Читать книгу Die hohle Schlange, das Labyrinth und die schrecklichen Mönche von Bresel - Gerhard Gemke - Страница 6

Jubiläum

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Montag, 14. April, Punkt 10 Uhr. Rathaus Bresel.

Bimmelebimmelebim! Die goldene Rathausglocke in der Hand von Bürgermeister Aloisius Schwobenhammer läutete die letzte Sitzung des Stadtrats vor der Osterpause ein. Versammelt hatte sich die komplette Bürger-Partei-Bresel. BPB. Allesamt alteingesessene Breselner und stolz darauf, viel für das Ansehen der Stadt geleistet zu haben. Zum Beispiel Bäcker Blume, der neben Schneider Böck saß und sorgfältig die Mehlreste aus seinem Anzug klopfte. Frisör Fernandel betrachtete missbilligend die Glatze von Sparkassendirektor Schönemann, die sich unter wenigen nassgekämmten Haaren zu verstecken versuchte. Martina Dall vom Dalli-Markt schäkerte mit Fridolin Rausch vom Kaufhaus Rausch. Der alte Todd Emmerich saß etwas abseits und kämpfte mit dem Schlaf. Der Totengräber von Bresel musste seit langem schon alle Nachtwachen selbst übernehmen. Es hatte sich einfach niemand gefunden, der in sein Geschäft einsteigen wollte.

Die Versammlung wartete gespannt auf die Rede des Bürgermeisters. Und das hatte seinen Grund. Aloisius feierte im letzten Jahr seinen 65. Geburtstag und war – wie er nicht müde wurde zu betonen – nur noch bis Oktober im Amt. Dann würde er seinen Posten für einen Jüngeren räumen. Das hatte eine gewisse Unruhe im Stadtrat ausgelöst. Bürgermeister zu werden, das lockte so manchen. Aber bis Oktober floss noch viel Wasser den Breselbach hinunter.

Zu Aloisius' Linken saß seine rechte Hand Radolf Müller-Pfuhr, langjähriges Mitglied der BPB, Kassenwart und Protokollführer. Nicht anwesend heute Radolfs Frau Agathe, der weibliche Teil der BPB. Mal abgesehen von Frau Dall.

Bimmelebimmelebim! Aloisius Schwobenhammer schwang die goldene Glocke und Ruhe kehrte ein.

„Meine Dame, meine Herren!“ Er ließ seinen grauen Blick unter den buschigen Augenbrauen von einem zum andern wandern. „Wie ich sehe sind wir nahezu vollzählig. So wenden wir uns …“, er drehte seinen Kopf zu einer beschrifteten Tafel an der einzigen fensterlosen Wand des Saals, „… wenden wir uns einer neuen Aufgabe zu.“

Oben auf der Tafel stand in handgroßen LetternJUBILÄUM.

Einige Gesichter zeigten unverhohlene Enttäuschung. Das klang nicht nach Vorschlägen für einen Bürgermeisterkandidaten. Aloisius Schwobenhammer, der seine Breselner nur zu gut kannte, zögerte höchstens einen Wimpernschlag, um dann ungerührt fortzufahren.

„Wie Sie wissen, wird unsere schöne Stadt in diesem Jahr eintausend Jahre alt.“

Zaghaftes Kopfnicken.

„Und Burg Knittelstein ebenfalls.“

Leises Gemurmel.

„Ich habe mich bereits mit Baronin Tusnelda von Knittelstein-Breselberg in Verbindung gesetzt.“

Vereinzeltes Stühleknarzen. Bäcker Blume hüstelte eine Mehlwolke.

„Und wir schlagen für die Jubiläumsfeierlichkeiten das erste Wochenende im Mai vor. Irgendwelche Gegenstimmen?“

Die Sonnenstrahlen, die durch die bleiverglasten Rathausfenster fielen, begleiteten die Staubflöckchen, bis sie auf den geschlossenen Augenlidern von Todd Emmerich zu liegen kamen.

Schweigen.

„Radolf, schreib ins Protokoll: Jubiläumsfeiern Anfang Mai. Keine Gegenstimmen. Wir benötigen ein fünfköpfiges Festkomitee. Ich bitte um Handzeichen.“

Als die Versammlung das Rathaus verließ, legte Aloisius seinen Arm um Radolfs Schultern und dirigierte ihn über den Marktplatz zum Kunibald-Brunnen. Ritter Kunibald glänzte in der Frühlingssonne. In seiner rechten Faust reckte sich siegesgewiss die eiserne Lanze, um deren Schaft sich eine zierliche goldene Schlange ringelte, die gespaltene Zunge angriffslustig vorgestreckt. Der Bürgermeister hielt diesen Ort für geeignet, ein paar vertrauliche Worte an seinen Parteikollegen zu richten.

„Radolf“, sprach er, „wir kennen uns nun schon viele Jahre. Und wie du weißt, trete ich am 19. Oktober ab.“ Er zog die Augenbrauen hoch und blinzelte verschwörerisch. „Und so ein Bürgermeisteramt bedeutet nicht nur Arbeit. Es hat auch seine angenehmen Seiten. Denk mal darüber nach. Und mach den Mund zu.“

Sprach's und ließ den verdutzten Radolf in der Vormittagssonne stehen.

Als die Glocken von Sankt Urban elf schlugen, rieb sich Radolf Müller-Pfuhr die Augen und eilte zu seiner Kehrmaschine. Die Neuigkeit musste so schnell wie möglich mit Agathe besprochen werden. Er sprang hinters Lenkrad, und bald ruckelte das leuchtend orange lackierte Gefährt los, auf dessen Rückfront in breiten Buchstaben STÄDTISCHE MÜLLABFUHR zu lesen war. Denn Radolf war Angestellter der Stadtreinigung und ritt tagein tagaus auf seinem Kehrdrachen durch die Straßen. Jetzt führte ihn sein Weg durchs Augsburger Tor, die Breselner Landstraße hinaus, am Dalli-Markt, an der Feuerwehr und der Polizeiwache vorbei, bis zum Haus Nummer 153, wo er rechts ran fuhr und parkte.

Radolf Müller und Agathe Pfuhr hatten die Nummer 153 vor Jahren erworben. Sie hatten ganz modern mit Doppelnamen geheiratet und keine Kinder bekommen. (Was manche Nachbarn für ein Glück hielten. Für die Kinder.) Radolf fuhr jeden Morgen den Müll. Agathe beschäftigte sich. Im Haus, im Garten, im Rosenzüchterverein. Ihre wahre Hingabe galt jenen duftenden, dornigen Blumen. Besonders den violett-weiß gefüllten vor dem Küchenfenster, die – nun ja – vor nicht allzu ferner Zeit deutlich gelitten hatten.

Vor einem Jahr hatten die Müller-Pfuhrs sich Untermieter ins Haus geholt, die das erste Stockwerk und das Dachgeschoss bewohnten. Franziska und Ferdinand Fesenfeld. Mit Jan, elf Jahre, Lotte sieben und Jonny muntere vier.

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Das Haus wackelte und der Schornstein wankte bedrohlich. Die Tür öffnete sich sperrangelweit, zwei Blondschöpfe mit zwei Handbreit Höhenunterschied stürmten heraus und liefen Radolf in die Arme.

„Also könnt ihr denn nicht ein einziges Mal …“

„Tschüss, Onkel Radolf!“

„Schüssonkeladoff!“

„… leise die Treppe runtergehen?“ Weg waren sie. Radolf Müller-Pfuhr schüttelte den Kopf. Als er noch ein Kind war, da – da versagte auch schon seine Erinnerung.

Radolf betrat die Müller-Pfuhrsche Wohnung. „Hallo Schatz! Du wirst es nicht glauben, was Aloisius zu mir gesagt hat!“

„Nein.“

„Er hat gesagt …“

„Hast du an die Eier gedacht?“

„Oh! … aber Aloisius hat …“

„Da brauchst du erst gar nicht deine dreckigen Schuhe am Teppich abwischen. Zehn Eier!“

„Ja, gleich. Aloisi …“

„Jetzt!“

„… Aloi …“

Es gibt Blicke, die können Gehirnmasse verdampfen lassen. Radolf schluckte mühsam und tat, was er immer tat, wenn er sich gegen Agathes Gewitterstimmung nicht zu helfen wusste.

„Also … ich geh ja schon.“

Als Radolf die Wohnungstür von außen geschlossen hatte, schnaufte Agathe noch einmal entrüstet. Dann ging sie in die Küche. Holte ein kleines Fläschchen aus dem Kühlschrank, in dem eine rubinrote Flüssigkeit schwappte. Prüfend hielt sie es gegen das milchige Licht der Aprilsonne, das zum Fenster hereinsickerte, und kicherte leise. Dann schnitt sie ein Stück Schwarzbrot in Würfel, träufelte den roten Saft auf die Bröckchen – nur einen, höchstens zwei Tropfen – und stieg damit hinunter in den Keller.

Zu den Ratten.

Denn Agathe wusste sich zu helfen.

Dienstag, 15. April.

Baronin Tusnelda von Knittelstein-Breselberg stand an einem Fenster der Burg, die Lippen zu einem Strich gepresst. Gestern Morgen hatte der Bürgermeister angerufen. Dieser Schwobenhammer. Wegen der Tausend-Jahr-Feier von Bresel und der Burg. Ob man nicht ein gemeinsames Fest am ersten Wochenende im Wonnemonat Mai und so weiter blablabla. Er hätte schon mit diesem Herrn Zuffhausen vom Historischen Museum gesprochen. Der könne doch die Feier auf dem Burghof organisieren. Der kenne doch ihren Gatten gut, hatte Schwobenhammer gesagt. Die Stadt würde sich selbstverständlich an den Kosten beteiligen. Großzügig.

Mit ärgerlichen Schritten ging Tusnelda die Ahnengalerie entlang. Vor Kunibald blieb sie stehen. „Nur weil du vor tausend Jahren diesen Laden gebaut hast, kommt jetzt das ganze Pack hier rauf. Und will feiern!“


Sie stapfte weiter am dicken Meinhardt und dem verschwundenen Ademar vorbei. Mit halb geschlossenen Lidern giftete sie Arnulf von Breselberg-Zoffhausen an: „Und weil du ein Ururur-Ahn von diesem Zuffhausen bist – was noch niemand bewiesen hat! – tut der jetzt wichtig. Will sich um das Burgmuseum kümmern. Und was sonst noch alles. Und weil er meinen Gatten so gut kennt. Ha!“


Noch ein paar Schritte weiter, hinter dem sanften Adalbert, hing Aimo Rochefort de Bresèl. „Und du bist der Allerklügste gewesen. Eine Rutsche bauen! Vom Burgturm zum Rathaus!“ Tusnelda verbog verächtlich die Gesichtszüge. „Dazu ist es zum Glück nie gekommen. Hast stattdessen den Berg durchlöchert wie einen Käse. Deine einzige gute Tat!“

Tusnelda schnaubte. Dieser Löcherkäse war nichts weniger, als das legendäre Knittelsteiner Labyrinth. Jahr für Jahr flatterten unzählige Forschungsgesuche in den Burgbriefkasten und direkt weiter in Tusneldas Papierkorb. Bis vor drei Wochen. Wie aus heiterem Himmel hatte die Baronin dem hartnäckigsten Bittsteller nachgegeben. Diesem Oskar Sievers. Und hatte ihm erlaubt, in die Stollen unter Knittelstein einzusteigen. Warum? Tusnelda hatte ihre Gründe! Die gingen niemandem sonst etwas an.

Nur schade, dass Oskar nicht ihre Erwartungen erfüllte. Nein, ganz und gar nicht. Tusnelda schritt langsam weiter. Längst hatte sie ihr Nachgeben bereut. Wie man es auch drehte, Oskar war sogar ein Problem geworden. Ein Problem, dass sie lösen musste, früher oder später. Ihr Blick blieb an den Händen Heinrich II. hängen. An dem Ring, den er trug. An der doppelten Zungenspitze.

Ein freudloses Lachen hallte die Galerie entlang und klatschte gegen eine kahle Stelle an der Wand. Von dort würde einmal ihr Bild neben dem ihrer Schwester Adelgunde auf die Nachwelt herabblicken. Adelgunde von Breselberg-Rummelpott, die mit einem Lackvertreter und ihren zwei Blagen in Augsburg wohnte. In einer kleinen schmucken Villa. Und sich nicht mit neugierigen Touristen und feiernden Breselnern herumschlagen musste. Und einem Problem namens Oskar.

Tusnelda grunzte und verschwand.

Die hohle Schlange, das Labyrinth und die schrecklichen Mönche von Bresel

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