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11. Jänner 1919 »Ganz Berlin ist ein brodelnder Hexenkessel« Die Kämpfe um das Verlagsgebäude Mosse

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Der Diplomat und Schriftsteller Harry Graf Kessler erlebt die ersten Tage des neuen Jahres in Berlin. Durch seine Beobachtungen, die er in Tagebucheinträgen der Nachwelt überliefert, wird der Graf zum ersten und wichtigsten Chronisten der Zeitenwende. Schon sein Eintrag vom 31. Dezember 1918 charakterisiert eine Epoche, vielmehr das Ende dieser: »Letzter Tag dieses furchtbaren Jahres. 1918 wird wohl ewig die schrecklichste Jahreszahl der deutschen Geschichte bleiben.« Kessler irrt. Es werden noch viele »schreckliche« Jahre folgen.

Berlin erlebt im Jänner eine versuchte Revolution. Im Festsaal des Preußischen Landtags tagen am 31. Dezember und am Neujahrstag die Anhänger des »Spartakusbundes«. Die unbestrittenen Führungspersönlichkeiten der Bewegung sind Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Sie gründen am ersten Tag des neuen Jahres die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD). Berlin erlebt Gewalt, Streik, Umsturz, Widerstand. Ein Nebeneinander von bürgerlichem Leben und revolutionärem Aufstand, gefolgt von militärischer Repression prägt die Hauptstadt. Berlin feiert das Ende des Krieges in einem Rausch der Vergnügungssucht, in einer Orgie der Gewalt. Wiens Proletarier sind für eine Revolution zu sehr geschwächt. Wien hungert und friert.


Der Aufstand des kommunistischen Spartakusbundes in Berlin wird nach heftigen Kämpfen von Regierungstruppen blutig niedergeschlagen. Der Fotograf Willi Ruge wird zum geschäftstüchtigen Chronisten der gescheiterten deutschen Revolution.

Die Zeitungsmeldungen aus der Hauptstadt des einstigen Bundesgenossen verunsichern das Wiener Bürgertum, aber es bleibt ungerührt: Revolutionsgarden in München, Bolschewiken in Budapest, Spartakusaufstand in Berlin. Die Welt ist aus den Fugen – scheinbar. Die politischen Konflikte werden zwischen Kommunisten, linken Sozialisten und Sozialdemokraten ausgetragen, ja buchstäblich ausgefochten. In Berlin regieren die »Mehrheitssozialisten« mit Friedrich Ebert, Philipp Scheidemann und Gustav Noske, in Wien die Sozialdemokraten mit Karl Renner, Otto Bauer und Karl Seitz. Das Bürgertum verhält sich still, beobachtet verängstigt die Kämpfe um die soziale Revolution.

Harry Graf Kessler muss sich einer Halsoperation unterziehen und erlebt die Berliner Straßenkämpfe sediert durch Schlafmittel und die Nachwirkungen seiner Narkotisierung: »In der Nacht ist ein regelrechtes Gefecht um das Haus des Mosse’schen Verlages entbrannt. Bisher hatten es die Spartakisten.«

Der »Spartakusaufstand« entwickelt sich aus einer Großdemonstration im Herzen von Berlin. Über die Lindenstraße, den Pariser Platz ziehen Tausende bewaffnete Spartakisten, Matrosen in ihrer Uniform, Arbeiter und Soldaten. Sie protestieren gegen die Absetzung des »linken« Berliner Polizeichefs Emil Eichhorn. Die Straßen sind nass, die Witterung aber eher mild, bewaffnete Arbeiter besetzen das Berliner Zeitungsviertel. So wollen sie die vornehmlich bürgerlichen und sozialdemokratischen Massenmedien in die Hand bekommen, die Revolution braucht die gedruckte Presse. Als eines der ersten Zeitungsgebäude wird der sozialistische Vorwärts-Verlag am Belle-Alliance-Platz besetzt, dann folgen alle anderen wichtigen Zeitungshäuser und das Büro der Wolff’schen Telegraphenagentur. Die gewaltsame Besetzung des Berliner Nachrichtenzentrums provoziert einen massiven militärischen Gegenschlag der sozialdemokratischen Regierung. Reichswehrminister Gustav Noske wird zum bestimmenden Mann der nächsten Tage. Er verlegt – für die Regierung – verlässliche Truppen in die Hauptstadt. Am 6. Jänner, dem Dreikönigstag, eskaliert die Lage. Auf der Chausseestraße haben Regierungstruppen Maschinengewehrstellungen aufgebaut, die Straße ist gesperrt. Demonstranten versuchen durchzubrechen. Es wird geschossen. 16 Kommunisten sterben im Kugelhagel. Kessler notiert: »Ganz Berlin ist ein brodelnder Hexenkessel, in dem Gewalten und Ideen durcheinanderquirlen … nie seit den Tagen der großen französischen Revolution hat so viel bei den Straßenkämpfen in einer Stadt für die Menschheit auf dem Spiel gestanden.« Doch die Revolutionäre bleiben isoliert, ihre Bewegung auf das eng umgrenzte Zeitungsviertel beschränkt. Rosa Luxemburg hämmert jeden Tag anfeuernde Artikel in die Tasten ihrer Schreibmaschine, die in der Roten Fahne gedruckt werden. Doch die Masse der Arbeiter schließt sich dem kommunistischen Kampf nicht an.

Der Berliner Fotograf Willi Ruge ist ein wichtiger und auch geschäftstüchtiger Chronist der Zeit. Er dokumentiert die Kämpfe in Berlin, zeigt die Folgen und verkauft seine Fotos an Zeitungen, er lässt aber auch in Großauflage Bildkarten drucken, die als Ansichtskarten verschickt werden.

Arthur Schnitzler fährt nach Grinzing in die Armbrustergasse und bespricht mit Josef Redlich in dessen weitläufigem Garten die Lage in Deutschland. Schnitzler notiert am Abend Stichworte des Gesprächs: »Thorheit eines Anschlusses an Deutschland in diesem Augenblick: Zusammenbruch des Sozialismus. Rolle der Juden im Bolschewismus.« Während Schnitzler beim »Thee« räsoniert, wird der Häuserkampf im Berliner Zeitungsviertel blutig. Die Regierungsarmee setzt neben einem Panzer Maschinengewehre und schwere Artillerie ein. Nach und nach werden die revolutionären Spartakisten eingeschlossen. Nach zwei Tagen sind bereits 30 Menschen tot. Am 8. Jänner erhält der sozialdemokratische Minister Noske die Vollmacht, den Aufstand niederzuschlagen. Sein kolportierter Satz, den er vor dem Schreibtisch von Reichspräsident Friedrich Ebert gesagt haben soll, wird berüchtigt: »Meinetwegen. Einer muss der Bluthund werden!« Am 11. Jänner stürmen Soldaten das Gebäude der SPD-Zeitung Vorwärts. Dabei sterben fünf Soldaten, angeblich durch das Feuer eines Maschinengewehrs, das Rosa Luxemburg bedient haben soll. Dieses falsche Gerücht ist ein Vorspiel für die Ermordung der kommunistischen Gallionsfigur wenige Tage später. Die Sturmtruppen erobern die Redaktion des Vorwärts. Gefangene werden in die »Garde-Dragoner-Kaserne« geschleppt und dort im Hof erschlagen.

Die Gleichzeitigkeit von großstädtischem Leben und blutigem Häuserkampf wird schon von den Zeitgenossen bemerkt. Die Berliner Mittagszeitung berichtet von der »Flucht der Theaterbesucher«. »Während der Kampf um das Mossehaus in den späten Abendstunden an Stärke etwas abnahm, entwickelte sich um das Straßenviertel längs des Gendarmenmarktes und des Schauspielhauses eine lebhafte Schießerei (…) Eine eigenartige Note bekam das Straßenbild dadurch, daß zur Zeit des heftigsten Feuers gerade die Vorstellung im Schauspielhause beendet war. Es begann nun eine wilde Flucht der Theaterbesucher. In wertvolle Kleidung gehüllt, quetschten sich die Damen und Herren hart an den Häuserwänden entlang, allenthalben Schutz suchend. Es ging die Flucht bis zum Eingang der Untergrundbahn, dem rettenden Loch, dem bombensicheren Unterstand.«

Neue Zeit 1919

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