Читать книгу Die hohle Schlange, das Labyrinth und die schrecklichen Mönche von Bresel - Gerhard Gemke - Страница 8

Burgfest

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Es kamen die Ostertage. Bürgermeister Schwobenhammer wurde 66, und kurz darauf trieb der erste Mai mit strahlendem Sonnenschein die Breselner Bürger ins Grüne. Die ganze Stadt summte wie ein Bienenkorb und bereitete sich auf das kommende Wochenende vor. Auf die Tausend-Jahr-Feier von Stadt und Burg und das große Fest auf Knittelstein, zu dem alle Breselner geladen waren.

Freitag, 2. Mai.

Die Sonne lachte über dem Breselner Land. Alles war auf den Beinen, hatte sich herausgeputzt und flanierte mit frischgewaschenen Gesichtern zur Sankt-Urban-Kirche. Am Portal winkte Pastor Ambros Himmelmeyer seine Schäfchen ins geweihte Gewölbe.

Vorne im Westchor hatte schon das spärliche Trüppchen der Sankt-Florian-Mönche Platz genommen. Abt Florestan blinzelte mit altersmüden Augen zur Apsis empor. Bruder Bramsch mit der Narbennase und der kleine Bruder Girsch spielten Schiffeversenken unter der Betbank. Der Koch Bruder Schorff steckte dem Kellermeister Bruder Klumpp eine Packung Zigaretten zu. Für danach. Der breite Bruder Bankratz schlief.

Nun betrat die Knittelsteiner Baronenfamilie das Kirchenschiff. Tusnelda mit turmhoch toupiertem Haar am Arm ihres Gatten Eduard. Dicht gefolgt von Jo mit langem dunklen Zopf, quietschrosa Rüschenkleid und einem Ich-ertrage-das-alles-ohne-mit-der-Wimper-zu-zucken-Blick. Dahinter im mausgrauen Kostüm Fräulein Sibylle von Oelmütz. Selbstverständlich nahmen sie in der erste Reihe Platz. Rechts. Die war für sie reserviert, wie schon für alle Knittelsteiner zuvor.

Die zweite Reihe füllten Bürgermeister Aloisius Schwobenhammer, seine Frau und die zwei erwachsenen Töchter. Nebendran Agathe und Radolf Müller-Pfuhr. Radolf mit kecker Fliege unterm Kinn und einem strahlenden Lächeln darüber. Jeder sollte sehen, wer neben dem Bürgermeister sitzen durfte.

Der Rest der rechten Bankreihen war grün. Grüne Hosen, grüne Jacken, grüne Mützen mit grünen Plastikeichenblättern: Sankt Luitprand, die Schützenbruderschaft von Bresel. Und ihre Frauen in den Reihen dahinter.

In der letzten Bank auf der äußersten Kante hockte Friedrich Morchel, schneuzte sich die Triefnase und winkte den Heiligenbildern zu. Ehemaliger Schnapsbrenner und in Bresel bekannt und beargwöhnt als der alte Fritz.

Pastor Himmelmeyer ließ seinen Blick durch das barocke Kirchengewölbe gleiten. Auf der linken Seite ganz vorn, brav und mucksmäuschenstill die Klassen eins bis vier der Friedrich-von-Spee-Grundschule. Dahinter die Unterstufe des Adalbertinums.

In Klasse 5b stieß Freddie Jan in die Seite und flüsterte: „Guck mal, die Grafen!“

„Quatsch, das sind Barone.“

Lisa kicherte: „Hat die aber ein bescheuertes Kleid an.“

„Pssst!“ Das war Anke Rufus, die ihre Schüler von der allerbesten Seite präsentieren wollte. Also ebenfalls mucksmäuschenstill.

Die folgenden Bankreihen ertrugen einen ungeordneten Haufen Schüler höherer Klassen unter den wachsamen Augen von Direktor Zuffhausen. Vier Vincentinerinnen vom Vincenzkrankenhaus versteckten sich dahinter. Eine weitere Reihe füllte sich mit den Betreibern der besten Eisdiele weit und breit. Annamaria und Giacomo Favretti und ihre bereits volljährige Tochter Franka, neben die sich Elfriede Sievers (wie immer im braunen Kamelhaarmantel) und ihr Oskar pflanzten. Die Damen-Doppelkopfrunde Hilde Pomsell, Ludmilla Reisich, Martina Dall und Monika Ziehar rutschte neben Sparkassendirektor Schönemann und Kaufhausbesitzer Fridolin Rausch. Dahinter mit leicht angestrengter Miene Hauptkommissar Franz van der Velde und mit leicht abwesendem Blick auf den Hinterkopf von Franka Favretti sein Assistent Hinrich. Es folgten noch ein paar Reihen Eltern und sonstige Breselner. Den Abschluss bildeten traditionsgemäß die Vertreter der Handwerksberufe. Frisör Fernandel, Bäcker Blume, Schneider Böck und Totengräber Todd Emmerich, dem wie üblich die Augen schon zufielen, sobald er seinen betagten Rücken an die Kirchenbank lehnte.

Alle da? Dann konnte es ja losgehen. Pastor Ambros Himmelmeyer schloss die Kirchentür und gab dem Herrn Bächle einen Wink. Der griff in die Tasten der Sankt-Urban-Orgel und stimmte jenes herzerweichende und augenbefeuchtende Kirchenlied an, in das die versammelte Gemeinde mit Wonne einfiel: Wir sind nur Gast auf Erden und wandern ohne Ruh der ewigen Heimat zu.

Nach anderthalb Stunden hatten die Breselner genug fürs Seelenheil getan. Die Schützenkapelle nahm im Mittelgang Aufstellung, spielte den berühmten Breselner Defiliermarsch und wanderte zum Marktplatz hinaus. Das Volk folgte und vergnügte sich den restlichen strahlenden Maitag zwischen Kirmesbuden und Karussels, Zapfhähnen und Würstchenbratereien. Die höheren Klassen des Adalbertinums führten ein Ritterspiel um den Marktbrunnen auf, das Ritter Kunibald von Knittel schmunzelnd begutachtete. Wie gern hätte er mitgetan. Freddie stand auf dem Brunnenrand und klopfte Kunibald auf die eiserne Schulter. Tja, vorbei ist vorbei.

Freddies Blick fiel auf den rauchenden Florian-Mönch, der vor dem Kirchenportal stand und sich mit dem alten Fritz unterhielt. Fritz kramte umständlich etwas aus seiner Hosentasche. Was das war, konnte Freddie auf die Entfernung nicht erkennen. Damit fuchtelte der Alte dem Mönch vor der Nase herum. Angewidert wich der Kapuzenmann zurück. Schließlich zog er ein paar Geldscheine aus seiner Kutte. Fritz ergriff sie hastig. Als jenes Ding in Fritzens Hand den Besitzer in umgekehrter Richtung wechselte, blitzte es kurz in der Maisonne auf.

Etwas kleines Rotes, dachte Freddie, hätte das aber nicht beschwören können. Fritz packte die Hände des Mönchs und schüttelte sie überschwänglich. Dann verschwand er im Gewühl. Freddie schaute der Mönchskapuze nach, bis sie in die Altstadtgassen einbog. Richtung Kloster.

Soso, dachte Freddie. Was für Geschäfte macht ein Mönch mit der alten Triefnase Morchel? Und viel später glaubte Freddie sich zu erinnern, dass er in diesem Moment zum ersten Mal ein ungutes Gefühl gehabt hatte. Dass etwas in Bresel nicht stimmte. Als ob das Sonnenlicht eine falsche Färbung bekommen hätte. Vielleicht lag das auch nur daran, dass ihm der alte Fritz (wie den meisten Breselnern) unheimlich war. Oder dass er in der Kirche zu lange Agathe angestarrt und an das Rattengift in ihrem Keller gedacht hatte.

Freddie gab Kunibald einen Nasenstüber und sprang vom Brunnenrand. Wo waren bloß Jan und Lisa abgeblieben? Freddie fand sie an der Wurfbude, und die Sonne hatte wieder ihren alten Glanz.

Punkt 20 Uhr dirigierte Aloisius Schwobenhammer die Schlussfanfare der Schützenkapelle – die zum Glück nicht so spielte, wie Aloisius mit den Armen ruderte – und wünschte seinen lieben Breselnern noch einen stolperfreien Heimweg und eine geruhsame Nacht.

Nur ein Häuflein mehr oder weniger aufrechter Mitglieder des Musikzuges belagerte Bierbudenbesitzer Bruno Brubeck bis weit nach Mitternacht.

Und – wie konnte es auch anders sein – dieses Häuflein erschien am nächsten Morgen auf die allerletzte Sekunde vor zehn zum großen Platzkonzert der Schützenkapelle auf dem Marktplatz. Das war ein Tuten und Blasen, dass es die Vögel an den Stadtrand trieb, und Ritter Kunibald froh war, dass eiserne Ohren nicht platzen konnten.

Nach einer guten Stunde hatte sich ganz Bresel in festlicher Stimmung vor dem Rathaus versammelt. Von dort ging's mit Tschingderassassa und Rummtata die Serpentinen der Breselbergstraße hinauf zur Burg.

Kurz vor zwölf zogen die Breselner über die Knittelsteiner Zugbrücke, wo sie bereits erwartet wurden. Die ganze Festung war prächtig hergerichtet. Hoch auf dem Bergfried und ringsum auf den Wehrtürmen knatterten Fahnen im Wind. Girlanden und Laternen hingen an den Zinnen und schmückten die Torbögen. Aus den Fenstern des Palas begrüßten Fanfarenbläser die staunenden Gäste.

Neben der Treppe zu den Museumsräumen brutzelte Köchin Emma ein goldbraunes Wildschwein am Spieß. Der Duft zog verführerisch über den Hof und ließ den Breselnern das Wasser im Munde zusammenlaufen. Oskar Sievers' Magen knurrte so vernehmlich, dass Elfriede ihm einen vorwurfsvollen Blick zuwarf.

Schauspieler in blitzenden Ritterrüstungen füllten Krüge mit Orangensaft für die Kinder und mit Gerstensaft für die Älteren. Und eine Musikantentruppe, die auf den lieblichen Namen Henkersmahlzeit hörte, gab mittelalterliche schwäbische Tänze zum Besten – die teilweise weder mittelalterlich noch schwäbisch waren, wie Rubens Bogdanovs gespitzte Ohren bemerkten. Allen anderen Ohren war das wurscht.

Links und rechts vom Torhaus standen Baron Eduard und Clemens Zuffhausen und schüttelten die Hände vom Bürgermeister und Sparkassendirektor, vom Hauptkommissar und Kaufhausbesitzer, Eisverkäufer, Bäckermeister, Schneider, Schuster, Metzger und Frisör und allem, was in Bresel Rang und Namen hatte. Der Hof füllte sich rasch mit Stimmengewirr und Kindergeschrei und platzte bald aus allen Nähten.

Mittendrin stand Jo und spuckte gelangweilt in den Burgbrunnen. Sie sah ihren bescheuerten Cousins Kurt und Knut zu. Die Zwillinge versuchten, die Henkersmahlzeit zum Lachen zu bringen. Es war zum Heulen. Gestern bereits waren die beiden Stimmungskanonen hereingeschneit. Mitsamt ihren Eltern. Jo klangen noch Tusneldas Ermahnungen im Ohr: „Dass du aber auch schön mit deinen Cousins spielst!“ Tante Adelgunde hatte dazu überaus freundlich gelächelt, und Onkel Humbert stank daneben wie der Lackladen, für den er arbeitete.

Später, nachdem sich Jo standhaft geweigert hatte, das Burgfräulein am Spinnrad zu geben, hatten die Zwillinge versucht, sich mit Sticheleien über Fräulein von Oelmütz und Jos Privatgeigenlehrer an ihr zu rächen. Als sie einsehen mussten, dass auch das bei Jo nicht verfing, hatten sie mit Tante Elvira angefangen. Ausgerechnet Elvira! Jos Augen hatten sich zu schmalen Schlitzen verengt.

Wie schlecht die doch Burg Knittelstein renoviert hätte. Nicht das Gebäude, neinnein! Kurt und Knut wackelten mit den Krausköpfen. Das riesige Ölbild, das in Augsburg die halbe Wohnzimmerwand einnahm. Bei den Breselberg-Rummelpotts. Jo erinnerte sich dunkel an den grottenhässlichen Schinken. Vor wallender Wolkenkulisse thronte eine Ritterburg hoch über schroffen Felsen und blickte verächtlich ins Tal auf eine Handvoll geduckter Bauernhäuser. So jedenfalls kam es Jo vor. Und dieses Gepinsel hatte Elvira restauriert? Elvira, die Schwester von Jos Mutter, bei der Jo ihre halbe Kindheit verbracht hatte. Nachdem ihre Mutter gestorben war.

„Warum?“ Sie hatte sich bemüht, nicht allzu interessiert zu klingen.

„Weil Onkel Aarne drauf rumgemalt hat.“ Knut (oder Kurt) fand das offenbar ausgesprochen witzig.

Jo hatte betont gelangweilt aus dem Fenster geblickt. Onkel Aarne, soso. Onkel Aarne kannte sie. Flüchtig. Der Chef der Firma, für die Lackonkel Humbert arbeitete. Ein Finne mit einen unaussprechlichen Nachnamen, der irgendwie auf mäki endete. Humbert hatte Jo mal durch diese Firma geführt, kurz nachdem Eduard und Tusnelda geheiratet hatten. KyanTox oder so. In Schrobendorf. Das wenige, woran sich Jo noch erinnerte, waren gewaltige Türme aus Fässern. In jeder Halle stapelten sie sich zu Hunderten. Eine ganze Firma voller Fässer, die wie Onkel Humbert rochen.

„Und was hat er darauf gemalt?“

„Fässer“, hatte Kurt (oder Knut, wer wusste das schon) gekräht. „Und deine Tante hat das nicht wieder weggekriegt. Sieht man immer noch. So was von Schlamperei!“

Daraufhin hatte Jo das nette Doppel einfach stehen gelassen und sich in die Bibliothek verzogen. Hinter einem der schweren Brokatvorhänge hatte sie sich auf das Fenstersims gekauert und hinausgestarrt. Vielleicht auch ein bisschen geweint. Und an Tante Elvira gedacht.

„Pssst!“ Jo blickte erschrocken auf. Ein neuerliches „Pssst!“ ihrer Lieblingscousins riss sie zurück in den Burgfesttrubel. Mit ungemein listigen Gesichtern hatten sich die beiden an die Fersen von zwei festlich geschmückten Damen geheftet und wichen ihnen auf Schritt und Tritt nicht von den Hacken. Die beiden Damen hießen Elfriede Sievers und Agathe Müller-Pfuhr und nahmen keinerlei Notiz von dem Theater hinter ihrem Rücken. Sie nämlich hatten nur Blicke für den einen: den werten Herrn Baron Eduard.

Armer Papa, dachte Jo und sah sich auf dem überfüllten Burghof um. Und fing einen Blick von dem blonden Mädchen auf, das am Wildschweingrill stand und vielleicht schon länger zu ihr herüberschaute. Wie ein heißer Strahl traf sie dieser Blick und brannte hinunter bis in die Kehle. Und eine unerklärliche Welle der Panik durchlief sie. Wie lange war das her? Dass sie jemanden kennengelernt hatte. Jemanden Fremdes.

Plötzlich stieß sich Jo mit einem Ruck vom Brunnenrand ab und ging mit schnellen Schritten zu einer Seitentür, auf der Privat stand. Ein paar Minuten Frieden von diesem Gewühl und ihren netten Cousins. Dann würde sie zurückkommen. Und vielleicht zum Wildschweingrill rübergehn. Rein zufällig. Sie konnte ja so tun, als wollte sie nur mit Emma schwatzen …

Kurz bevor sie die Tür erreichte, glitten ihre Augen über die Palasmauern. Hinauf zu ihrem Lieblingsfenster. Und da standen sie! Jo schüttelte sich. Tusnelda, Tante Adelgunde und dieser Lackonkel. Und starrten hinunter auf das Volk.

Das sich im Übrigen prächtig amüsierte. Die Stimmung auf dem Burghof konnte nicht besser sein. Die Henkersmahlzeit spielte wie noch nie, Bierbudenbesitzer Bruno Brubeck riss mit denselben Nasen wie letzte Nacht dieselben Witze, und drei nachgemachte Ritter kämpften, dass selbst die Rüstung von Raubritter Arnulf in den Museumsräumen das große Visierklappern bekam.

Zwischen ihnen rannte Freddie als Meinhardt der Dicke und versuchte Wolfram mit dem Buckel (also Jan) über die Südklippen zu jagen. Lisa stand am Wildschweingrill und beobachtete dieses Mädchen mit dem langen Zopf, das mit gelangweilter Miene am Brunnenrand lehnte und zwei noch langweiligeren Bengeln zusah. Heute zum Glück ohne rosa Rüschenkleid. Für einen Moment hatten sich ihre Blicke getroffen. Hatte sie gelächelt? Oder nur den Mund verzogen über den Haufen Breselner, der sich schwatzend vor Lisas Nase schob und weiter zum Burgtor zog.

Unter dem steinernen Bogen begrüßte gerade Direktor Zuffhausen freudestrahlend Oskar Sievers – und rauschte mit ausgebreiteten Armen an Anke Rufus vorbei. Lisa lachte schallend über das Gesicht ihrer Lieblingslehrerin. Achja, wie hatte die sich noch ausgedrückt? Wir müssten mal mit den Burgbewohnern verhandeln. Okay!

Gerade als Lisa sich in Bewegung setzen wollte, sah sie den Zopf des Mädchens durch eine Tür in der Burgmauer verschwinden. Möglicherweise genervt von diesen Grimassen schneidenden Witzbolden. Lisa blieb enttäuscht stehen. Einen Moment überlegte sie, ob die beiden Knallerbsen auch zu den Burgbewohnern gehörten. In Bresel zumindest hatte Lisa die noch nie gesehen. Doch mit denen wollte sie auf keinen Fall verhandeln. Außerdem waren sie mit ihrem Affentanz hinter Elfriedes und Agathes Rücken vollauf beschäftigt.

Lisa wandte sich kopfschüttelnd ab. Es würde sich eine bessere Gelegenheit bieten, das Burgmädchen kennen zu lernen. Irgendwann. Sie arbeitete sich zurück zum Grill, wo sich inzwischen Köchin Emma kaum retten konnte vor lauter Komplimenten für ihr Wildschwein am Spieß.

Und dann erschien sie. Tusnelda persönlich. Oben auf der Treppe zum Hof. Blieb stehen und blickte hinunter auf das Volk. Bog mit aller Kraft die Mundwinkel zu einer Art Grinsen. Was blieb ihr anderes übrig? Sie musste dort hinunter. Wenigstens einmal. Die Querflöte der Henkersmahlzeit rührte in ihrem Ohrenschmalz. Hatte nicht so ein Flötenheini in – wo war das noch gleich – die Ratten aus der Stadt gepfiffen und im Fluss ertränkt? Tusneldas Augen wanderten über die Wehrmauern hinunter auf das silberne Bändchen des Breselbachs. Spiel, Pfeife, spiel!

Sie stakste die Treppe hinunter. Und da kamen sie auch schon. Allen voran Elfriede, die Frau von diesem Heimatforscher, dicht gefolgt von Agathe Müller-Pfuhr. Tusnelda stellte die Ohren auf Durchzug. Ach, Frau Baronin hier! und Ach, Frau Baronin da! Über was sollte man sich auch mit solchen Leuten unterhalten?

Tusnelda holte tief Luft: „Wie werden Sie denn in der Stadt mit den Ratten fertig?“

Agathe Müller-Pfuhr sah sie ungläubig an. „Ach, Frau Baronin, haben Sie damit auch Probleme?“

Tusnelda ließ ihren Blick über die feiernden Breselner gleiten. „Gelegentlich!“

„Also wenn Sie meinen Rat brauchen …“ Schnatter, schnatter, schnatter. Ein endloser Wortschwall ergoss sich über die Burgherrin. Von Agathes Experimenten mit Schwarzbrot, mit Weißbrot und ihrem unerwarteten Erfolg mit Rosinenstuten. Und die rote Flüssigkeit draufgetropft – von Bruder Bramsch.

„Sie kennen doch Bruder Bramsch?“

„Ja!“

„Bruder Bramsch von den Florian-Mönchen“, mischte sich Elfriede ein.

„Ich sagte schon: Ja!“

„Der immer den guten roten Saft hat. Aber pscht! Dass das unter uns bleibt …“

Tusneldas Blicke hätten jedes andere Lebewesen erstochen. Nur Agathe und Elfriede waren dagegen immun.

„Davon ein bis zwei Tropfen auf jedes Rosinenstutenwürfelchen, und die Ratten, ach Frau Baronin, ich kann Ihnen sagen, mmh, lecker, lecker! Und vierundzwanzig Stunden später: Aargh!“ Agathe würgte wie eine sterbende Ratte, und Tusnelda bohrte ihr die Blicke bis in die Nebennieren.

„Mmh, lecker, lecker! Und dann vierundzwanzig Stunden später: alle tot. So kann's gehn!“ Elfriede kicherte.

„Wenn Sie noch weitere Tipps brauchen …“ Agathe war mit ihrer Vorstellung am Ende und wandte sich mit strahlenden Augen dem Fleckchen Burgpflaster zu, auf dem gerade noch Baronin Tusnelda gestanden hatte.

Doch die rauschte schon mit stampfenden Hufen zur Treppe, warf dem Flötisten der Henkersmahlzeit einen vernichtenden Blick zu, und verschwand wie ein Gespenst im Schatten der Museumsräume.

„Rattengift!“, fauchte sie. „Als ob ich nicht wüsste, wo man Rattengift bekommt!“ Mit krachender Tür verließ sie den Saal Richtung Palas.

Auf dem Burghof blickte Eduard stumm seiner Gattin hinterher. Neben ihm stritten Agathe und Elfriede, wer denn die verehrte Frau Baronin verscheucht habe. Über ihnen schiss eine Elster auf die Welt. Der glibberige Klecks landete exakt zwischen den streitbaren Damen und Plitsch! hatten sie ein neues Gesprächsthema.

Der Elster war das egal. Sie schwebte hoch über Burg Knittelstein, sah das Fest über den Nachmittag in den Abend ziehen, krakte zu den Liedern der Henkersmahlzeit und flatterte mit den Raketen um die Wette, die zum krönenden Abschluss zu den Sternen geschickt wurden.

Bald darauf packten die Schausteller und Musikanten ihre Siebensachen. Baron Eduard und Clemens Zuffhausen fanden ein paar rührende Abschiedsworte, und die Breselner trollten sich den Berg hinunter, verteilten sich aufs Städtchen, krochen in ihre Betten und erzählten noch Jahre später von den wundervollen Festtagen im wonnigen Mai.

Als an diesem Abend die Glocken von Sankt Urban elf schlugen und die Glöckchen in der Knittelsteiner Burgkapelle hinterher bimmelten, saß Jo mit angezogenen Knien auf ihrem Lieblingsplatz in der Bibliothek, gut versteckt hinter dem Brockatvorhang. Und dachte an Tante Elvira. Elvira und ihre Werkstatt, wo es so wunderbar nach altem Holz und noch älteren Geschichten gerochen hatte. In der Jo Puppenstuben gebaut hatte, zwischen dunklen Gemälden und tischhohen Kerzenständern, zwischen Heiligenfiguren und anderem uralten Kram. Drei Jahre lang. Nach dem Autounfall, den nur Jo und ihr Vater überlebt hatten. Drei Jahre, in denen Elvira neben ihr gesessen und die Gesichter von Antonius, Laurentius, von Blasius und weiß der Himmel wem aufgefrischt hatte, bis sie mit Jos Wangen um die Wette glänzten. Wenn das Glöckchen an der Ladentür klingelte, war Klein-Josephine losgestapft und hatte die Besucher unter dem goldenen Schriftzug empfangen, auf dem Elvira Casaverde - Restauratorin stand. Jo hatte niemals fort gewollt. Aber es war anders gekommen. Ganz anders.

Später erfuhr Jo, dass ihr Vater die beiden bei einem Weihnachtsessen kennengelernt hatte. Adelgunde und Humbert von Breselberg-Rummelpott. Das wäre kaum der Rede wert gewesen, doch Adelgunde hatte eine Schwester. Vier Jahre älter, unverheiratet und in ständiger Angst, es auch zu bleiben. Baronin Tusnelda von Knittelstein-Breselberg, Herrin auf Burg Knittelstein zu Bresel. Die nun alles daran setzte, Eduard zu gefallen. So weit so schön.

Und so weit so schlecht, denn Tusnelda und Eduard heirateten! Jo bekam als Dreingabe zwei Cousins, eine neue Tante und einen Onkel, der wie eine Lackfirma roch. Sie zog in die Breselner Burg und sah kaum noch andere Kinder, außer Kurt und Knut, die alle paar Wochen einfielen und Ritter und Burgfräulein spielen wollten. Haha.

Jo wischte sich die Augen und sah aus dem Fenster. Der Burghof lag im silbernen Mondlicht. Die Fahnen auf den Wehrtürmen flatterten unruhig. Das Peitschen ihrer Spitzen war durch die doppelten Scheiben kaum zu hören. Zusammen mit der Stille in der Burg ergab es ein gespenstisches Bild. Jo konnte sich einbilden, dass aus den Schatten der Burgmauern Ritter krochen und mit viel zu langsamen Bewegungen über den Hof schritten – nein, schwebten. Knappen trugen ihnen die Lanzen hinterher, Frauen mit spitzen hohen Hüten flanierten über die Zugbrücke.

Mitten auf dem Hof aber lehnte mit blassem Gesicht dieses blonde Mädchen. Wie an unsichtbaren Fäden gezogen, hob sie die Hand und winkte Jo zu. Und Jo bekam wieder dieses Brennen in der Kehle. Das Mädchen öffnete den Mund. Sie rief etwas.

„Mach die Tür zu!“, kreischte sie, und ihre Stimme durchschnitt die Stille wie eine Kreissäge. Jo erschrak. Augenblicklich waren alle Ritter verschwunden.

„Es geht auch freundlicher!“, fauchte eine andere Stimme, und im Nebenzimmer der Bibliothek fiel eine schwere Tür ins Schloss. Wer auch immer in der Festung geschlafen hatte, jetzt war er wach.

Jo hatte sich blitzschnell tiefer hinter den Vorhang gedrückt. Die Stimmen waren keine Traumgespinste, sie gehörten Tusnelda und Adelgunde. Nach dem geräuschvollen Stühlerücken zu urteilen, machten sie es sich gerade in Papas Büro bequem. Der Raum nebenan diente als Verwaltung der Burg. In ihm befand sich auch das einzige Telefon. Er war geräumiger, als Tusneldas eigenes Arbeitszimmer, was der Grund sein mochte, warum die beiden Schwestern sich hier trafen. Ihre Ehemänner hatten sich mit einer Flasche Portwein im Kaminzimmer verzogen, und die Zwillinge waren unter Protestgeschrei ins Gästezimmer gescheucht worden. Um Jo hatte sich wie üblich niemand gekümmert. So war es auch nicht weiter aufgefallen, als sie plötzlich verschwunden war.

Jo schob den Vorhang zur Seite, um besser lauschen zu können. Das Mondlicht malte Fensterkreuze auf den Parkettboden. An den Wänden der Bibliothek ahnte man die unzähligen Bände, die sich Buchrücken an Buchrücken durch die Regale zogen wie eine schwarzgraue Tapete.

Nebenan waren die beiden offensichtlich beim gemütlichen Teil angekommen. Gläser klirrten, und Tusneldas schepperndes Lachen wechselte mit Adelgundes heiserem Schimpfen. Zunächst konnte Jo kaum etwas verstehen, dann kamen die zwei in Fahrt. Einzelne Worte drangen deutlich herüber.

„Burg Knittelstein“, hörte sie. „Aarne Kyankalismäki … das schöne Bild …“ Als plötzlich der Name Elvira Casaverde fiel, war Jo hellwach. Augenblicklich war ihr klar, worüber sich Adelgunde so lauthals beschwerte.

Was schmierte auch dieser Herr Sonstwas-mäki auf dem blöden Bild herum, dachte Jo. In Zeitlupe (wie die geträumten Ritter auf dem Burghof) glitt Jo von der Fensterbank auf die pechschwarze Tür zu, die die Bibliothek von dem Nebenraum trennte.

„Dieser Kyankalismäki will noch mehr?“, hörte Jo Tusneldas Stimme plärren. Der Rest war unverständliches Gemurmel. Die Baronin war unvermittelt in einen Flüsterton übergegangen. Einen bangen Moment lang dachte Jo, sie wäre entdeckt worden.

Dann aber krächzte Adelgunde wieder ohne jegliche Vorsicht: „Dreißig Fässer!“

„Was soll ich denn machen?“ Tusnelda klang sehr wütend. „Der Sievers findet nichts!“ Jo hielt den Atem an, um besser hören zu können. Aber was immer die Knittelsteiner Schwestern dort im Nebenzimmer noch verhandelten, jetzt schien es ihnen selbst so heikel, dass kaum ein Laut nach draußen drang.

Jo wurde unruhig. Jederzeit konnte es einer der beiden in den Sinn kommen, die Tür zur Bibliothek aufzureißen, um sicher zu gehen, dass die Wände keine Ohren hatten. Als jetzt noch Wolken das spärliche Mondlicht schwärzten, machte Jo sich auf Zehenspitzen an den Rückzug.

Aarne Kyankalismäki hallte es in ihrem Kopf, wie ein langgezogenes Echo, als sie die schwere Kassettentür zur Ahnengalerie aufschob. Dreißig Fässer! Und Oskar Sievers fand also nichts. Jo erinnerte sich noch lebhaft an das Frühstück, bei dem Tusnelda verkündet hatte, der alte Mann würde ab sofort das Knittelsteiner Labyrinth erforschen. Verstanden hatte das niemand, weder Jo noch ihr Vater. Jahrelang hatte die Baronin jeden Wunsch des betagten Heimatforschers abgeschmettert. Nicht einen Fußbreit hatte sie ihn in die Verliese gelassen. Und plötzlich durfte er da runter. Tropfsteinhöhlen suchen. Für die Touristen, angeblich. Baron Eduard hatte dazu geschwiegen, wie er schon seit langem zu allem schwieg, was Tusnelda von sich gab.

Das Einrasten der Bibliothekstür hallte viel zu laut die Wände der Galerie entlang. Jo rührte sich nicht. Meinhardt der Dicke starrte sie unbeweglich an. Mit seinen Filzstifthaaren in den Nasenlöchern. Tusneldas Lachen quäkte. Die Schwestern hatten nichts bemerkt.

Erst als sie ihre Zimmertür von innen zugedrückt hatte, atmete Jo wieder ruhiger. Über was sich Tusnelda und Adelgunde auch immer unterhalten haben mochten, es gab sicher eine Erklärung dafür. Eine ganz einfache. Und doch, da war es wieder. Jos Magen verkrampfte sich. Das Gefühl, ihrer Stiefmutter nicht über den Weg trauen zu können. Nicht einen Millimeter.

Die hohle Schlange, das Labyrinth und die schrecklichen Mönche von Bresel

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