Читать книгу Die hohle Schlange, das Labyrinth und die schrecklichen Mönche von Bresel - Gerhard Gemke - Страница 5

Wassattassu

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„Wassattassubedeuten – nichwa – wassollassiermittaTasche – imRosenbeet!!!“

Jan starrte auf die klobigen Lederschuhe. Blaue Arbeitsklamotten wuchsen von dort über eine fußballrunde Wampe und endeten unter einem ausladenden Vorsprung: dem Bratpfannenkinn von Radolf Müller-Pfuhr. Oberhalb der Bratpfanne öffneten sich zwei Reihen goldgefüllter Zähne.

„DuTunichgut – kommsinneBesserungsanstalt – anstattassueinmalaufpasst – ungezogenerBengel – ichwerdemitteinerMuttermalüberdichreden – numachassuwekkommst!!!“

Jan wusste, jetzt musste schnell gehandelt werden. Es war völlig zwecklos dem bellenden Müller-Pfuhr zu erklären, dass er genauestens die Flugbahn der Schultasche berechnet hatte. Oben vom ersten Stockwerk aus. Sie hätte eigentlich exakt zwischen Rosenbusch und Lavendel landen müssen. Eigentlich. Irgendwas war schief gelaufen. Vielleicht hatte sich die Erde unter dem fliegenden Ranzen weiter bewegt. Nur ein kleines gemeines Stückchen. Aber das hatte gereicht, um ihn mit voller Wucht in den knospenden Rosen landen zu lassen. Mist! Demnächst also weiter links.

Jetzt aber nichts wie weg, denn schon öffnete sich das Küchenfenster. Agathe streckte das lockengewickelte Haupt heraus und erblickte ihre Blümchen, die – naja – deutlich gelitten hatten. Und wenn Agathe erst loslegte … Jan rupfte die Tasche aus den Dornen und rannte, was die Beine hergaben. In seinem Rücken schepperten Agathes Kreischen und Radolfs Gebell die Breselner Landstraße entlang. Eine Damen-Doppelkopfrunde, die in der Frühlingssonne stadtauswärts radelte, schüttelte die Köpfe über die Ruhestörung. Und die Elster, die von Burg Knittelstein über die Wipfel des Breselwaldes auf das Städtchen zuschwebte, ließ erschrocken etwas fallen. Das Kaninchen darunter war sehr ärgerlich.

Aber nicht halb so ärgerlich wie Franziska Fesenfeld, die jetzt aus dem Fenster über Agathes Locken lehnte. Jans Mutter. Sie blickte besorgt ihrem Sprössling nach und ahnte bereits, was sie in wenigen Minuten von den Müller-Pfuhrs zu hören bekommen würde.

Und Jan ahnte, was ihm nach der Schule blühte.

Keuchend und voll düsterer Gedanken rannte er in die Schulstraße hinein – und um ein Haar in das nächste Unglück. Das nahte in Form eines wandelnden Kamelhaarmantels, aus dem unten ein Paar Pantoffeln hervorschaute und oben ein zerknittertes Gesicht. Mit zwei unruhigen Augen. Das Ganze gekrönt von einem sorgfältig gesteckten Dutt, also einem jener tennisballgroßen Haarknoten am Hinterkopf von älteren Damen, die längst aus der Mode waren. Und nicht nur die Haarknoten, da war sich Jan ganz sicher.

„Hallo Oma Sievers“, japste Jan und ein waghalsiges Ausweichmanöver rettete den Mantel samt Inhalt.

„Aber Jan!“ Elfriede Sievers rückte entrüstet ihre Kopfzierde zurecht und schickte der Staubwolke, die Jan hinterließ, ein Duttwackeln hinterher. Dann schlurfte sie weiter. Schnitzel kaufen. Für ihren Oskar.

Sekunden später erreichte Jan die rotlackierte Tür, auf der Haustenbeck stand. Schellte Sturm und drückte sie auf.

„Los Freddie, mach hin!“ , rief er in den dunklen Flur. „Ist schon kurz vor halb!“

„Alles im grünen Bereich“, kam die Antwort von oben, und ein Beben der Stärke zehn krachte die Holztreppe herunter. Mit einem Sprung über die letzten fünf Stufen erschien ein ungekämmter Wischmopp, Sommersprossen um die Nase und ein breites Grinsen darunter.

„Mach dir nicht ins Hemd!“, röhrte Freddie und klatschte seine rechte Handfläche in Jans. „Mittag gibt's Ferien.“

Und weiter ging's, die Schulstraße entlang und rein in die Eisdiele Favretti. Lisa hatte eben die Kaffeetasse und den Fruchtbecher von Oma Sievers weggeräumt und die Stühle wieder zurechtgerückt.

„Na endlich, da seid ihr ja“, sagte sie genervt und warf ihre blonden Zöpfe auf den Rücken. Die Unpünktlichkeit der Jungs wurde von Tag zu Tag schlimmer. Aber dann drängeln! Kaum hatte Lisa die Schultasche über der Schulter, packte Freddie ihren rechten Zopf und Jan den linken, „He, lasst das!“, und ab ging's über Schleichwege zur Haltestelle Augsburger Tor. Die Türen schlossen schon, der Bus fuhr ruckelnd an, als Freddie mit beiden Fäusten gegen das Fahrerfenster trommelte. Beinahe hätten sie den nächsten nehmen müssen. Nicht zum ersten Mal.

Anke Rufus war seit über zehn Jahren Lehrerin. Die letzten fünf hier in Bresel-Neustadt am Adalbertinum. Und wenn sie ehrlich war, hatte sie keine Lust, zu unterrichten. Jedenfalls nicht heute, am Tag vor den Osterferien und bei strahlendem Sonnenschein. Weder Mathe noch Deutsch. Deswegen hatte sie etwas Besonderes vorbereitet. Die Klasse war versammelt, Anke Rufus holte Luft und – die Tür wurde aufgerissen.

„Der Bus hatte Verspätung!“, keuchte Freddie, und drei verschwitzte Kinder stürzten zu ihren Plätzen. Anke Rufus' Blick wanderte aus dem Fenster zu den hohen Bäumen im Schulpark, folgte einem Schwarm kreischender Krähen, bis sie aus dem gläsernen Rechteck verschwunden waren, und landete wieder in ihrer Klasse.

„Sitzt ihr gut?“

Ein vielstimmiges „Ja!“

„Also. Wie ich euch versprochen habe, geht's heute um Burg Knittelstein. Ihr braucht nicht mitzuschreiben, mir reicht schon, wenn ihr zuhört und nicht unter dem Tisch Mau-Mau spielt.“

Ein paar schuldbewusste Hände wanderten auf die Tischplatte zurück. Die Lehrerin drehte sich zur Tafel und klappte sie auf. Dort ritt ein Kreideritter in voller Rüstung mit gezücktem Schwert übers Tafelgrün, und ein „Ohhh!“ ritt durch die Klasse.

„Also“, sprach Anke Rufus, „hört zu. Es gab mal einen Ritter, der hieß Kunibald und lebte im Namloser Tal. Das liegt heute in Österreich, in den Lechtaler Alpen. Eines Tages stand er vor der Wahl, dort zu verrosten, oder sein Glück woanders zu suchen. Da tat er, was Leute seines Schlages damals so machten. Er sammelte in den Kaschemmen der Umgebung ein paar Spießgesellen und lebte prächtig. Und zwar auf Kosten aller, die nicht bei drei das Weite gesucht hatten. Als in seiner Heimat nichts mehr zu holen war, zog er den Lech hinab. Genauer: er fiel in unsere Gegend ein und raffte alles zusammen, was die Schwaben nicht schnell genug im Breselwald vergraben konnten. Dann ließ er für sich und seinen Haufen ein Häuschen mit Turm und Zugbrücke bauen. Oben auf dem Breselberg. Ihr ahnt es schon: Burg Knittelstein. Die wurde vor exakt eintausend Jahren fertig und von der Ritterhorde bezogen, da sind sich die Experten einig. Das Jubiläum soll in diesem Jahr, wie ich hörte, ganz groß gefeiert werden.“

Und mehr zu sich selbst fügte sie hinzu: „Falls unser Stadtrat endlich in die Gänge kommt.“ Dann wandte sie sich zurück an die Klasse.

„Ungefähr zur selben Zeit gründeten ein paar Handwerker und Bauern ein Dorf und nannten es nach dem Berg. Nämlich Bresel. Kunibald ließ sie gewähren. Er schloss mit ihnen sogar einen Vertrag. Der hängt noch heute in der Rathaushalle. Nach den Ferien werden wir ihn besichtigen und einen Aufsatz darüber schreiben.“

Die Klasse stöhnte. Anke Rufus überhörte es.

„Dieser Vertrag besagt, dass die Knittelsteiner Ritter all denen ein friedliches Leben zusicherten, die einen Teil ihrer Ernte oder sonstigen Einkünfte auf der Burg ablieferten. Das kann man nett finden, weil die Breselner wenigstens den Rest behalten durften. Man kann das natürlich auch Schutzgelderpressung nennen. Heutzutage würde Kunibald dafür hinter Schloss und Riegel landen. Damals aber errichteten ihm die erleichterten Breselner ein Denkmal. Einen Brunnen mit Kunibald als eisernem Ritter oben drauf. Den kennt ihr ja. Der steht auf unserem Marktplatz. Freddie, lies mal den Zettel vor, den dir Jan eben rübergeschoben hat.“

Freddie wurde knallrot und breitete langsam einen Wisch auf seinem Tisch aus. Irgendwas stand in krakeliger Schrift darauf.

„Nun?“ Die Lehrerin knipste ungeduldig mit ihren Kugelschreiber.

„Es kam eines Tages nach Bresel, ein …“ Freddie stockte und schaute verzweifelt zu Frau Rufus hinüber. Die Lehrerin nickte ihm zu, ohne eine Miene zu verziehen. „Weiter.“

„… ein ausgemachter Esel. Der hatte ein Kinn wie die Schnauze vom Wolf – und hieß Radolf.“

Immerhin lächelte Frau Rufus. Wenn auch sparsam. „Ist dieser Radolf ein Ritter?“

„Nee.“ Jan grinste verlegen. „Unser Vermieter.“

„Aha. Der wird nicht erfreut sein, das zu lesen. Freddie, den Zettel!“

„Aber – Frau Rufus …“ Jan sah sie flehentlich an.

„Also“, die Lehrerin war verhandlungsbereit, „wenn ihr versprecht, bis zum Schluss der Stunde …“

„Soll nicht wieder vorkommen“, beeilte sich Freddie, und Jan nickte hastig.

Anke Rufus kassierte den Zettel und ging zur Tafel zurück. In der folgenden halben Stunde erzählte sie von den blutigen Kreuzzügen im 11. Jahrhundert, an denen sich auch die Knittelsteiner beteiligten. Bis auf einen gewissen Ritter Ademar, der die Hosen voll hatte, und sich unter der Burg im Breselberg verkroch. In irgendwelchen Stollen, aus denen er nie wieder auftauchte. Man munkelt, seine Rüstung halte noch heute Wache im Berg und stürze sich auf ungebetene Besucher.

Anke Rufus berichtete von den grausamen Raubzügen des Arnulf von Breselberg-Zoffhausen, dessen Stammbaumverästelungen vermutlich bis zu Clemens Zuffhausen reichten.

„Unser Direktor?“, krähte ein Mädchen aus der letzten Reihe.

Frau Rufus nickte. „Jawohl, so sieht's aus. Direktor Zuffhausen ist mit einem Raubritter verwandt. Keine dummen Bemerkungen, Freddie, sonst …“ Sie wedelte mit dem Zettel vor seiner Nase.

Freddie klappte auf der Stelle seinen Mund wieder zu und betrachtete treuherzig den erhobenen Zeigefinger der Lehrerin.

„Aufgrund dieser fernen Verwandtschaft“, fuhr sie fort und ließ dabei Freddie nicht aus den Augen, „ist die Breselner Geschichte dem Herrn Zuffhausen gewissermaßen in die Wiege gelegt worden. Ihr wisst, dass er auch Vorsitzender des Historischen Museums ist. Übrigens immer einen Besuch wert.“

Endlich ließ Frau Rufus von Freddie ab und nahm ihre Wanderung durch die Klasse wieder auf. „Es gibt da noch eine Reihe weiterer Verbindungen der Knittelsteiner zu unserer Stadt“, fuhr sie fort und erzählte ausführlich vom sanften Adalbert Stifterstein zu Bresel, der im 16. Jahrhundert ein Jesuitenkloster vor den nördlichen Stadtmauern gründete.

„Mit einem wunderschönen Park dahinter.“ Anke Rufus' sehnsüchtiger Blick fand wie von selbst den Weg aus dem Fenster. „Heute ist das Adalbertinum eine Schule. Unsere Schule.“

Und schließlich lachte sich die Klasse kringelig über den verrückten Aimo Rochefort de Bresèl. Dieser Spross einer französischen Seitenlinie derer von Knittelstein wollte im 17. Jahrhundert tatsächlich eine Rutsche bauen. Vom Burgturm durch den Breselberg bis runter zum Rathaus.

„Oh Mann, das hätt' ich auch gemacht“, seufzte Freddie.

Jan schlug sich vor die Stirn und brach stöhnend auf dem Schultisch zusammen. „War klar!“

Und Lisa zappelte: „Können wir in die Burg nicht mal rein? Ich meine so richtig, bis oben auf den Turm!“

Anke Rufus lächelte. „Da müssten wir mal mit den derzeitigen Bewohnern verhandeln. Aber – und das soll das Letzte für heute sein – früher war das Problem eher umgekehrt.“

Fragende Gesichter.

„Wie kommt man aus der Burg raus?“

„Ganz einfach. Über die Zugbrücke.“

„Und wenn davor der Feind stand? Die alten Ritter lagen sich alle Nase lang in den Haaren. Das wurde eine solche Landplage, dass schließlich die Bischöfe eingriffen und eine Waffenruhe verordneten. Von Mittwoch Abend bis Montag früh.“

Lisa kicherte. „Direktor Zuffhausen sollte mal 'ne Schulruhe verordnen. Von Mittwoch Abend bis Montag früh!“

„Jetzt habt ihr bald zwei Wochen Schulruhe. Reicht euch das nicht?“

Alles neete und nööte durcheinander.

Anke Rufus war die Geduld in Person. Noch drei Stunden, dann begannen die Ferien.

„Also. Am Montag Morgen ging dann bei den Rittern wie bei uns in der Schule das Hauen und Stechen wieder los. Wer sich nicht an die Pause hielt, musste zur Strafe nach Jerusalem pilgern. Und so eine Pause, wird erzählt, rettete ein paar Rittern im Jahre 1087 das Leben und die Burg. Da griff nämlich Wolfram von Trutzlingen, genannt Wolfram mit dem Buckel, Burg Knittelstein an. Die wurde von Meinhardt dem Dicken verteidigt. Wolfram hatte Wurfmaschinen den Berg hinauf schaffen lassen. Eine irrsinnige Plackerei, könnt ihr euch vorstellen. Am Mittwoch Abend dann waren die Mauern der Burg durchlöchert wie ein Sieb und die Zugbrücke kurz vorm Zusammenbruch. Doch die beiden Raufbolde hatten wenigstens vor dem Bischof Respekt. Naja, und bis nach Jerusalem war es verflixt weit. So hielten sie sich notgedrungen an die Ruhezeit. Aber Meinhardt der Dicke war schlau. Er nutzte die vier folgenden Tage und Nächte und – das berichten die alten Legenden – haute eine Spalte im Berg so aus, dass sie für dicke Ritter begehbar wurde. Oder wahrscheinlich eher bekriechbar. Plötzlich kamen am Montag Morgen irgendwo unterhalb der Burg ein paar finstere Gesellen aus einem Stollen geschlüpft. Sie fielen dem überraschten Wolfram und seiner Truppe in den Rücken und – man darf es kaum sagen – warfen sie mit allem Gerät die Südklippen runter. Hinter der Burg, bei der Teufelsnase. Ihr kennt das dort? Ihr wisst, was das bedeutet. Noch Fragen?“

„Klar! Wo kommt der Gang denn raus?“

Anke Rufus machte ein geheimnisvolles Gesicht und blickte Timo ernst in die Augen. „Ich vermute,“ sagte sie langsam, „im Keller von Direktor Zuffhausen.“

Es dauerte eine Weile, bis die ersten grinsten.

„Und nun ab mit euch in die Pause. Aber nicht bis Montag früh!“

Meinhardt der Dicke verdrehte die Augen. Ja damals! Da hatten sie sich durch den Berg gewühlt. Und dann erging's dem Wolfram schlecht!

Und heute? Hing er in der Knittelsteiner Ahnengalerie! Und blickte hinunter auf diese Göre, die ihm neulich drei schwarze Haare in jedes Nasenloch gemalt hatte. Beim verklemmten Visier! Da rannte sie schon wieder die Galerie entlang. Streckte ihm die Zunge raus und verschwand in der Wendeltreppe zum Burgturm.

Die hohle Schlange, das Labyrinth und die schrecklichen Mönche von Bresel

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