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Der Reiz des Krummen

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Elisabeth ist erfahrene Ärztin in einem Klinikum, bei Patienten und Kollegen gleichermaßen geschätzt. Als Mitglied der Ethik-Kommission berät sie in komplizierten Fällen, was medizinisch angemessen und menschlich vertretbar ist. Elisabeth sieht nicht nur die Erkrankung, sondern den ganzen Menschen in seiner sozialen Wirklichkeit. In ihrer eng bemessenen Freizeit liest sie viel, um das Mysterium Mensch besser zu verstehen. Sie hält zahlreiche soziale Kontakte aufrecht und bleibt mit ihrer Kirchengemeinde in Verbindung, denn sie empfindet das Leben als Geschenk Gottes. Elisabeth ist verheiratet, hat zwei erwachsene Kinder und führt eine zufriedene bürgerliche Existenz. Auf einmal verliebt sie sich in den Medizinstudenten Robert. Eine amour fou!

Ihre moralischen Skrupel wühlen sie auf. Doch das Abenteuerliche an dieser geheimen Beziehung erfüllt Elisabeth mit Energie und Freude. Sie genießt Zärtlichkeit und Sexualität, wie sie sie nie zuvor in ihrer Ehe erlebt hat. Die unbeschreibliche Nähe zu ihrem Liebhaber taucht ihr ganzes Dasein in ein neues Licht.

Ich bemühte mich, mithilfe meines Verstandes die Dinge zu erforschen und zu erkunden. All mein Streben galt der Weisheit, denn mit ihrer Hilfe wollte ich ergründen, was in der Welt geschieht: Es ist eine mühsame Arbeit, und Gott hat sie den Menschen auferlegt, damit sie sich damit quälen. Ich habe die Menschen bei ihrem täglichen Tun beobachtet. Es ist alles sinnlos und gleicht dem Versuch, den Wind einzufangen. Was krumm ist, kann nicht gerade werden, und was nicht vorhanden ist, kann auch nicht gezählt werden. (Prediger 1,13–15)

Lange habe ich mit Elisabeth zusammengesessen und zugehört. Sie, die so viel mit Hilfe ihres Verstandes erforscht und erkundet hat, fühlt sich von etwas überwältigt, was fern ihrer Vorstellungskraft lag. Die Wucht der Emotionen scheint sie – die doch in so gewohnten und sicheren Bahnen zu laufen schien – aus der Spur zu werfen. Sie will verstehen, was da geschieht, in ihrer kleinen Welt, die auf einmal kopfsteht. Ihren Mann zu verlassen steht nicht zur Debatte, ebenso wenig alles aufzugeben, was sie sich aufgebaut hat. Nur wenige wissen von ihrer Situation.

Ihr auffallend jüngerer Geliebter drängt sie nicht zu einer Entscheidung. Robert ist in einem anderen Milieu zuhause als Elisabeth, bevorzugt andere Freizeitaktivitäten, betrinkt sich schon mal und hat einen anderen Tag-Nacht-Rhythmus als sie. Er lebt ein anderes Leben. Er sieht gut aus und könnte viele Frauen seines Alters haben. Aber er liebt Elisabeth. Er zeigt sich ihr gegenüber schamlos, ohne Scham, in einer Vertrautheit, die Elisabeth fasziniert. Diese Leidenschaft.

Das alles zu begreifen gelingt beiden nicht, was für Robert kein Problem darstellt, wohl aber für Elisabeth. Die Situation quält sie. Die erfahrene Ärztin kennt sich selbst nicht wieder. Was sind das für romantische, animalische, egoistische Anwandlungen, die sich da ihrer bemächtigen? Muss sie sich schämen? Sündigt sie gegen Gott? Gegen ihren Mann, der nichts ahnt … oder doch? Die Lust zwischen beiden kühlte ziemlich ab in den letzten Jahren. Vielleicht schweigt er in stillem Einverständnis? – Diese Fragen nagen an ihr.

Was Elisabeth mir offenbart, beschließt sie mit dem Satz: „Es ist doch alles sinnlos, was da läuft!“

Ist Sinn hier die passende Kategorie? Ihr wird etwas gefehlt haben, was sie nun genießt. Allerdings hat dieser Genuss seinen Preis. Selbstverständlich ist ihr bewusst, diese Geschichte wird nicht ewig dauern. Doch jetzt prägt sie ihre Realität. Das Verhältnis mit Robert ist nichts für die Ewigkeit. Es ist vergänglich, doch jetzt schön. Und problematisch. Zumal für eine Frau, die ihr Leben – wie sie sagt – in Gottes Hand gelegt hat.

Kohelet kommentiert: Es bleibt krumm und kann nicht gerade werden. Doch Paul Claudel tröstete: „Gott schreibt auf krummen Linien gerade.“

Windhauch und Wein

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