Читать книгу Die hohle Schlange, das Labyrinth und die schrecklichen Mönche von Bresel - Gerhard Gemke - Страница 9

Im Verlies

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Es vergingen drei Wochen. Drei Wochen, in denen Jo vom Fenstersims der Bibliothek sah, wie Oskar Sievers beinahe täglich in die Verliese stieg. Neben ihr wippte das Fräulein von Oelmütz wie ein nervöses Huhn, bis ihre spitze Nase fast die Scheibe durchstieß, und langweilte Jo mit den immergleichen Schauergeschichten. Von Ritter Ademar, der sich vor den Kreuzzügen drücken wollte und im Berg verschwand, wo er noch heute … und Jo wünschte das graue Fräulein zum Teufel. Oder noch besser zu Ritter Ademar. Wie gut, dass die in Sommer pensioniert wurde. Das war schon mal ein Schritt in die richtige Richtung, fand Jo. Und sie selbst sollte auf eine öffentliche Schule wechseln. Wieder spürte Jo dieses Brennen in der Kehle.

Und manchmal saß Jo noch spät abends an dem Fenster, wenn die Verliestür aufging, und Oskar herauskroch. Dreckverschmiert, aber vergnügt. Der Alte zwinkerte dem Turmfenster zu, hinter dem er die Baronin vermutete, und trollte sich den Berg hinab.

Am Sonntag, dem 1. Juni schenkte Oskar seiner Elfriede drei goldene Becher.

„Zur Goldenen Hochzeit“, brummelte Oskar.

Elfriede schlang vor Rührung ihren Kamelhaarmantel um seine Schultern, vergoss ein paar Tränen, und brachte es nicht übers Herz, ihm zu sagen, dass er sich um ein volles Jahr verrechnet hatte.

„Ach Oskarchen, mein muffeliger Maulwurf“, murmelte Elfriede und küsste ihm die Glatze. Dann half sie ihm in seine alte Lederjacke und verabschiedete ihren Forscher. Wohin war ihr einmal mehr ein Rätsel. Je dreckiger seine Klamotten waren, wenn Oskar abends müde und abgekämpft heim kam, desto tiefer hüllte er sich in Schweigen. Nur einmal hatte sie ihm ein „Ich darf nicht darüber reden“ entlockt. Dabei war es allerdings geblieben. Elfriede hatte sich längst abgewöhnt, weiter zu bohren. Wenn es ihren Oskar glücklich machte. Noch einen Monat, dann wurde er siebzig. Das Leben hielt keine allzu lange Spanne mehr für ihn und Elfriede bereit. Sollte er forschen und geheimniskrämern wie er wollte.

Hachja. Elfriede versank in ihrem Ohrensessel und in ihren Tagträumen.

Am Samstag, dem 7. Juni lag Jo noch am Mittag in den tiefsten Träumen, als ein höllischer Lärm die Wendeltreppe heraufstolperte. Beziehungsweise zwei höllische Lärme. Jo hatte keine Chance. Kurt und Knut stürmten johlend ihr Zimmer und zerrten sie aus dem Bett.

„Du bist unsere Gefangene“, stellten sie klar.

Jo konnte nur mit Mühe verhindern, dass ihr Hände und Füße mit Tüchern und Gürteln gefesselt wurden. Die beiden Jungritter tobten wie gestochen durch's Zimmer. Jo fand, dass sie mittlerweile genauso dufteten, wie Onkel Humbert. Als kämen sie direkt aus seiner Lackfirma. Auf Jos genervte Frage nickten die beiden voller Begeisterung. Und Kurtchen nutzte augenblicklich die Gelegenheit zum Protzen.

„Wir sind Gabelstapler gefahren!“, krähte er, „Heute morgen.“ Und Knut röhrte wie ein auspuffgeschädigter Trecker duch das Zimmer.

„Voll Speed, eh!“ Wie schön, dass Kurt auch Englisch konnte. „Und dann Kurve und Wrommm!“

Er lachte sich scheckig, und sein Bruder prustete: „Der ist voll in die Fässer rein!“

„War'n aber leer.“

„Und der Alte, der … äh …“ Knut musste sein Hirn gewaltig arbeiten lassen.

„Der Heiner“, half ihm Kurt und wackelte mit gebeugtem Rücken und zerknautschter Stirn um Jos Schreibtisch herum.

„Genau, eh, der alte Heiner. Der musste den ganzen Mist wieder aufräumen.“

„Und dann wieder Wrommm!

Die beiden kriegten sich gar nicht mehr ein vor Lachen. Ohja, Jo konnte sich lebhaft vorstellen, wieviel Spaß der wohl gehabt haben mochte. Wer auch immer das war. Der alte Heiner.

Kurz darauf beim Mittagsessen benahmen sich die beiden Helden nicht viel anders, und Tusneldas Mienenspiel war mehr als deutlich. Adelgunde versuchte verzweifelt, den Mitteilungsdrang ihrer Sprösslinge in geordnete Bahnen zu lenken.

„Erzählt doch mal Tante Tusnelda, was ihr bei Onkel Aarne erlebt habt.“

Jo hielt sich die Ohren zu und kaute geduldig ihr Schnitzel, bis die Gabelstaplergeschichte nochmal durch war. Als sie die Finger wieder aus den Ohren zog, kicherte Adelgunde gerade über den dummen Heiner, als hätte sie ebenfalls ein paar Fässer umgemäht.

Die Äpfel fallen nicht weit vom Stamm, dachte Jo.

Nachdem Adelgunde endlich fertig gegigstert hatte, schlug sie sich vor die Stirn. „Ja wo sind nur meine Gedanken? Da hab ich doch noch was für dich!“ Sie zog einen zerknitterten Briefumschlag aus ihrer Handtasche. Deutlich prangte darauf in dunkelroten Lettern der Schriftzug der Firma KyanTox.

„Was iss 'n das?“, fragte Knut und langte quer über den Tisch nach dem Brief.

Jo sprang schnell genug zur Seite und entging der Kakaoflut aus Knutis Tasse. Sein Bruder Kurt war nicht so flink.

Emma, die sich im Hintergrund für die Wünsche der Gäste bereit gehalten hatte, stürzte herbei und bemühte sich, mit Adelgundes Hilfe und einem Wischlappen den Schaden zu begrenzen. Tusnelda presste, wie sie das immer in solchen Situationen tat, ihre Lippen zu einem ärgerlichen Strich, packte den Umschlag und riss ihn auf. Wahrscheinlich hätte sie lieber Knut den Kopf abgerissen.

Jo hatte sich inzwischen Schritt für Schritt Tusneldas Stuhl genähert. Über die Schulter der Baronin erhaschte sie einen flüchtigen Blick auf den Brief. Sehr geehrte Frau von Knittelstein! stand dort. Der folgende Teil war zu eng beschrieben, unleserlich auf die Entfernung. Aber drunter prangte deutlich der gleiche Schriftzug, wie auf dem Umschlag. Und eine Unterschrift, deren Länge zu Aarne Kyankalismäki passen konnte.

Tusnelda faltete das Blatt wieder zusammen, und Jo schaute interessiert aus dem Fenster. Die sehr geehrte Frau von Knittelstein bekam also Post von KyanTox. Dieser Herr Kyankalismäki schrieb der Baronin …

Jo winkte aus dem Fenster. Oskar Sievers hatte den Burghof betreten und schloss die schmale Eichentür unter dem Torbogen auf. Die Tür, die zu den Verliesen führte. Er hatte Jos Winken nicht bemerkt und verschwand wie ein Spuk in dem dunklen Loch.

Die Eichentür. Jo konnte ihren Blick nicht von ihr lösen. Der Sievers findet nichts!, hatte Tusnelda geschimpft, an dem Abend nach dem Burgfest. Was sollte er finden? In den Verliesen. Mehr als einmal hatte sich Jo das schon gefragt. Tropfsteinhöhlen? Wohl kaum.

Auf einmal war er da, der Plan. Und ließ sich nicht mehr abschütteln. Verriegelte Oskar eigentlich die Tür, wenn er da unten war? Das rauszufinden konnte nicht so schwer sein. Und dann …

„Josephine, setz dich sofort wieder an den Tisch. Wir haben noch nicht zu Ende gegessen!“

Drei Tage später.

Die Gelegenheit war günstig. Baron Eduard war nach Bresel gefahren. Erst zur Bank, dann wollte er Clemens Zuffhausen treffen, und was er sonst noch alles zu erledigen hatte. Von Tusnelda war seit dem Frühstück nichts mehr zu sehen gewesen. Es konnte gelingen. Oskar Sievers war schon vor einer Stunde angekommen, Jo hatte ihn vom Turmzimmer aus beobachtet. Warum bloß wurde der alte Mann von der Baronin ins Labyrinth geschickt? Immer und ewig hatte Tusnelda behauptet, dort hausten nichts als Ratten und Giftspinnen. Was natürlich Quatsch war. Hoffentlich.

Jo huschte wie eine Katze durch das Museum. Sie kannte den Weg im Schlaf. Ritter Arnulfs Visier grinste sie an, Jo grinste zurück. Dann vorbei an den Schwertern und Lanzen, den Helmen, Federbüschen und Wappen der alten Knittelsteiner.

Der Burghof lag im gleißenden Sonnenlicht. Jo drückte sich an der Westmauer entlang und erreichte die Vorburg, die sich über dem gewaltigen Tor erhob. In den ebenerdigen Räumen des Torhauses befanden sich die Kettenwinden, mit denen man noch heute die Zugbrücke heben konnte. Vorausgesetzt man hatte drei kräftige Kerle an jeder Winde.

Und darunter lagen die Verliese.

Jo näherte sich der niedrigen Tür. Nach einigem Ruckeln und Drücken öffnete sie sich leise quietschend. Jo blickte sich um. Niemand zu sehen. Lautlos glitt sie in die dunkle Öffnung. Schlagartig war es fünfzehn Grad kälter. Jo schloss die Tür hinter sich. Einen Moment blieb sie auf dem Treppenabsatz stehen, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Weiter unten beleuchtete eine funzelige Lampe feuchte Steinstufen.

„Also los!“, kommandierte Jo ihre Füße. Zitternd vor Aufregung und Kälte stieg sie hinunter. Fäulnisgeruch schlug ihr entgegen. Nach zehn Stufen verließ die Treppe den gemauerten Teil der Burg und wand sich in die Breselberger Felsen. Die Lampe hinter der Kurve war kaputt. Weiter unten beleuchtete der schwache Schein einer dritten einen niedrigen Raum, etwa vier mal vier Meter groß. Die Decke war schwarz vom Ruß unzähliger Fackeln. Eine Schießscharte blinzelte auf halber Höhe in den Burggraben hinaus.

Der Schießscharte gegenüber krochen drei niedrige Kammern in die Felsen. Schemenhaft waren die Eisenringe an den Wänden zu erkennen. Jo rieselte ein Schauer über den Rücken. Sie musste an die Eingekerkerten denken, von denen ihr Vater erzählt hatte, als er Jo vor drei Jahren bis hierher mitgenommen hatte. Die Ritter waren durchaus keine freundlichen Zeitgenossen gewesen. Nur: an einen Labyrintheingang konnte sie sich nicht erinnern.

Jo knipste ihre Taschenlampe an. Von Oskar Sievers war weit und breit nichts zu hören oder zu sehen. Sie betrat die erste Zelle, die einzige mit einem winzigen Gitterfenster. Eine Maus oder so floh vor ihren Füßen und verschwand in einer dunklen Ecke. Jo ließ den Lichtkegel über grob behauene Wände gleiten. Wasserspuren schlängelten an unleserlichen Namen und Jahreszahlen vorbei, mit denen sich frühere Besucher verewigt hatten. Krähenschreie wehten durch das Fenster herein. Sonst war es totenstill.

Langsam kehrte sie in den Raum mit der rußigen Decke zurück und nahm sich Verlies Nummer zwei vor. Mit Abstand die kleinste Zelle. Zwei verbogene Ringe baumelten an der hinteren Wand und ein Stück Kette verrostete am Boden. Mehr nicht. Auch von hier führte kein Weg in den Berg. Jo trat gegen das Kettenglied. Klirrend verscheuchte es eine fette Spinne. Jo flüchtete angeekelt aus der Kammer. Blieb noch Verlies Nummer drei.

Der letzte Kerker war etwa so groß, wie der erste mit dem Gitterfenster. Und eine einzige Müllhalde. Ein halb verfaultes Weinfass lag dort, Reste von zwei Holzschemeln, eine löchrige Matratze und – Jo staunte nicht schlecht – drei zerbrochene Bierflaschen. Breselbräu naturtrüb. Wahrscheinlich Oskars Hausmarke. Nur von dem Alten keine Spur. Blitzschnell drehte sich Jo um. Niemand stand hinter ihr.

Enttäuscht rollte sie das stinkende Fass mit dem Fuß beiseite. Eine Horde Kellerasseln nahm Reißaus. Jo folgte ihnen mit dem Lichtkegel der Taschenlampe. Sie verkrochen sich hinter ein paar morschen Brettern, die an der Rückwand lehnten – und daneben klaffte ein pechschwarzes Loch in den Felsen, etwa doppelt so groß wie das vermoderte Fass. Jo hätte fast geschrien. Natürlich hatte sie das Loch damals nicht bemerken können. Die Bretter hatten es verdeckt. Jo umklammerte ihre Taschenlampe wie den Griff eines Schwertes und hielt sie hinein.

Eine dunkle Röhre bohrte sich in den Berg. Rissige Felsen warfen gezackte Schatten, schmale Rinnsale liefen an unzähligen Stellen herab. Jos Herz klopfte. Das war er also! Der Einstieg ins Knittelsteiner Labyrinth! Aus der Dunkelheit kroch die Stille des Berges wie ein lebendiges Wesen. Schnaufte da Oskar Sievers in den Felsen? Es war bloß ihr eigener Atem. Jo leuchtete umher. Was konnte schon passieren? Die Burg stand seit tausend Jahren. Behutsam setzte sie einen Fuß auf den Pfad. Dann den zweiten. Ein paar Schritte und Jo blickte zur niedrigen Decke. Jetzt war sie umschlossen von den mächtigen Felsen des Breselbergs.

Tiptiptip. Irgendetwas flüchtete in die Dunkelheit. Jo lauschte. Es blieb still. Sie streckte den Arm mit der Taschenlampe vor und ging weiter. Nach etwa zehn Metern knickte der Gang nach rechts. Ein zweiter Bogen folgte, viel kürzer, in die andere Richtung. Er mündete in einer niedrigen Höhle. Zögernd ging Jo hinein. Kalkzapfen hingen an der Decke. Von ihren Spitzen fielen Wassertropfen und zerplatzten mit leisem scharfen Knall auf den Felsen. Ansonsten war die Höhle leer. Jo lauschte in die Dunkelheit. Ihr Blut pochte in den Ohren. Nichts deutete darauf hin, dass hier jemals ein menschliches Wesen durchgekrochen war.

Oder doch! Der Strahl der Taschenlampe erwischte eine handgroße dunkle Stelle am Höhlenboden. Jo kniete sich hin. Halb verdeckt von einem Felsvorsprung klebte ein Lehmrest in einer Bodenvertiefung. Da hinein gruben sich gleichmäßige Rillen. Der Abdruck einer Stiefelsohle. Oskar Sievers!

Jo blickte auf. Hinter dem Vorsprung befand sich eine seltsame Öffnung in der Wand. Nach oben liefen die Seiten schräg zusammen und bildeten ein Dreieck. Dahinter führten steile Stufen zwischen wuchtigen Granitblöcken abwärts. Es gab keinen anderen Weg. Die Batterien waren frisch und würden halten.

Jo kletterte hinunter. Entschlossen ballte sie die Faust um die Taschenlampe. Eine Hand tastete an der feuchten Felswand entlang, die andere versuchte den Lichtstrahl ruhig zu halten. Nach wenigen Stufen schon bemerkte sie einen Luftzug, als atmete der Berg.

Die Treppe endete nach der achtundzwanzigsten Stufe und der Stollen teilte sich. Die Erklärung für den Luftzug war einfach. Eine der Röhren führte direkt aus dem Gebirge ins Sonnenlicht. Ein warmer Wind wehte von dort und strich über Jos Gesicht.

Als sie nach links schaute, setzte ihr Herz einen Schlag aus. Keine Handbreit trennte ihre Fußspitzen vom Rand eines pechschwarzen Schachtes, geradewegs ins Bodenlose, weiter als der Schein der Taschenlampe reichte. Jo starrte hinunter, ihr Blick fand nirgends Halt. Und langsam begann sich der tiefste Punkt, den sie erahnen konnte, zu drehen. Erst unmerklich, dann immer schneller und schneller. Erschrocken wich Jo zurück und klammerte sich an die kalten Felsen.

Als der Schwindel verflogen war, wagte Jo einen zweiten Blick hinein. Da entdeckte sie die Haken. Jemand hatte Bergsteigerhaken in den Fels geschlagen und ein starkes Tau daran befestigt, das sich in die lichtlose Tiefe schlängelte. Jemand? Oskar, wer sonst!

Jos Taschenlampe zitterte. Ein Windstoß erinnerte sie an das Felsenfenster. Nur wenige Schritte entfernt öffnete es sich in die Juniluft. Als sie dort ankam, bot sich ihr ein weiter Blick über das Breselner Land auf Großhorn und Rotspitz. Ein Blick, den sie nur zu gut kannte. Wie aus ihrem Turmzimmer, nur etliche Meter tiefer. Jo ahnte, wo sie sich befand: Mitten in den Südklippen, direkt über jenem Felsvorsprung, der von den Kletterern so ängstlich gemieden wurde. Der Teufelsnase.

Das Breselner Land lag friedlich in der Mittagshitze. Ein Schwarm Vögel flog kreischend vorbei. Jo streckte sich, machte einen Schritt zurück und trat ins Leere. Rücklings krachte sie gegen eine Felswand. Sie versuchte, sich an den Steinen festzukrallen. Ihre Schultern rutschten an scharfen Graten entlang. Sie fiel und knallte auf harten Fels. Schmerzhaft, aber zum Glück schon nach einem halben Meter. Ihr Herz hämmerte wild. Hastig schaute sie sich um. Stufen! Eine Steintreppe hinab in die nachtschwarze Tiefe. Jo rieb ihre linke Schulter, die wie Feuer brannte.

Und plötzlich war da dieses Geräusch. Ein tiefes Brummen. Als wäre ein Motor angesprungen. Jo stemmte sich hoch. Jetzt vernahm sie deutlich ein Knirschen, das näher kam. Wie Schritte auf Kies oder bröckelndem Fels. Blitzschnell war Jo auf den Beinen und rannte los. An dem Schwindelloch vorbei, die Steinstufen hinauf, bis zur Höhle mit dem Stiefelabdruck. Hier hielt sie an. Von Oskar Sievers war nichts mehr zu hören. Jo atmete wieder ruhiger.

Sie erreichte das dritte Verlies und durchquerte den rußgeschwärzten Vorraum bis zu der Schießscharte. Der Burggraben lag im trägen Sonnenlicht. Schwalben glitten im Sturzflug zu ihren Nestern in Mauerlücken, Überbleibsel von früheren Belagerungen. Nur zu gern hätte Jo gewusst, ob Oskar mehr gefunden hatte, als die paar düsteren Gänge, die sie gesehen hatte. Er war ja oft genug dort unten gewesen.

Vielleicht würden doch schon bald die ersten Touristen die Folterkammern knipsen. Dann würde Jo die Verliesführerin geben. „Meine Damen und Herren, hier schmachtete Dagobert von Tupfingen seinem wohlverdienten Ende entgegen.“ Kurzbehoste Dickbäuche würden ihr die Taschen mit Trinkgeld füllen, und im Kaufhaus Rausch könnte sie mit ihren neuen Reichtümern die Regale plündern. Jawohl!

Da brummte es wieder. Und gar nicht weit entfernt. Ein Breselner Wanderlied glaubte Jo zu erkennen. Oskar musste schon die Fußabdruckhöhle erreicht haben. Jetzt aber nichts wie raus hier! Doch da hatte sich Jo verrechnet, denn im selben Augenblick wurde oben an der Treppe die Tür aufgerissen.

„Herr Sievers!“ Ein vertrautes Organ peitschte durch die muffige Kerkerluft. Aus dem dritten Verlies antwortete ein unwirsches „Was gibt's denn?“

Jo sah sich um. Sie saß in der Falle. Mit drei Schritten stand sie in der nächstgelegenen Kammer. Die mit dem vergitterten Fenster. Sie kauerte sich in die dunkelste Ecke und umklammerte einen der Eisenringe. Inzwischen hatte Tusnelda den Fuß der Treppe erreicht.

„Herr Sievers!“

Jo hatte das Gefühl, einen Schlag ins Genick zu bekommen. Vermutlich ging es dem Herrn Sievers nicht anders.

„Haben Sie Neuigkeiten für mich?“

„Frau Baronin, wie ich Ihnen schon sagte …“, brummte Oskar.

„Herr Sievers! Seit wer weiß wieviel Wochen lasse ich Sie unter der Burg nach Belieben schalten und walten. Mit welchem Ergebnis? Gibt es da Höhlen, die man … äh … den Touristen vorführen könnte? Ja oder nein?“

„Bitte, Frau Baronin, das Beste wäre wohl …“

„Was das Beste ist, entscheide immer noch ich!“

„… wenn Sie mal mitkämen.“

„Genau das wollte ich gerade vorschlagen!“

Jo wagte nicht, sich zu rühren. Zum Glück kam keiner der beiden auf die Idee, in der ersten Kammer nachzuschauen. Tusnelda umrundete den schwitzenden Oskar und steuerte schnurstracks auf das letzte Verlies zu. Dabei riss sie wütend die Hände aus den Jackentaschen, die sie dort wegen der Kälte tief vergraben hatte. Ein zerknitterter Papierfetzen segelte zu Boden. Jo sah, dass Oskar sich bückte. Deutlich war das KyanTox-Logo darauf zu erkennen. Es war der Brief, den Tusnelda von ihrer Schwester bekommen hatte. Ganz klar.

Oskar schnaufte: „Frau Baronin, Sie haben …“

„Herr Sievers!“, kreischte die adelige Fregatte schon fast aus dem Stollen. „Würden Sie die Güte haben, mich zu begleiten? Wo bitte sind die Ergebnisse Ihrer Forschun... iiiiih … eine Ratte!“

„Ich komm ja schon.“ Ob da Freude über das langschwänzige Nagetier in Oskars Stimme zu hören war? Jo musste unwillkürlich grinsen. Das Letzte, was sie von Oskar sah, war seine Hand, die den Wisch in die Hosentasche stopfte. Dann kroch Oskars Bass hinter dem nervtötenden Kreischen in das Loch.

Jo atmete auf. Einen Moment lang verharrte sie noch in ihrem Versteck. Als sie sicher sein konnte, dass die beiden die Fußabdruckhöhle hinter sich gelassen hatten, wetzte sie die Treppe hinauf. Vorsichtig öffnete sie die Eichentür. Die Luft war rein.

Das Fräulein von Oelmütz entwickelte zu Jos Leidwesen in den nächsten Wochen einen Ehrgeiz, der an Verbissenheit grenzte. War es der nahende Abschied aus ihrem Berufsleben, war es Jos baldiger Wechsel an eine öffentliche Schule? Jedenfalls setzte das Fräulein alles daran, Jo in Mathe, Deutsch und Französisch zu Höchstleistungen anzuspornen. Jo schwitzte und stöhnte, doch alle Proteste konnten das Fräulein nicht dazu bewegen, eine langsamere Gangart einzuschlagen. Jo fand kaum noch Zeit, Schach oder Geige zu spielen. Geschweige denn eine neue Gelegenheit, Oskar Sievers nachzuspionieren.

Hinzu kam, dass sie in diesen Tagen ständig bemüht sein musste, Tusnelda nicht in die Quere zu kommen. Solche Begegnungen, die sich nun mal nicht immer vermeiden ließen, führten regelmäßig zu lautstarken Auseinandersetzungen über Jos angeblich fehlenden Ordnungssinn, oder endeten mit Aufträgen der Sorte: „Bring den Müll runter!“, „Feg den Hof!“, oder „Hol endlich die Post ab!“ Und was Tusnelda noch so aus dem Ärmel schüttelte.

Überall im Gemäuer konnte man förmlich riechen, dass sich etwas zusammenbraute. Die Baronin war ungenießbar, und ihre schlechte Laune steigerte sich täglich. Jo meinte gar, stündlich. Es war eigentlich nur eine Frage der Zeit, bis es richtig knallte.

Die hohle Schlange, das Labyrinth und die schrecklichen Mönche von Bresel

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