Читать книгу Alles nur Zufall? - Georg Markus - Страница 20

ARCHITEKT AUF ABWEGEN

Оглавление

Adolf Loos und die kleinen Mädchen, 4. September 1928

Adolf Loos * 10. 12. 1870 Brünn, † 23. 8. 1933 Wien. Architekt, Wegbereiter der modernen Architektur.

Er zählt zu den bedeutendsten Architekten des 20. Jahrhunderts. Adolf Loos ließ Jugendstil und Sezession hinter sich und ging völlig neue Wege, als er Häuser ohne Ornamente baute. Zwei Mal stand er im Mittelpunkt großer Skandale, die unter reger Teilnahme der Öffentlichkeit ausgetragen wurden: 1910 wurde sein »Loos-Haus« in der Wiener Innenstadt wegen der schmucklosen Fassade heftig kritisiert. Gegenüber der Hofburg gelegen, soll Kaiser Franz Joseph sich geweigert haben, von seinen Fenstern aus je wieder einen Blick auf den Michaelerplatz zu werfen. Heute gilt Loos als Wegbereiter der Moderne in der Architektur.

Der zweite Skandal war wesentlich schwerwiegender. Adolf Loos wurde am 4. September 1928 in seiner Wohnung in Wien I., Bösendorferstraße 3 verhaftet. Dem 58-jährigen Architekten – der zu diesem Zeitpunkt bereits fast vollständig taub war – wurde vorgeworfen, sich an unmündigen Kindern unsittlich vergangen zu haben. »Wohl keine Verhaftung hat in letzter Zeit derartiges Aufsehen erregt wie die des viel umstrittenen Architekten Adolf Loos, der unter der schweren Beschuldigung, das Verbrechen der Schändung begangen zu haben, gestern dem Landesgerichte eingeliefert worden ist«, berichtete die Wiener Allgemeine Zeitung.

Seine zweite Frau, die Tänzerin Elsie Altmann-Loos, schrieb in ihren Memoiren, wie sie von den schweren Vorwürfen erfahren hatte: »Eines Tages kam Mitzi (die Wirtschafterin von Adolf Loos, Anm.) um 7 Uhr früh zu mir. Sie war totenbleich. Man hatte Loos verhaftet.«

Begonnen hatte laut Wiener Allgemeiner Zeitung alles damit, dass Loos einen pensionierten Briefträger fragte, der sich eine Zubuße durch Modellstehen in der Akademie der Bildenden Künste verdiente, ob er nicht kleine Mädchen wüsste, die ihm für Zeichnungen Akt stehen wollten. Der »Postunterbeamte i. R.« sah in der Frage nichts Bedenkliches und brachte seine zehnjährige Tochter zu Loos. Bei den ersten Sitzungen war der Vater anwesend, wobei ihm nie etwas »Verdächtiges« auffiel.


Adolf Loos konnte sich nur mithilfe komplizierter Hörgeräte verständigen.

Als das Mädchen dann allein zu Loos kam, fragte dieser das Kind, ob es unter seinen Freundinnen nicht weitere Mädchen wüsste, die zu ihm kommen wollten.

Die Tochter des Briefträgers brachte zu den nächsten Sitzungen ihre siebenjährige Schwester und zwei etwa gleichaltrige Freundinnen mit, Töchter einer in der Nachbarschaft wohnenden Arbeiterfamilie. Loos zahlte zwei Schilling pro Stunde des Aktsitzens – für die ärmlichen Familien, aus denen die Mädchen kamen, ein kleines Vermögen. Laut ihren späteren Angaben zogen sich die Kinder nackt aus, nahmen ein Bad und Loos zeichnete sie. An den beiden Töchtern des Postbeamten soll er sich vergangen haben, die beiden anderen Mädchen hat Loos laut deren Aussagen nur gezeichnet.

Als erste Verdachtsmomente auftauchten, verfügte die Staatsanwaltschaft die Verhaftung des Architekten. Loos gab vor dem Untersuchungsrichter zu, dass sich die Kinder in seiner Anwesenheit entkleidet und gebadet hätten und ihm zu Aktzeichnungen, die er für bauliche Arbeiten verwenden wollte, Modell standen. Die Beschuldigungen der Kinder bezeichnete er als lügenhafte Entstellungen. Allerdings wurde in diesen Tagen bekannt, dass Loos schon im August 1928 vom Vater eines neunjährigen Mädchens angezeigt worden war, dem er im Prater Geld geschenkt hätte.

In der Wohnung von Adolf Loos wurde eine Hausdurchsuchung vorgenommen, bei der 2271 pornografische Kinderfotos entdeckt wurden. »Die Bilder, die man bei mir gefunden hat und mit meiner gegenwärtigen Affäre in Zusammenhang bringen will«, erklärte Loos, »habe ich vor fünfzehn Jahren von einem Literaten, der damals gestorben ist und nicht gewünscht hat, dass man sie in seinem Nachlass findet, in einem versiegelten Päckchen geschenkt bekommen. Ich möchte gleich betonen, dass Peter Altenberg*, mit dessen Nachlass ich überhaupt nichts zu tun hatte, dieser Literat nicht gewesen ist … Ich wusste gar nicht, wo das Paket liegt. Vielleicht war es ein Fehler von mir, diese Bilder nicht verbrannt zu haben.«

Elsie Loos geb. Altmann * 27. 12. 1899 Wien, † 19. 5. 1984 Buenos Aires. Tänzerin, Schauspielerin, Operettensängerin. 1919 bis 1926 mit Adolf Loos verheiratet.

»Oft sagte ich mir«, machte sich seine geschiedene Frau Elsie Altmann-Loos später Vorwürfe, »hättest du ihn nicht allein gelassen, hätte er sich nicht so einsam gefühlt, hätten ihm die Erpresser nichts anhaben können. Ich wusste, er suchte mich in allen kleinen Mädchen. Er suchte das Kind, das ich war, als ich ihn kennenlernte, das ihn liebte und ihm vertraute. Er muss schrecklich einsam gewesen sein.«

Die Wirtschafterin Mitzi hatte seiner Exfrau erzählt: »Die ›Hauptschuldige‹ an dem ganzen Skandal wäre ein kleines Mädchen. Ihre Eltern waren Freunde des Hausbesorgers. Sie ging oft zu Loos in die Wohnung. Und Loos schickte Mitzi immer weg, wenn sie kam. Sie blieb ein paar Stunden, Loos ließ sie baden und schenkte ihr Süßigkeiten und Geld. Mitzi wusste alles das. Sie wollte mir nie davon erzählen. Die Eltern des kleinen Mädchens begannen mit Geldforderungen und Loos gab ihnen Geld. Das kleine Mädchen brachte plötzlich Freundinnen mit, und die Kinder und der einsame Mann spielten miteinander. Wenn es kalt war, legte er sich mit ihnen auf die Couch und wärmte sein armes altes Herz an der Jugend. Aber die Eltern der Kinder forderten mehr und mehr Geld. Der Hausbesorger auch. Es war eine richtige Erpresserbande. Der einsame alte Mann, der in Paris viel Geld verdiente, war ein leicht zu fangendes Opfer.«

Elsie Altmann-Loos wurde vom Gericht als Zeugin einvernommen. »Unsere Trennung war im Prozess von Vorteil«, schreibt sie. »Denn wäre ich noch Frau Loos gewesen, hätte meine Zeugenschaft keinen Wert gehabt. So aber konnte ich bezeugen, dass Loos kein lasterhafter Mensch gewesen war, dass er als Ehemann treu und gut war und mir nie Grund zur Eifersucht gegeben hatte. Das konnte ich alles mit gutem Gewissen beschwören und tat es auch.«

Adolf Loos wurde nach nur viertägiger Haft am 8. September 1928 freigelassen. Unmittelbar danach erklärte er in einem Interview mit der Neuen Freien Presse, dass die Untersuchungshaft für ihn anfangs sehr schwer zu ertragen gewesen sei, »aber mit der Zeit ist auch das leichter geworden. Sowohl bei der Polizei, als auch im Landesgericht wurde ich gut behandelt.«

Die zweitägige Gerichtsverhandlung fand am 30. November und 1. Dezember 1928 im Wiener Landesgericht unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Loos wurde vom Vorwurf des Missbrauchs freigesprochen, jedoch wegen Verführung zur Unzucht – da er die Modelle in obszönen Stellungen gezeichnet hatte – zu einer bedingten Strafe verurteilt.

Ein knappes Jahr nach dem Prozess ging Adolf Loos mit der Fotografin Claire Beck eine dritte Ehe ein, die nur kurz hielt. Er verbrachte seine letzten Lebensjahre ob der gesellschaftlichen Ächtung einsam und verzweifelt.

Seine ursprünglich als Ehrengrab angelegte letzte Ruhestätte auf dem Wiener Zentralfriedhof wurde im Jahr 2012 von der Stadt Wien infolge seiner rechtskräftigen Verurteilung in die neu geschaffene Kategorie »Historisches Grab« umgewidmet.

* Peter Altenberg, der tatsächlich minderjährige Mädchen verehrte und in seinen Essays beschrieb, war mit Loos befreundet. Er starb neun Jahre vor dessen Verhaftung.

Alles nur Zufall?

Подняться наверх