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Mittwochskind
ОглавлениеEin Sonntagskind ist ein Glückskind. Ich wurde an einem Mittwoch geboren.
Der Sonntag ist in der Zählweise der Juden, Christen und Muslime der erste Tag der Woche – entsprechend dem ersten Tag der Schöpfung. Die Christen begehen ihn ab dem 4.Jahrhundert als Feiertag, denn am ersten Tag der Woche fanden die Frauen das Grab Jesu leer vor. Jeder Sonntag erinnert an Ostern, die Auferstehung, den Mittelpunkt des Glaubens.
In einigen Sprachen wird der Mittwoch nach alten Göttern benannt (so zum Beispiel Wednesday vom germanischen Wodan oder Mercredi vom römischen Merkur). Im Deutschen und in anderen Sprachen ist Mittwoch eine schlichte Funktionsbezeichnung: Der mittlere von sieben Tagen der Woche. Erst nachdem sich Deutschland im Jahr 1976 der internationalen Zeitstandardisierung angeschlossen hat, die den Montag als ersten Tag der Woche festlegt, gibt es die Verwirrung, dass die Mitte der Woche nun auf den Donnerstag fällt.
Laut Schöpfungsmythos wurden am vierten Tag Sonne, Mond und die Sterne geschaffen. Ohne die Sonne könnte die Erde nicht existieren, gäbe es kein Leben. Ich bin an einem Mittwoch ins Licht der Sonne eingetreten. Der Tag zeigte sich damals leicht bewölkt, aber heiter, mit 13 Sonnenstunden.
Der Mittwoch hat keinen guten Ruf. Zwar wird er nicht ganz so verdammt wie der Montag, aber Mittwoch klingt eben nach mittendrin. Bis zum Wochenende dauert es noch. Der Tag hat kein frommes Gedenken wie der Donnerstag (Letztes Abendmahl) oder der Freitag (Kreuzigung). Nach orthodoxer Tradition verriet Judas an einem Mittwoch seinen Herrn. Der einzige Mittwoch von Format ist der Aschermittwoch, an dem „alles vorbei“ ist – die Lust, die Freude, der Spaß. Das Fasten beginnt. An einem Mittwoch mussten früher einmal „gefallene Mädchen“ heiraten, solche durften den Samstag nicht entweihen.
Dennoch liebe ich den Mittwoch, das Mittendrin. Wochenenden sind ja auch nicht nur schön. Der Mittwoch hält noch alle Chancen parat. Gelegenheit, etwas zu schaffen. Möglichkeit der Vorfreude. Wer den Mittwoch nicht mag, weil man da arbeiten muss, wie soll der seines Lebens froh werden? Ich schätze seine Normalität. Alltag. Nichts Besonderes.
Der Mittwoch ist ein Sinnbild für meinen Glauben. Der mag am Sonntag zelebriert werden, aber bewähren muss er sich am Mittwoch: mittendrin! Mitten in Belastungen, Konflikten, Verrücktheiten. Viele Symbole des Glaubens (wie Gottesdienst, Gebet, Bibellesung, Sakramente, Bilder und so weiter) erhöhen die Seele wohlig. Aber helfen sie ihr und dem Verstand, das Dasein am Mittwoch zu bewältigen?
Ich brauche eine Mittwochsspiritualität, eine fürs Mittendrin. Weil ich mein Leben nicht aufspalten will in einen frommen und einen weltlichen Teil. Die Grenzen von heilig und profan sind aufgehoben. Alles ist heilig, alles ist weltlich. Und mitten in dieser mitunter seltsamen Welt offenbart sich Gott, in meiner bescheidenen Existenz, die geprägt ist von Gegensätzen.
Alles hat seine Zeit, alles auf dieser Welt hat seine ihm gesetzte Frist: Geboren werden hat seine Zeit wie auch das Sterben. Pflanzen hat seine Zeit wie auch das Ausreißen des Gepflanzten. Töten hat seine Zeit wie auch das Heilen. Niederreißen hat seine Zeit wie auch das Aufbauen. Weinen hat seine Zeit wie auch das Lachen. Klagen hat seine Zeit wie auch das Tanzen. Steine zerstreuen hat seine Zeit wie auch das Sammeln von Steinen. Umarmen hat seine Zeit wie auch das Loslassen. Suchen hat seine Zeit wie auch das Verlieren. Behalten hat seine Zeit wie auch das Wegwerfen. Zerreißen hat seine Zeit wie auch das Flicken. Schweigen hat seine Zeit wie auch das Reden. Lieben hat seine Zeit wie auch das Hassen. Krieg hat seine Zeit wie auch der Frieden. Was also hat der Mensch davon, dass er sich abmüht? (Prediger 3,1–9)
Was Kohelet schreibt, klingt ja eigentlich nicht besonders originell, denn dass Glück und Pech, Erfolg und Niederlage, Gutes und Schlechtes einander abwechseln – das allein wäre eine banale Erkenntnis. Doch aus seinen Worten höre ich einen Gleichmut heraus, der sagt: „Akzeptiere den ständigen Wandel. Wenn du in diese Wirklichkeit einschwingst, reduzierst du dein Leiden.“
Ich kenne Phasen religiöser Hingabe und solche, in denen Gott und ich nur lockeren Kontakt halten. Zeiten, in denen mir alles rund und stimmig erscheint, und solche, in denen ich die Bruchstücke meines Lebens nicht zu einem sinnvollen Bild zusammenbringe. Manchmal kann ich das Chaos gelassen hinnehmen, dann wieder bin ich so fertig mit der Welt, dass überhaupt zu leben mir nicht erstrebenswert erscheint. Der Gott, dem ich vertraue, nimmt mich mit meinem Mittwochsglauben an.
Alles gehört zu mir. Und ich lerne langsam alles, was mir widerfährt, anzunehmen. Es ändert sich doch wieder. Alles hat seine Zeit: der Sonntag und der Mittwoch. Ich bin ein Mittwochskind.