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DAS GROSSE UMSONST
ОглавлениеVernehmen, ohne zu begreifen.
Vernehmen, ohne zu begreifen: So fing mein Leben an. Mein bewusstes, mein geistiges Leben. Vernehmen, ohne zu begreifen: Es war mein Erwachen. Und Erwachen ist schrecklich.
Der Krieg war zu Ende. Das war gut. Der Krieg war ein Ende - und das zu bewerten fehlte mir jeder Maßstab. Der Krieg war ein Äußerstes. Wir gingen bis zum Äußersten. Nun, da wir das Äußerste nicht einholen konnten in unser Vaterland, unsere Familien, in unser Gemüt, stellte sich die Frage: Wie weiter? Gibt es ein Weiter?
Das Unsägliche, unsäglich Traurige, auf schwerste Weise Niederdrückende, das mich auch heute noch überkommt, war: dass alles umsonst sollte gewesen sein, was wir in diesem furchtbaren Ersten Krieg getan und erlitten hatten. All das Leid, all die Schmerzen, all dieses furchtbare Gewimmel und Geschrei, all das Grauen, all die Toten - umsonst! Vier lange Jahre - umsonst! Wie ist das zu fassen? Wie sollte ich da nicht die Worte verlieren? Es war unfassbar. Und es ist unfassbar.
Wenn man dann auch noch glaubt, dass dieses Umsonst von der Heimat selbst ausging, dann konnte man sich kaum noch eine Steigerung denken: der Sinnlosigkeit, des Zynismus, der totalen Menschenverachtung. Und ging es nicht von der Heimat aus? Zwar waren wir des Kämpfens müde - aber nicht müder als der Gegner. Zwar hatte unsere Generalität Fehler begangen - aber nicht mehr als die des Gegners. Ging es also von der Heimat aus, DAS GROSSE UMSONST? Hatte nicht selbst der Sozialdemokrat Ebert den heimkehrenden Soldaten in Berlin zugerufen, sie seien von keinem Feind überwunden worden? Und aus dem Mund seines Parteigenossen Alwin Saenger hörte man, als wäre es die Stimme des Kaisers selbst: "Nun kehrt ihr heim in ein Vaterland, das zusammenbrach, ihr, die ihr nicht besiegt seid ... Willkommen, deutsche Soldaten, Sieger von gestern, Sieger von heute, Sieger von morgen." Wie sollten wir das fassen? Unbesiegt, weit noch im Feindesland stehend, nach jahrelangem Kampf. Und siegreich und sehr erfolgreich im Osten! Und jetzt alles umsonst? Sieger von morgen? Wie war das gemeint?
Die "Niederlage" - sie kam ja so plötzlich, sie war unerklärlich, nicht zu verstehen. Mit den Russen hatten wir erst vor wenigen Monaten in Brest-Litowsk einen Siegfrieden geschlossen; und wir waren überzeugt, dass es uns bald auch im Westen gelingen würde, den Sieg zu erringen. Standen wir doch in Frankreich, hatten fast ganz Belgien besetzt sowie überaus große Gebiete in Osteuropa, hier insbesondere Polens, der baltischen Länder und der Ukraine. Und plötzlich sollten wir am Ende sein, wir sollten verloren und der Gegner sollte gewonnen haben? Warum, aus welchem Grund? Das war unfassbar! Wäre es eine Agonie von längerer Dauer gewesen, dann hätten wir es psychisch verarbeiten können. Aber so war es ja nicht! Wir waren im Grunde unbesiegt. Und die sogenannte Niederlage kam wie ein Donnerschlag. Wie bin ich damals damit nur fertig geworden? Ich musste damit fertig geworden sein, sonst hätte ich es ja nicht überlebt, wäre somit auch nicht auf dieser Kriegerwallfahrt. Es muss eine Kraft in mir gewesen sein, die das alles überstand und mit der ich das alles ertragen konnte: dass man mir nicht nur alle Stützen wegnahm, alle Sicherheiten, mit denen und aus denen ich lebte, sondern dass man mir den Grund unter den Füßen wegzog.
Spät erst, Anfang der siebziger Jahre, gab mir mein Enkel ein interessantes Gedicht in die Hand, ein Gedicht, das ich zuerst nicht verstand: eine schwierige Sprache und für mich zunächst doch arg abgehoben. Aber ich las es immer wieder und musste erkennen, dass hier nicht bloß etwas kompliziert, schön-kompliziert, dahergesagt war. Es war vielmehr interessant und lehrreich und verblüffend, gerade für meine Frage nach dem Sinn dieser vier Jahre und dem Leben danach. Hier ist es, dieses Gedicht, es trägt den Titel: "Einem jungen Führer im Ersten Weltkrieg". Bitte, lieber Leser, lies es genau und mehrmals, begehe nicht den Fehler des Überlesens, wenn Du etwas nicht sofort verstehst. Zunächst die beiden ersten Strophen:
Wenn in die heimat du kamst aus dem zerstampften gefild
Heil aus dem prasselnden guss höhlen von berstendem schutt
Keusch fast die rede dir floss wie von notwendigem dienst
Von dem verwegensten ritt von den gespanntesten mühn ..
Freier die schulter sich hob drauf man als bürde schon lud
Hunderter schicksal:
Lag noch im ruck deines arms zugriff und schneller befehl
In dem sanft-sinnenden aug obacht der steten gefahr
Drang eine kraft von dir her sichrer gelassenheit
Dass der weit ältre geheim seine erschüttrung bekämpft
Als sich die knabengestalt hochaufragend und leicht
Schwang aus dem sattel.
Es ist für mich erstaunlich, dass jemand, der, nach dem Inhalt des Gedichts zu schließen, ganz offensichtlich nicht am Ersten Krieg als Frontsoldat teilgenommen hatte, das Geschehen so in Worte fassen, in ein Gedicht bannen kann: das "zerstampfte Gefild", der "prasselnde Guss" (gemeint sind wohl all die Geschosse, die, vermengt mit Erde, Geäst und Gestein, über uns hinweg- und auf uns heruntergingen), die "Höhlen von berstendem Schutt" (ich denke hier vor allem an Erdlöcher und Unterstände, die, von Granaten getroffen, einfielen). Damit ist knapp, aber exakt erfasst, womit wir leben mussten, was uns zu schaffen machte. Erstaunlich auch, dass der Dichter erkennt, dass es für uns ein "notwendiger Dienst" war, dass wir diesen Dienst so verstanden, so verstehen mussten, nicht anders verstehen konnten - wie hätten wir ihn sonst ausführen können, diesen Dienst. Bemerkenswert, wie der Dichter dann in der Bewegung des Arms, verbunden vielleicht mit einem begrüßenden Handschlag, den "Zugriff und schnellen Befehl" erkennt, der überlebensnotwendig war; wie der Dichter im Auge seines Besuchers die Beobachtung der immerwährenden Gefahr wahrnimmt, die Kraft der "sicheren Gelassenheit" der jungendlich-schlanken Knabengestalt, so dass der ältere Dichter, die Person, die das niederschrieb, seine "erschüttrung" über so viel Mannestum im noch jugendlichen Körper bekämpfen muss. Diese vier Jahre hatten uns ja bis in die Eingeweide verändert, nicht allein geistig. Der Krieg hatte uns Verhaltensweisen aufgeprägt, ohne die wir schwerlich hätten überleben können.
Nachdem die Situation und Problematik in den ersten beiden Strophen dargelegt ist, folgt in der nächsten Strophe die entscheidende Sinnfrage, unter der auch ich jahrelang und im Grunde bis heute und nun auch wieder hier, auf der Kriegerwallfahrt Vierzehnheiligen, zu leiden hatte und mit der ich noch immer, ich scheue mich nicht, das Wort zu gebrauchen, zu kämpfen habe:
Anders als ihr euch geträumt fielen die würfel des streits ..
Da das zerrüttete heer sich seiner waffen begab
Standest du traurig vor mir wie wenn nach prunkendem fest
Nüchterne woche beginnt schmückender ehren beraubt ..
Tränen brachen dir aus um den vergeudeten schatz
Wichtigster jahre.
Die Tränen im Auge des Kriegers: Das ist real, das gibt es, ich selbst habe es ja an mir erlebt, der Krieger ist nicht selten ein besinnlicher, ja im Grunde ein emotional hoch sensibler Mensch. Vielleicht ist es sogar so, dass Tapferkeit und Sensibilität zusammengehören. Alles mussten wir hingeben. Vier unserer wichtigsten Jahre, die wir nur mit seelischen und körperlichen Defekten überstanden, waren ja, politisch gesehen, umsonst, der Schatz, der geglaubte Schatz, für den wir gekämpft, war weg, verschwunden, vergeudet - nicht von uns, sondern von, ja von wem denn ... Und wie sollte man damit leben - vier Jahre umsonst, aller Ehren beraubt, nicht nur der Ehren, sondern aller Bilder, des Weltbildes zuletzt. Kaiser und Gott waren verschwunden, der Kaiser im Exil, der Gott war nicht mit uns, wie wir zu Beginn des Krieges und noch während des Krieges bis zum bitteren Ende glaubten, sondern mit dem Feind, wenn er sich denn überhaupt um uns, um unseren Wahnsinn gekümmert haben sollte. Der Dichter sieht hier, wiederum erstaunlich für mich, denn er war ja nicht im Krieg, die ganze Problematik und "Sinnkrise". Das Wort wird heute oft missbraucht, wird schon dann verwendet, wenn einer Kopfweh hat oder wenn ihm das Fernsehprogramm nicht gefällt. Aber für uns ist es, dieses Wort, der Sache nach korrekt verwendet, denn es war eine wirkliche und fundamentale Krise, eine Krise, die durchaus hätte zum freiwilligen Tod führen können, nachdem wir die Kugeln und Granaten des Feindes überlebt hatten. So war es, ich bezeuge es.
Du aber tu es nicht gleich unbedachtsamem schwarm
Der was er gestern bejauchzt heute zum kehricht bestimmt
Der einen markstein zerhaut dran er strauchelnd sich stiess ..
Jähe erhebung und zug bis an die pforte des siegs
Sturz unter drückendes joch bergen in sich einen sinn
Sinn in dir selber.
Der Dichter, ganz offensichtlich sehr weise, sagt zum jugendlichen Krieger, dass er es nicht den Schwärmern gleichtun soll, die die Sachlage verkennen: Was man gestern noch bejauchzt, könne man heute nicht zum Abfall zählen; der Markstein, der weh tat, weil man sich daran stieß - ihn darf man nicht zerstören. Selbst der Sturz unter dieses drückende Joch, Joch des Schand- oder Zwangsfriedens, wie wir ihn damals nannten (und nannten wir ihn nicht zu Recht so?) - das alles berge in sich einen Sinn. Aber wo sollte der Sinn zu finden sein, wo? "In dir selber" - so heißt es da. Das ist einfach gesagt. Und doch ist hier das Entscheidende getroffen: Ich musste lernen, lernen in einem mühseligen Prozess, einem Prozess mit vielen Rückschlägen und einem fundamentalen Rückschlag (ich meine Hitler, darauf komme ich noch zurück), dass der Sinn nicht mehr "von außen" gegeben wurde, also sagen wir: vom Kaiser und vom Pfarrer, sondern dass er allein von mir gegeben werden musste, dass er, der Sinn, in mir lag, nirgendwo sonst. Das bisherige Vertrauen auf Gott und den Kaiser war dahin - man musste sich selbst vertrauen, musste neu leben lernen, sonst wären nur Sinnlosigkeit und Tod geblieben. Das war das Entscheidende - ein Geschehen, das letztlich gefährlicher noch war als dieser verdammte Krieg selbst mit seinen in physischer Hinsicht todbringenden Gefahren.
Man kann sich heute kaum noch vorstellen, welch große Unsicherheit uns befiel. Denn auch in politischer und großpolitischer Hinsicht herrschte das Chaos. Nicht allein das deutsche Kaiserreich war durch die Revolution zusammengebrochen; auch die anderen alten Mächte waren ihrer bisherigen politischen Form beraubt: Russland bereits 1917, dann Österreich-Ungarn und das Osmanische Reich. Diese Unsicherheit und Sinnlosigkeit zu bestehen, zu verarbeiten, zu verkraften war schwierig - und ganz haben wir, habe ich es wohl nicht geschafft, weil ich ja immer noch wehmütig an Kaiser und Vaterland denke. Sie waren unser Mittelpunkt, sie waren die Sinn-Stifter, sie haben unser Bild von der Welt geprägt. Unser "Zustand danach" aber hatte kein Zentrum mehr, er war beliebig im abscheulichen Sinne: Fast alles war möglich, doch alles war ohne Wert, ohne Sinn, ohne Notwendigkeit.
Aber der Dichter spricht Trost zu: nichts sei verloren. Und er - unglaublich fast auch das -, er verleiht dem Individuum in der letzten Strophe die Insignien des Heiligen und Herrschers: den Ring aus Strahlen - eine Art Heiligenschein -, die Krone, die ehemals allein König und Kaiser zukam (und der Mutter Maria). Das ist erstaunlich und des Nachdenkens wert:
Alles wozu du gediehst rühmliches ringen hindurch
Bleibt dir untilgbar bewahrt stärkt dich für künftig getös ..
Sieh * als aufschauend um rat langsam du neben mir schrittst
Wurde vom abend der sank um dein aufflatterndes haar
Um deinen scheitel der schein erst von strahlen ein ring
Dann eine krone.
Den "Sinn in dir selber" suchen - das also war die Anweisung, die leicht auszusprechen, schwierig zu befolgen und von Situation zu Situation konkret und mühevoll umzusetzen war. Waren Rückfälle nicht vorprogrammiert? Und ist nach solchen - katastrophalen - Rückfällen die sogenannte Sinnsuche nicht noch schwieriger, ja schier unmöglich? Wie war es dann nach dem Zweiten Weltkrieg? Was hätte der weise Dichter nun empfohlen? Hätte er überhaupt noch etwas empfohlen? Wäre er nicht gänzlich verstummt? Wie und wo sollte ich nach dem Zweiten Krieg nun Sinn suchen - immer noch in mir selbst? Sah es zunächst so aus, als könnten wir mit Hitler und der Bewegung dem Vertrag von Versailles und dem gesamten Ersten Weltkrieg doch noch einen Sinn abgewinnen, so mussten wir ja in der Folge einen noch schlimmeren Zusammenbruch erleben als nach dem Ersten Krieg. Einen Zusammenbruch, bei dem mein Sohn im Felde blieb und ich mit am Haus gehisster weißer Fahne, einem Bettlaken, waffenlos die amerikanischen Panzer im Dorf empfing, damit es verschont würde. Wie konnte man, wie konnte ich damit leben?
Und doch ist es uns, ist es mir gelungen, gelingt es uns, gelingt es mir noch immer. Und man sage nicht: mehr schlecht als recht! Nach all dem, was wir erlebt, sage man nicht: mehr schlecht als recht! Denn Überleben in diesem Sinne, unter diesen Umständen - das war viel, beinahe schon alles.
Aber hatte ER es uns nicht vor-gelebt, vor-gelitten? Ihn verlangte nach Wasser - und man gab ihm Essig. Er wollte, dass der Kelch des Leidens und Sterbens vorüberging - aber nicht sein Wille, sondern der seines Vaters sollte geschehen. Er forderte den Beistand des Vaters bei seinem schmerzlichen Kreuzestod - und musste ganz am Ende feststellen - heraus- schreien -, dass ihn der Vater verlassen hatte.
Abb. 7 Auf dem Weg "nach oben", nicht "nach vorn"
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Der Krieg ging am 11. November 1918 zu Ende, und zwar, wie uns die Militärhistoriker sagen, um 11.00 Uhr. Und es fehlte nur noch, dass es um 11.11 Uhr gewesen wäre.
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Vielleicht war die größte Leistung von uns überlebenden Kriegern die: dass wir in diesen unsäglichen vier Jahren mitansehen mussten, wie Menschen und Kameraden, von Granaten zerfetzt, von Maschinengewehrkugeln durchlöchert oder durch Bauchschuss schwer verwundet, elend zugrunde gingen; dass wir Menschen und Kameraden sahen, die durch gewaltige Detonationen verschüttet wurden, die nach Hilfe riefen, aber nicht mehr gerettet werden konnten - und dass wir dennoch nicht die Nerven verloren, dass wir dennoch neben den Toten und dem Tod weiterkämpften, Seite an Seite, um dann, nach dem Krieg, in die alten Verhältnisse zurückzukehren, dass wir wieder "normal", zumindest im äußerlichen Sinne normal leben konnten. Das scheint mir fast wie ein Wunder. Denn wir waren ja ganz andere Menschen als vor Ausbruch des Krieges.
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Gott legt uns eine Last auf; aber hilft er uns auch, sie zu tragen?
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