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II. Chronologischer Überblick

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[Das 19. Jahrhundert] Untersucht man die Frage, wie sich der Städtebau des 19. Jahrhunderts mit dem Anwachsen der Städte auseinandersetzt, so ergibt sich, daß eine Gesamtschau fast vollständig fehlt. Städtebau ist ein technisches Beginnen, das bezeichnenderweise „Stadterweiterung“ heißt – ein partikulares Problem. Vereinzelt nur begegnet man einer umfassenderen Sicht der Dinge wie sie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Owen und Fourier zu eigen ist; beide erkennen zumindest in Umrissen die Forderung des industriellen Zeitalters nach einer neuen Lebensform. Ihre Vorschläge, die auf die Neugründung zahlreicher landwirtschaftlichindustrieller Siedlungen mit bis zu 2000 Einwohnern und sozialistischer Gesellschaftsordnung hinauslaufen, bleiben jedoch, von unbedeutenden Ansätzen abgesehen, Theorie. Die Wirklichkeit sieht ander aus und zeichnet sich zuerst in England mit voller Klarheit ab. Von ihr schreibt Schinkel:

„Die ungeheuren Bau-Massen in Manchester, bloß von einem Werkmeister ohne alle Architektur und nur für das nackteste Bedürfnis allein aus rotem Backstein, machen einen höchst unheimlichen Eindruck.“4

Weist auch das Wort „unheimlich“ über das rein ästhetische Urteil hinaus, so scheint doch Schinkel so wenig wie die anderen Architekten seiner Zeit erkannt zu haben, welche Aufgaben die neue wirtschaftliche und soziale Entwicklung gerade den Architekten stellte. Kennzeichnend dafür ist die im Jahre 1841 ausgesprochene Ablehnung des Berliner Architekten-Vereins, einen Wettbewerb für Arbeiterwohnungen durchzuführen, weil eine solche Aufgabe zu wenig architektonisches Interesse biete5.

Aber auch dort, wo das architektonische Interesse ansprechbar ist, beschränkt es sich auf das Einzelbauwerk, seine Formensprache und seinen Bedeutungsinhalt. Die Gestaltung der Stadt in ihrer Gesamtheit wird als Problem kaum gesehen, geschweige denn bewältigt.

Um die Jahrhundertmitte erhebt Riehl kritisch und mahnend seine Stimme gegen die Verstädterung; seine „Naturgeschichte des deutschen Volkes“ ist ein frühes Beispiel dessen, was Geddes ein halbes Jahrhundert später als Grundlage aller Planung fordert: eine eingehende Untersuchung der Landschaft, der Bevölkerung und ihrer Lebensformen.

Zunächst allerdings kommt die gewichtigste Kritik an der städtebaulichen Entwicklung aus den Reihen der Wohnungsreformer. Der umstrittene Berliner Bebauungsplan 1861–63, der Berlin zur „größten Mietskasernenstadt der Welt“6 macht, wird später von seinem Schöpfer mit einem Hinweis auf die sozialen Vorzüge der Mietskaserne verteidigt: sie werde die Durchdringung der verschiedenen Klassen und damit die Milderung der sozialen Gegensätze fördern.7

[1879] Indessen sind es gerade die Auswüchse dieser Wohnform, auf Grund derer die Gräfin Dohna vor allem anderen verlangt, die Stadtgemeinde in ihren verschiedenen Schichten solle menschlich wohnen, wobei sie den Begriff des Wohnens auf Grünflächen und Erholungsstätten ausgedehnt wissen möchte.8 Vom Städtebauer fordert sie als Grundlage seiner Arbeit eine „ungefärbte, redliche, humane Gesinnung auf christlichem Grunde“ und verlangt zugleich nach einer „gesunden Theorie über die Architektur der Großstädte sowie der Städte überhaupt“.9

Zwei Jahre später veröffentlicht Baumeister ein Buch, das als erster Ansatz zu einer solchen Theorie gewertet werden kann;10 es trägt zwar in erster Linie den Charakter eines technischen Lehrbuches, deutet jedoch zugleich eine Kritik am Stadtwachstum und eine Einbeziehung sozialer Fragestellungen an. Während die künstlerische Seite nur gestreift wird, da Schönheit „im vulgären Sinne“ Mehrkosten bedeute, erfahren die technisch-hygienischen Probleme eine ausführliche Würdigung. Ganz allgemein werden bis zum Ende der achtziger Jahre städtebauliche Fragen in erster Linie unter diesem Aspekt gesehen; Empfehlungen und Resolutionen zum Städtebau gehen bezeichnenderweise fast ausschließlich vom „Deutschen Verein für öffentliche Gesundheitspflege“ aus.

Das ästhetische Problem der Großstadt, vom Techniker noch nicht erkannt, wird von Lotze in seiner „Geschichte der Ästhetik“ angeschnitten; er sieht in den Gebäuden der Stadt „Geschäftsraum oder … Herberge einer veränderlichen Bevölkerung, die hier nicht verlangen kann, ihre individuelle Eigenart in äußerlicher Erscheinung vollständig auszuleben.“11 In seiner Forderung, dem Massenleben entsprechend sollten auch die Bauwerke auf individuelle Selbständigkeit verzichten, kündigt sich eine Entwicklung an, die späteren Generationen Anlaß zu schwerer Sorge gibt: die Unterdrückung des Individuums, die Förderung des Massendaseins durch die bauliche Umgebung.

[1889] Bevor jedoch diese Problematik erkannt wird, löst Sittes Buch über den „Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen“ eine allgemeine Hinwendung zu einem ästhetisch bestimmten Städtebau aus, dessen einseitige Betonung vielfach über Sittes Zielsetzung hinausgeht. Allerdings dringen diese ästhetischen Ambitionen nicht hinter die Fassade – weder die des Einzelbauwerks noch die der Stadt; als Arbeitsfeld für den Künstler fordert Sitte „nur wenige Hauptstraßen und Plätze, alles übrige mag er gerne dem Verkehr und den täglichen materiellen Bedürfnissen preisgeben.“12

Die wachsende Bedeutung des Verkehrs erhellt daraus, daß in Stübbens städtebaulichem Handbuch bei der Bewertung der verschiedenen Anforderungen an den Stadtplan der Verkehr ausdrücklich die erste, die Rücksichten auf die Bebauung die zweite Stelle erhalten; nicht minder wichtig als diese seien die gesundheitlichen und schließlich die schönheitlichen Anforderungen.13

Allgemein aber werden diese höher bewertet: Henrici geht es vor allem um die „praktische Ästhetik im Städtebau“, wenn auch bereits andere Bestrebungen sich andeuten. So äußert er, es sei Sache der Volkswirtschaft, im Städtebau „die Bedürfnisse klar zu legen und das Programm aufzustellen“, der Volkswirt habe „recht eigentlich in die Rolle der Bauherrschaft einzutreten“.14 Sein Vorschlag, das Stadterweiterungsgebiet in Bezirke von einer gewissen Selbständigkeit einzuteilen, ist der erste Ansatz zur heute allgemein üblichen Gliederung der Stadt – wenn auch unter ästhetischem, nicht unter soziologischem Blickwinkel entwickelt.

[1896] Einen ähnlichen Gedanken finden wir bei Fritsch, der aber mit seiner „Stadt der Zukunft“ weiter zielt: ihm geht es um die Reform der Gesellschaft. Die Großstadt ist für ihn ein wüster Häuserhaufen ohne innere Ordnung, der nur den Geist der Verwirrung und der Zuchtlosigkeit großziehen könne; durch ihre Reform will er „ordnend und richtend auf den Menschengeist zurückwirken.“15

Zugleich sieht Fritsch den Stadtplan nicht statisch, sondern entwirft ihn im Hinblick auf eine stufenweise Entwicklung, bei der die ältesten Stadtteile jeweils der Neubebauung weichen. Diese Einbeziehung des Zeitelementes steht im Gegensatz zu den üblichen Idealstadtplänen und kann als Symptom des Zurücktretens ästhetischer Gesichtspunkte gelten, unter denen ja das Unfertige, nicht in sich Geschlossene abzulehnen wäre. [1898] Im Grundsätzlichen verwandt ist Howards Konzeption der Gartenstädte, die nicht allein die Menschenballung Londons auflockern, sondern den Rahmen für eine neue und bessere Gesellschaft darstellen sollen:

„Stadt und Land müssen vermählt werden, und aus dieser freudigen Vereinigung wird neue Hoffnung, neues Leben, eine neue Kultur erwachsen.“16

Seine Gedanken, mit der Gründung von Letchworth und Welwyn Garden City in die Tat umgesetzt, wirken bis zu Englands heutigen New Towns fort; im übrigen wird zwar das ästhetische und wohnhygienische Element des aufgelockerten Wohnens im Grünen begierig aufgegriffen, das eigentliche Kriterium der Gartenstadt jedoch, die enge Beziehung von Arbeits- und Wohnstätte im Rahmen der räumlich begrenzten Stadt, nicht konsequent erstrebt, ja vielfach völlig mißverstanden.

[Die Jahrhundertwende] Um die gleiche Zeit beginnt die Großstadt ins Blickfeld der Wissenschaft zu rücken: aus Anlaß der Städteausstellung in Dresden im Jahre 1903, die den Einrichtungen des großstädtischen Lebens gewidmet ist – einem „Bereich, der in dieser Zusammenfassung noch nicht zur Darstellung gebracht worden ist“, wie man mit Stolz hervorhebt –, erscheint ein Sammelband, der sich von verschiedenen Seiten her dem Phänomen der Großstadt nähert. Die Einzelbeiträge werten in ihrer Mehrzahl die Großstadt als ein zwar noch mit gewissen Schwächen behaftetes, aber in der Entwicklung zum Guten begriffenes Gebilde, als „Bahnbrecher auf dem Wege einer aufwärts strebenden, wahrhaft sozialen Kulturentwicklung“.17 Simmel allerdings kennzeichnet in seinem Beitrag den Bewohner der durch Geldwirtschaft und Verstandesherrschaft geprägten Großstadt nüchtern und kritisch: bindungslos und blasiert, verfüge er über eine Freiheit, die ihn keineswegs glücklich mache.18

Bleibt das Urteil des Soziologen Simmel wissenschaftlich-distanziert, so beweist sein Zeitgenosse Geddes – Soziologe und Biologe zugleich –, daß sich die wissenschaftliche Analyse des Bestehenden und die Aufstellung eines Programms für Planungsmaßnahmen sogar in der gleichen Person vereinen lassen. Er fordert die sorgfältige Erfassung aller Gegebenheiten, die sich auf Landschaft, Bevölkerung und Wirtschaft beziehen – „place, folk, and work“ –, und wendet sich gegen die Allzuvielen, die in der Planung nur verkehrliche und ästhetische Probleme sehen, anstatt sich „in den Geist der Stadt, ihr geschichtliches Wesen und ihre lebendige Entwicklung“ zu vertiefen.19 Geddes gilt als Begründer sowohl des Planens im regionalen Zusammenhange als auch der Auffassung, daß dem sozialen Aspekt der Planung der Vorrang gebühre und daß er der wissenschaftlichen Erforschung bedürfe, anstatt – wie bisher – günstigstenfalls der gefühlsmäßigen Erfassung durch den Städtebauer überlassen zu bleiben. Geddes bleibt mit seiner engen Verknüpfung von Soziologie und Planung eine Ausnahmeerscheinung; eine mittelbare Beziehung wird durch Cooley angebahnt, der auf die Bedeutung der Primärgruppen (primary groups) für Charakterformung und Gemeinschaftsbildung hinweist. Er konstatiert das Schwinden der nachbarlichen Beziehungen in der großen Stadt des Industriezeitalters und fügt hinzu: „Wieweit dieser Wandel eine gesunde Entwicklung darstellt und wieweit eine Krankheit, ist vielleicht noch ungewiß.“20 In der Folgezeit entscheiden sich die Planer für die Deutung im Sinne der Krankheit und beginnen nach einer geeigneten Therapie zu suchen.

[1909] Gleichzeitig verstärken sich die kritischen Stimmen aus dem Bereich der Sozialpolitik, die insbesondere gegen Wohnungselend, Bodenspekulation und Grundbesitzverhältnisse gerichtet sind; in Deutschland treten vor allem Eberstadt und Damaschke hervor. Hier steht nicht das wissenschaftliche Interesse an der Stadt, sondern das soziale Verantwortungsgefühl im Vordergrund, und wenn wir einen Blick auf die der Stadt gewidmete Dichtung werfen, so ist vielfach ein ähnlicher Impuls zu spüren: Von Julius Harts Gedicht „Auf der Fahrt nach Berlin“ zu Rilkes Worten über die großen Städte – „Verlorene und Aufgelöste“ – und weiter zum lyrischen Werk Georg Heyms, in dem immer wieder der Gegensatz zwischen der dunklen, stumpfen Materie und dem Rot von Feuer und Blut das Bild der Stadt beherrscht. Die kritische Note überwiegt, wenn auch zu gleicher Zeit Loblieder auf die Großstadt gesungen werden, wie in Carl Sandburgs Gedicht „Chicago“, das die Faszination der aufstrebenden Millionenstadt widerspiegelt. In den ungebändigten Kräften der Großstadt sieht der Amerikaner seine eigene Vitalität symbolisiert, während dem Europäer die Sorge zu schaffen macht, die Großstädte könnten aufhören, Heimat zu sein. Steht daher die Kritik vielfach – wie bei Ruskin – im Zeichen einer rückwärts gerichteten Betrachtungsweise, so lassen zugleich die Utopien der zukünftigen Stadt erkennen, was an der gegenwärtigen unbefriedigend scheint: Bellamy, Morris und Wells vermitteln hier manchen aufschlußreichen Einblick.

Der kulturkritische Unterton, der in den Zeugnissen der Wissenschaft, der Sozialpolitik und der Dichtung mitschwingt, ist seit Fritsch und Howard auch in der städtebaulichen Fachliteratur vernehmbar. Schultze-Naumburgs städtebauliche Darlegungen in seinen „Kulturarbeiten“ sind zwar weitgehend von der ästhetischen Sicht Sittes bestimmt, doch verurteilt er die Stadt seiner Zeit auch vom moralischen Standpunkt aus: ein neues Ideal müsse aufgestellt werden, denn das, was uns beim Anblick unserer Städte quäle, sei nichts als der in Stein und Holz und Eisen sich offenbarende Mangel an Idealen.21

[1911] Im Zusammenhang damit findet der soziale Aspekt der städtebaulichen Arbeit zunehmende Beachtung; Marshs Formulierung, die Hinterhöfe einer Stadt und nicht die Schmuckplätze seien der wahre Maßstab ihres Wertes und ihrer Kraft22 ist dafür ebenso kennzeichnend wie Hegemanns Werk über die Berliner Städteausstellung mit seiner Betonung der sozialen Aufgabe.23

Der revolutionäre Neubeginn in Deutschland führt nach dem ersten Weltkriege zu einer Verflechtung ästhetischer Ziele und sozialer Idealvorstellungen; ihr entspringt gelegentlich – so bei Wolf – ein Streben nach Monumentalität, das jedoch bald als Mißverständnis gegenüber der sozialen Aufgabe erkannt wird.

[1921] Gleichzeitig verlagert sich das Schwergewicht der städtebaulichen Erörterungen vom ästhetischen auf das funktionelle und wirtschaftliche Gebiet; hatten volkswirtschaftliche Aspekte schon seit Henrici eine gewisse Rolle gespielt, so definiert nun Heiligenthal den Städtebau als „eine vorausschauende wirtschaftliche Tätigkeit, deren vornehmstes Werkzeug die Technik im weitesten Sinne ist“.24 Seine Konzentration auf die wirtschaftliche Seite des Städtebaues läßt ihn in seinem städtebaulichen Handbuch Sittes Hauptanliegen – die künstlerische Anordnung der öffentlichen Gebäude – mit keinem Wort erwähnen.

Die gleiche Tendenz führt dazu, daß wirtschaftliche Vorteile im Konkurrenzkampf der Nationen zu einem Ziel städtebaulicher Arbeit werden: Hegemann und Le Corbusier, Heiligenthal und Hoepfner betonen diesen Gesichtspunkt ebenso wie Sierks, dem es daneben um die klare wissenschaftliche Fundierung des Städtebaues unter dem Blickwinkel des Ingenieurs geht.

Eine ganz ähnliche Entwicklung vollzieht sich in den Vereinigten Staaten, wie die folgenden Sätze aus der Einleitung eines umfangreichen Planwerks zeigen:

„Während der Plan früher lediglich ein formvollendeter Entwurf sein wollte, strebt der moderne Plan danach, sich als produktiver Bestandteil der Wirtschaftsmaschinerie zu bewähren … Der Planer … erwartet … vom Volkswirtschaftler, daß er die Stadt selbst erkläre, ihre Existenz, ihren Charakter und ihre Funktion. Er ist überzeugt, daß man, um vernünftig zu planen, die Stadt als volkswirtschaftliches Phänomen klar erkennen müsse, und er brennt darauf, dieses Phänomen zu verstehen.“25

[1927] Gerade dort sind aber auch noch andere Kräfte am Werk, „die Stadt, ihre Existenz, ihren Charakter und ihre Funktion“ zu erklären: in den zwanziger Jahren prägt sich das Gebiet der „urban sociology“ aus. Zu seinen bedeutendsten Vertretern gehört Park, der in der Stadt das geeignete Laboratorium zur Erforschung der menschlichen Natur und der gesellschaftlichen Vorgänge sieht;26 er führt Cooleys Gedanken weiter, verbindet aber mit der Beobachtung eine Tendenz zur sozialen Reform, wie sie der amerikanischen Soziologie allgemein in höherem Maße eigen ist als der deutschen.

Auch die Stadt in ihrer Gesamtheit steht für die deutsche Soziologie noch nicht im Brennpunkt des Interesses; Brunner kann 1925 schreiben, daß „die Einordnung der dem gesamten Bauwesen eigentümlichen sozialen und wirtschaftlichen Gehalte in das System der Sozialwissenschaften noch aussteht.“27 Ganz im Sinne dieser Feststellung liegt die Forderung, die drei Jahre später auf dem Gründungskongreß der „Internationalen Kongresse für neues Bauen“ (CIAM) gestellt wird: die Architektur müsse wieder auf ihre eigentliche Ebene, die wirtschaftliche und soziologische, erhoben werden.28 Die Annäherung der Städtebauer an den Blickpunkt der Soziologen ist offenkundig: Die Arbeiten Lavedans und vor allem Poëtes in Frankreich lassen sie ebenso erkennen wie die Bemühungen Perrys um die Nachbarschaftseinheit in Amerika, wie Schumachers Schriften oder wie Hoepfners Ruf nach einem „Siedlungsingenieur“, der sich tief hineindenken müsse in menschliche Eigenart und Lebensweise: an die Stelle der Berechnung müßten Beobachtung, Denken und Abwägen treten.29 Die allmähliche Verschiebung der Wertmaßstäbe wird in einer Schrift der CIAM mit dem bezeichnenden Titel „Rationelle Bebauungsweisen“ deutlich: während Boehm und Kaufmann nur die technisch-finanzielle Seite behandeln, betont Gropius, daß für ihn der Begriff „rationell“ gleich „vernunftgemäß“ mehr umfasse als den rein rechnerischen Aspekt.

[1933] Zwei Jahre später entsteht die Charta von Athen als städtebauliches Manifest der CIAM und demonstriert die Überwindung des einseitig wirtschaftsbezogenen Denkens. Sie stellt fest, daß die Lebensbedingungen der Stadt den elementarsten biologischen und psychologischen Bedürfnissen der großen Masse ihrer Bewohner nicht entsprächen. Zugleich fordert sie vom Städtebauer, er solle menschliche Bedürfnisse und menschliche Wertmaßstäbe zum Angelpunkt aller baulichen Maßnahmen machen; die Stadt solle sich organisch und ausgewogen entwickeln und auf der materiellen wie auf der geistigen Ebene die Freiheit des Individuums und die Vorteile kollektiven Handelns sichern.

So rückt neben der Sorge für den Einzelmenschen nun auch das Bemühen um die menschliche Gemeinschaft in den Vordergrund der städtebaulichen Arbeit. Das Prinzip der Nachbarschaftseinheit wird in die Charta von Athen aufgenommen und gehört nach dem zweiten Weltkriege so sehr zum planerischen Rüstzeug, daß der Begriff gelegentlich zum Schlagwort wird. Auch wo die Nachbarschaft kritisiert wird – vor allem weil man den Verlust spezifisch städtischer Werte befürchtet –, beherrschen soziologische und sozialpsychologische Argumente die Diskussion. Diese Entwicklung ist allenthalben nachzuweisen: in der deutschen Nachkriegsliteratur wird die Nachbarschaft durchweg um ihrer gemeinschaftsbildenden Funktion willen befürwortet; Stöckli sieht in ihr geradezu ein Allheilmittel für alle städtebaulichen Probleme. In Frankreich legt Bardet besonderes Gewicht auf die Berücksichtigung der zahlreichen einander durchdringenden menschlichen Gruppen und Gemeinschaften; in der englischsprachigen Literatur endlich nimmt der Begriff „Community“ – im doppelten Sinne von Gemeinschaft und Gemeinde – eine beherrschende Stellung ein.

[1948] Mit der menschlichen Gemeinschaft steht kein abstrakter Begriff, sondern etwas lebendig sich Wandelndes im Mittelpunkt des städtebaulichen Denkens; die alten städtebaulichen Konzeptionen waren statisch, auf das fertige Gesamtkunstwerk der Stadt gerichtet, während nun das Zeitelement besondere Beachtung findet. Reichow sieht in der Stadtbaukunst eine „vierdimensionale Kunst raumzeitlicher Regie und Gestaltung“,30 Umlauf fordert, die Zeit wieder zum Verbündeten der Planung zu machen,31 und Schwarz schreibt: „Der gute Plan muß die Dynamik der Geschichte mit einbauen, die ihn einmal überwindet.“32

Die gleiche Entwicklungstendenz wird an der zunehmenden Verwendung des Begriffes „organisch“ in der städtebaulichen Literatur deutlich: auch wenn über seinen Inhalt keine Übereinstimmung besteht, so ist seine Beliebtheit symptomatisch dafür, daß die bisherige Behandlung städtebaulicher Aufgaben als zu sehr den mechanisch-technischen Aspekten zugewandt empfunden wird und durch eine Betrachtungsweise ersetzt werden soll, die auch den rechnerisch nicht erfaßbaren Qualitäten des Lebens gerecht wird. So legt Reichow entscheidenden Wert auf die Forderung, die Planung müsse ihren Dispositionen das instinktive Verhalten der Menschen zugrunde legen, anstatt an den Intellekt zu appellieren, während für Neutra die physiologischen Kenntnisse und Erfahrungen im Vordergrunde stehen. Nur unter Führung der Biologie scheint ihm eine Planung denkbar, die das Weiterleben des Menschen ermöglicht; in der Sicherung dieses Zieles liegt der einzige Wertmaßstab, den er gelten läßt.33

Sucht man das Ergebnis dieses gedrängten Überblickes über ein weites und differenziertes Feld zusammenzufassen. so läßt sich mit einer gewissen Vergröberung und Verallgemeinerung wohl sagen, daß innerhalb des betrachteten Zeitraumes zunächst technisch-hygienische, dann – um die Jahrhundertwende – ästhetische, später wirtschaftlich-funktionelle und schließlich soziale und sozialpsychologische Zielsetzungen in der Rangordnung der Werte an erster Stelle standen. Eliel Saarinen hat einmal gesagt, ihm sei der Städtebau zunächst als ein künstlerisches, dann als ein wirtschaftliches, später als ein soziales Problem erschienen, Endlich habe er erkannt, daß es sich um ein Problem der menschlichen Seele handele. In diesem persönlichen Bekenntnis spiegelt sich die Verlagerung des Schwerpunkts, die sich im städtebaulichen Denken der letzten fünfzig Jahre vollzogen hat. Welchem Wandel dabei die einzelnen Aspekte der städtebaulichen Arbeit unterworfen waren, soll in den folgenden Abschnitten untersucht werden.

Gerd Albers

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