Читать книгу Die hohle Schlange, das Labyrinth und die schrecklichen Mönche von Bresel - Gerhard Gemke - Страница 4

Roter Saft

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Sie träumte schlecht. Sehr schlecht. Von einem Schachspiel. Von der schwarzen Dame, die eine riesige Spritze in Händen hielt, randvoll blutroter Flüssigkeit. Mit einer lanzenlangen stählernen Nadel. Als die schwarze Dame sie dem weißen König ins Herz bohrte, wachte sie auf.

Es war noch früh, lange vor sechs. Draußen färbte das Morgenrot die Gipfel von Großhorn und Rotspitz. Freitag, 11. April. Eine Elster schrie vor dem Fenster. Das Mädchen stieg aus dem Bett und legte eine Wolldecke über die Schultern. Nahm die trockene Scheibe Brot vom Tisch und öffnete die Tür. Mit bloßen Füßen stieg sie die kalten Steinstufen der Wendeltreppe hinauf. Das Zimmer, in dem sie geschlafen hatte, lag unter dem höchsten Rundgang des Knittelsteiner Burgturms. Darüber stach das spitze Dach in den wolkenlosen Himmel. Als sie hinaus trat, bließ ihr ein eisiger Wind ins Gesicht. Sie beachtete ihn kaum. Sie war elf Jahre alt, hieß Josephine von Knittelstein-Breselberg und nannte sich selbst, weil es sonst niemand tat, Jo.

Die Elster flatterte heran, und Jo bröselte das Brot auf den breiten Sims zwischen den Zinnen. Ihr Blick glitt über den dunklen Wald hinab ins Tal, wo sich die Mauern, Dachgiebel und Kirchtürme von Bresel aus dem Morgennebel reckten. Eine Böe wehte ihr die langen dunklen Haare wie einen Schleier vor die Augen und brachte die Traumbilder zurück. Und mit ihnen den gestrigen Tag.

Hier oben hatte sie gestanden, wie jeden Morgen. Nicht so früh, gegen halb zehn. Jo erinnerte sich an die beiden hohen Glockenschläge der Burgkapelle. Sie hatte wie üblich die Elster gefüttert. Dann war sie die Wendeltreppe hinuntergestiegen. Leise hatte sie ein Cembalo gehört.

Herr Bogdanov übte.

Sie stolperte in ihr Zimmer. Für's Aufräumen war sie selbst zuständig, dementsprechend sah es hier aus. Ihr Bett, der Wäscheschrank, das Bücherregal, von den Fußbodendielen ganz zu schweigen. Und auf dem Schreibtisch stritten sich Mathebücher, irgendeine Grammatik, eselsohrige Notenhefte und ein Atlas um den spärlichen Platz.

Gut, dass das Fräulein von Oelmütz vor lauter Höhenangst sich nicht hier rauf traute. Das war eine verarmte Großtante, deren Aufgabe in den letzten Jahren darin bestanden hatte, Jo den Stoff der ersten fünf Schuljahre einzutrichtern. Irgendeine Ausnahmeregelung der Schulbehörde hatte das ermöglicht. Jo sah das entsetzte Gesicht des spitznasigen Fräuleins noch vor sich, blass mit roten Flecken. „Auf den Turm? Niemals!“ Was hatte sie gelacht. Natürlich erst, als das Fräulein außer Hörweite war.

Jo sah sich im Zimmer um. Ihre Geige hing an der Wäscheleine, die quer durch den Raum gespannt war. Der Geigenbogen hatte sich hartnäckiger versteckt. Sie fand ihn schließlich unter dem Bett, warum auch immer. Jetzt noch schnell eine Viertelstunde geübt, dann runter zu Bogdanov. Ihrem Geigenlehrer. Jeden Donnerstag wanderte er durch den Breselwald hinauf. Meistens viel zu früh, um vor dem Unterricht auf dem Cembalo zu spielen. Unwirklich zog sein Geklimper durch das Gemäuer.

Jo schob die Geige unters Kinn. Was stand da? ff – also Fortissimo! Sie holte aus. Und Zack und Strich und – ach du Scheibe! Der Bogen sauste ungebremst zwischen die alten Hefte im Regal, die dort ihrem staubigen Ende entgegen dämmerten. Genervt rupfte Jo ihn raus. Ein Papierschnipsel segelte zu Boden und landete zwischen der Tasse Kakao von gestern Abend und der lange vermissten Haarspange. Jo hängte Geige und Bogen an die Wäscheleine und klemmte die Spange dazu. Und goss mit dem Kakao den Kaktus.

Komischer Zettel. Jo hob ihn auf. Vergilbt, die Ränder fransig und spröde, das Papier so trocken, dass es bei jeder Berührung knisterte. Und eine Zeichnung darauf.


Kästchen wie auf einem Schachbrett, von eins bis fünf nummeriert. Wahllos darüber verstreut größere und kleinere Punkte, die unordentlich mit schwarzer Tinte verbunden waren. Am rechten Rand befanden sich drei kaum leserliche Buchstaben. Vermutlich A B C. Und links oben so etwas wie ein Turm mit einer Brücke. Doch das Merkwürdigste war, jemand hatte alle Punkte mit einer Nadel durchstochen.

Jo drehte den Zettel um.


Aha. Auf dieser Seite hatte der Jemand die Nadellöcher umkringelt und bemalt und wackelige Linien von links nach rechts gezogen. Na, und das da waren ohne Zweifel ein Violinschlüssel und ein Bassschlüssel. Klaviermusik also. Jo versuchte, die Melodie zu summen. Nett. So was ähnliches hatte sie schon mal auf der Geige gespielt. Vermutlich richtig altes Zeug.

Jo hielt das morsche Papier gegen das Licht. Ach nee! Da hatte sich der Jemand richtig Mühe gegeben. Die Taktstriche folgten genau den Kästchengrenzen auf der Rückseite. Machte fünf pro Zeile. Nur waren die Takte einiges höher als die Kästchen. Jo schätzte, dass zu den fünf Kästchenreihen nur drei mal fünf Takte passten. Also fünfzehn. Nicht sehr lang für ein Klavierstück.

Über den Noten gab's noch ein paar Wortreste. Jo versuchte sie zu entziffern.

Wo ng Theoph Zar oder so ähnlich.

Ein Zar? War ein russische Herrscher. Gewesen. Früher.

Jo blickte aus dem Fenster. Die ersten Sonnenstrahlen erreichten das Tor mit der Zugbrücke, der Burghof lag noch im Schatten. Sie versuchte, die Wörter zu ergänzen. Theo, Zar von Russland vielleicht. Oder: Wo hing Theo? Alles Blödsinn. Blick zurück. ph wird wie f ausgesprochen. Theoph – Theophi – Theophanes. Wonnigste Verehrung dir, Theophanes, Zar aller Russen.

Gequirlter Quark. Außerdem viel zu lang. Sie wurde aus dem Ganzen nicht schlau.

Jo sah wieder aus dem Fenster. Eine Elster verschwand im linken unteren Eck. Da stand der Wecker. Der große Zeiger auf der Zwölf und der kleine auf der Zehn. Ach du Schreck! Jo klemmte den Zettel in das Buch Britta und der Ritter und warf es vor ihr Bett. Jetzt aber los!

Sie rannte, als würde sie vom Kopflosen Kunz durch die endlosen Flure und Treppen der Burg gejagt. Die achtundachtzig Turmstufen hinunter, am Arbeitszimmer ihrer Stiefmutter vorbei, rechts in die Ahnengalerie rein, dem Porträt von Meinhardt dem Dicken (dem sie neulich drei schwarze Haare in jedes Nasenloch gemalt hatte) die Zunge rausgestreckt, drei Meter Rutschbremsung und scharfe Kurve in den Seitentrakt. Dort befand sich ein ehemaliger Wehrturm und darin (seit Heinrich dem Dichter) das Musikzimmer. In dem ein Cembalo immer ungeduldiger klimperte. Einen Moment lang keuchte Jo die dunkle Eichentür an. Dann klopfte sie.

„Herein!“

Mit dem rechten Ellenbogen drückte Jo den Messinggriff runter und schob die Tür auf. Das Quietschen kannte sie. Ein Tröpfchen Öl war seit Raubritter Arnulfs Zeiten überfällig. Ihr Blick fiel auf das Cembalo und die klapperdürre Gestalt mit der schwarzen Mähne dahinter. In einem altmodischen Frack und abgewetzter Jeans, die mit reichlich Hochwasser über ausgelatschten Turnschuhen endete, steckte mit kritischem Blick zur Uhr Rubens Bogdanov. Klavier- und Geigenlehrer der Breselner Musikschule.

„Hereinspaziert, junge Dame, der Unterricht begann vor zwei Minuten.“

Super Laune!, dachte Jo. Herr Bogdanov streckte den Rücken und spielte ein a auf dem Cembalo. Geräuschvoll sortierte er ein paar Notenblätter, bis Jo ihre Geige gestimmt hatte. Dann nahm er seine Violine, lächelte schmal, und gab den Einsatz. Sie fiedelten durch drei Duette, deren Oberstimme Jo einigermaßen drauf hatte. Immerhin wanderten Bogdanovs Augenbrauen eine Winzigkeit in die Stirn. Lob war nicht gerade seine Stärke.

Nach dem Geigenunterricht trabte Jo zurück zum Burgturm. Beim Arbeitszimmer ihrer Stiefmutter verriet ein schmaler Lichtstreifen unter der Tür die Anwesenheit der Baronin.

„Autsch!“

Jo blieb stehen und blickte sich um. Das konnte nur aus dem Zimmer gekommen sein. Jo war die Neugier in Person, wie üblich. Auf Zehenspitzen schlich sie näher, hockte sich hin und spähte durch das riesige Schlüsselloch. Als sich ihr Auge an das trübe Licht im Zimmer gewöhnt hatte, sah sie die Burgherrin. Baronin Tusnelda. Sie saß hinter einem mächtigen Schreibtisch aus dunkler Eiche und starrte regungslos auf die gegenüberliegende Wand. Mit ihren aschegrauen Augen. Spitze Knochen spannten die Haut der Wangen wie Segel und standen in merkwürdigem Gegensatz zu den hängenden Mundwinkeln. Den immer hängenden Mundwinkeln.

Noch viel merkwürdiger aber war, was sie in den Fingern hielt. Eine Spritze, ganz eindeutig. Silbern und schmal mit einer langen stählernen Nadel. Damit hatte sie sich offenbar gestochen. Jo hielt den Atem an, während Tusnelda langsam die Hand hob und einen Tropfen Blut von der Fingerkuppe leckte. Dann beugte sich die Baronin hinunter und zog etwas aus ihrer Handtasche. Ein kleines Fläschchen. Sie betrachtete es von allen Seiten. Ein dünnes Lächeln wanderte über ihre Lippen. Mit spitzen Fingern schraubte Tusnelda den Deckel von dem Glas und steckte die Nadel hinein. Millimeter für Millimeter zog sie die Spritze auf, bis sie dunkelrot glänzte. Zufrieden betrachtete sie ihr Werk. Dann griff sie in die Schublade und holte einen matt schimmernden Gegenstand heraus.

Gut, dass alte Türen so riesige Schlüssellöcher hatten. Jo ging noch dichter heran. Tusnelda drehte den Gegenstand vor ihren Augen. Sie bewegte den Mund, als spräche sie zu ihm. Es war ein Ring. Eine goldene Schlange, den Kopf auf einem tiefblauen Stein. Jo spürte kaum ihre Fingernägel, die sich in die Handballen drückten. Der Knittelsteiner Burgring! Das alte Erbstück von Ritter Kunibald! Aber was machte die da?

Die Baronin stach die Stahlnadel in eine Spitze der gespaltenen Zunge. Die Zunge war hohl. Jo kannte die ersten Sätze der Burgchronik auswendig. Langsam drückte Tusnelda die rote Flüssigkeit in den Schlangenkopf.

Jo verlagerte ihr Gewicht von einem Fuß auf den andern. Ein Stein knirschte unter ihrer Sohle. Tusnelda blickte auf. Wie in Zeitlupe erhob sie sich. Schritt für Schritt durchquerte sie den Raum. Rumms! riss sie die Tür auf und starrte den Flur entlang. Niemand war zu sehen.

Nur ein Schatten oben auf der Wendeltreppe zitterte.

Um halb drei musste Jo beim Fräulein von Oelmütz französische Vokabeln wiederholen und schriftliches Dividieren pauken. Später half sie Emma in der Küche. Was sie gern tat, denn Emma hatte Jo in ihr großes Herz geschlossen. Um halb fünf räumte Jo das Gästezimmer auf, das ihre Cousins Kurt und Knut beim letzten Besuch als Schlachtfeld hinterlassen hatten. Abends spielte sie Schach, wie immer gegen sich selbst. Aber es ging heute nicht wie sonst. Es war ihr, als starrte sie die schwarze Dame unentwegt an. Warum hatte Tusnelda etwas in Kunibalds Ring gespritzt? Und vor allem was?

In der folgenden Nacht träumte sie schreckliche Dinge.

Das laute Krächzen der Elster brachte Jo zurück in die Kälte des Freitagmorgens. Flatternd stürzte sich der Vogel in den Wind und glitt über die Wipfel des Breselwaldes hinunter aufs Städtchen zu. Bresel. Mit Schulen und normalen Lehrern. Freundinnen und Nachmittagsverabredungen. Jo seufzte. All das konnte man in einer Burg vergessen. Sie verteilte die letzten Brotkrumen auf der Mauer und machte sich an den Abstieg.

Die hohle Schlange, das Labyrinth und die schrecklichen Mönche von Bresel

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