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Wofür ist Essen da?

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Schokolade könnte als Medikament für die Nerven verschrieben werden, ein Riegel Traubennuss wirkt Wunder. Auch Gummibärchen tun gut. Es gibt Tage, da hilft nur ein Gyros komplett. Das Glas Wein relativiert manches Problem, der Marillenschnaps löst Spannungen. Und bei frischem Bienenstich könnte man fast vergessen, wie sinnlos das Leben ist.

Als ich beim runden Geburtstag eines Freundes auf den Nachschlag verzichten will, weil ich mir vorgenommen habe abzunehmen (und von dem grandiosen Büffet kann man einfach nicht alles probieren), sieht mich die Partnerin eines Bekannten mitfühlend an: „Ausnahmen machen das Leben schön!“ Und in Überlingen am Bodensee wehre ich die Dessertkarte im Gasthaus ab; ich sei satt, versichere ich mit einem Grinsen, und essen ohne Hunger sei die Todsünde der Völlerei. Da kontert die Bedienung schlagfertig: „Dafür ist Essen da!“

Essen und Trinken hält Leib und Seele zusammen, heißt es. Wer hungert und dürstet, weil ihm nichts zur Verfügung steht, der leidet brutal. Bei uns leiden die Menschen eher, weil sie zu viel zu sich nehmen, über Hunger und Durst hinaus, aus Langeweile und Frust. Es gibt Leute, die spüren sich selbst nur, wenn sie konsumieren. Andere fasten sich krank. Ernährung ist ein aufgeladenes Thema. Es betrifft nicht nur die Gesundheit, sondern die ganze Weltsicht: Was darf man überhaupt guten Gewissens verzehren?

Mitunter vergeht uns der Appetit, weil uns Sorgen belasten. Beim Sohn einer Frau, einem jungen Mann Mitte zwanzig, wurde Krebs diagnostiziert. Früh genug. Die Heilungschancen stehen gut. Aber die Sorgen der Frau sind mächtig. Sie erzählt mir davon. Ich kann nicht viel für sie tun. Wochen später bedankt sie sich für das Gespräch, das hätte ihr so gutgetan. Dabei habe ich ihr nur aufmerksam zugehört und sie ernst genommen. Und ihr geraten, gut für sich zu sorgen, um bei Kräften zu bleiben.

Mir selbst geht es ja ähnlich: Wenn mich etwas plagt, dann spreche ich darüber mit einem Menschen, dem ich vertraue. Dann will ich nicht hören: „Alles halb so schlimm!“ Ich brauche das Gefühl, in meiner Not gesehen zu werden. Und wenn ich darüber hinaus spüren darf, es gibt nicht nur meine begrenzte Sicht, man kann das alles auch anders einschätzen, dann wirkt das beruhigend.

Schon als Jugendlicher sang ich im Gottesdienst gern das Lied von Georg Neumark „Wer nur den lieben Gott lässt walten“. Die zweite Strophe lautet: „Was helfen uns die schweren Sorgen, / was hilft uns unser Weh und Ach? / Was hilft es, dass wir alle Morgen / beseufzen unser Ungemach? / Wir machen unser Kreuz und Leid / nur größer durch die Traurigkeit.“ Das geht tiefer als der platte Slogan von Dale Carnegie: „Sorge dich nicht – lebe!“ Denn das Lied aus dem 17. Jahrhundert integriert die Sorge in das Vertrauen auf Gott. Das ist die größere Perspektive, die über die eigene enge Wahrnehmung hinausreicht.

Was hat der Mensch letztendlich von seiner schweren Arbeit und von all seinen Sorgen? Er müht sich ab, jeden Tag leidet er, seine Arbeit bringt ihm nur Ärger ein, und selbst nachts findet er keine Ruhe mehr. Es ergibt keinen Sinn. Es gibt nichts Besseres für den Menschen, als sich an dem zu freuen, was er isst und trinkt, und das Leben trotz aller Mühe zu genießen. Doch ich erkannte, dass auch das ein Geschenk Gottes ist. Denn wie kann man sich am Essen oder Trinken freuen ohne sein Zutun? (Prediger 2,22–25)

Schwere Krankheiten hatten meine Schwiegermutter lange gepeinigt. Irgendwann verweigerte sie die Nahrungszufuhr. Es dauerte ein paar Wochen, bis sie starb. Essen und Trinken sind Zeichen von Lebenswillen. Es geht nicht darum, gegen die Beschwernisse des Daseins anzuessen und anzutrinken. Aber trotz aller Mühsal dürfen wir genießen. Die Probleme bleiben, werden jedoch für Momente der Freude gezähmt.

Mit meinem besten Freund esse ich gern zusammen, denn er futtert mit Hingabe. Wir können uns geradezu tierisch über beste Speisen hermachen, aber auch eine Dosensuppe löffeln oder die Pralinenschachtel leeren. Wir lassen uns nicht kleinkriegen, versichern wir uns gegenseitig durch unser Tun. Wenn wir die großen Zusammenhänge auch nicht verstehen, von Genuss verstehen wir etwas.

Mit Hingabe essen und trinken zu können ist ein Geschenk. Wer aus gesundheitlichen Gründen immer prüfen muss, was er zu sich nehmen kann und was nicht (Laktose?, Gluten?, Alkohol?), wird ausgebremst. Was aber dann noch möglich ist, soll erfreuen.

Als ich auf dem Kirchentag dem Pfadfinder zwei Rosinenschnecken schenkte, rief er mir ein begeistertes „Geil!“ zu. Ein Dank an mich und an den Schöpfer, der Menschen Rosinenschnecken erfinden ließ. „Wie kann man sich am Essen oder Trinken freuen ohne sein Zutun?“, fragt Kohelet, eher rhetorisch, denn die meisten werden wohl ohne einen Gedanken an ihn kauen und schlucken und schmecken. Ich möchte die Dankbarkeit als Lebensmotto umsetzen. Nichts ist selbstverständlich.

Eine Freundin machte eine Radwanderung um den Baikalsee. Zwischendurch menschenleere Abschnitte. Die Lust auf etwas Leckeres stieg ins Unermessliche. Dann bröselte sie Butterkekse in eine Tasse und vermengte sie mit „Milchmädchen“, einer gezuckerten Kondensmilchpaste. „Das war der Himmel“, schwärmte sie. Auch ein Gebet. Ich kann es nachschmecken.

Windhauch und Wein

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