinne: Das Transzendente hatte seine konstituierende Bedeutung verloren.
Doch wie haben wir es verkraftet, als der Kampf zu Ende war, nicht nur der vor Verdun, sondern der Kampf überhaupt, der Kaiser bedeutungslos, im Exil, die ökonomische Lebensgrundlage zerstört, im Stich gelassen von Gott und den Politikern? Oft im Kriege habe ich erlebt, dass bei schwerstem Bombardement der Boden unter meinen Füßen bebte. Aber was nun kam, das war: Man zog mir den Boden unter den Füßen weg!
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Wir singen nun, nach einigen Gebeten, wieder ein Lied: