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1. Jänner 1919 »Die Stimmung war ganz leidlich« Arthur Schnitzler begrüßt das neue Jahr mit einem »Pferderlspiel«
ОглавлениеAm Silvesterabend 1918 versammelt sich eine kleine Gästeschar im Hause von Arthur und Olga Schnitzler. Der Pianist Wilhelm Grosz untermalt den Abend »famos« am Klavier. Schnitzler arbeitet gerade an seiner Novelle Der Gang zum Weiher und er kommt nur mäßig voran. »Geht’s in dem Tempo brauche ich sechs Jahre«, vertraut der Dichter am letzten Tag des Jahres seinem Tagebuch an. Felix Salten schaut mit seiner Frau vorbei und plaudert über den früheren Außenminister Czernin, er »sprach Politik«. Schnitzler bleibt in seinem Tagebuch unbestimmt, lakonisch, seltsam uninteressiert. Die Familie des Industriellen Hugo Schmidl ist mit ihrer Tochter Johanna (Hansi) und dem Verlobten Karl Kirsch erschienen. Die beiden werden im kommenden Jahr heiraten. Herr Schmidl organisiert die Bürgerwehr in Währing und nimmt die Meldung des Schriftstellers entgegen. Dafür bringt er Schnitzler eine Zigarre mit. In kargen Friedenszeiten wie diesen ist so ein Geschenk eine Erwähnung wert. Am frühen Abend wird gespielt – nicht mehr Roulette, wie noch in der Silvesternacht des Jahres 1914, es bleibt ein vergleichsweise harmloses »Pferderlspiel«. Elisabeth von Landesberger (Lili) darf würfeln. »Die Stimmung war ganz leidlich.«
Der letzte Finanzminister der kaiserlichen Regierung, Josef Redlich, verbringt die Nacht aufs Jahr 1919 plaudernd mit seinem »geliebten Sohn« und einer Flasche altem Mouton Rothschild. Der Rotwein tröstet ihn, den peniblen Biografen der Schicksalsjahre Österreichs, über Vergangenes und über Verzweifelndes hinweg: »Soll ich einen Rückblick auf dieses Jahr der Vollendung des Unglücks halten, des Unheils, das beispiellose Unfähigkeit, Dummheit und Schlechtigkeit herbeigeführt hat?« Er tut es nicht. Er hebt das Glas.
Der Schriftsteller Arthur Schnitzler meldet sich in der Silvesternacht zur Währinger Bürgerwehr. Sein erster »Sold« ist eine Zigarre.
Im nahen und doch plötzlich fernen München verläuft der Jahreswechsel im Hause von Thomas Mann eher besinnlich. Immerhin gibt es Punsch, wenn auch keinen Mouton Rothschild. »Es wurde der Baum wieder angezündet. Die Kinder warteten das Herunterbrennen der Kerzen ab und kamen spät ins Bett.« Thomas Mann begeht den Jahreswechsel mit literarischer Kost. Er liest Leo Tolstoi – und mit Bezug auf die politische Lage im revolutionären München vertraut er seinem Tagebuch an: »Es wird wieder geschossen.«
Der Autor der Buddenbrooks sorgt sich ums Familienvermögen. »Lese seit dem 1. Jänner wieder die Frankfurter Zeitung. Gespräche über die bevorstehende ›Abgabe‹ des Kriegsgewinns, die Vermögens-Abgabe etc.« Thomas Mann überlegt, was er mit seinem Ersparten anfangen soll. Ein gewiefter Geschäftsmann habe geraten, man solle Anschaffungen machen, soweit nur die Wünsche reichen. »Gut, ich wünsche mir einen Phonola-Apparat«. Thomas Mann hadert mit der Weltpolitik, kokettiert gar mit bolschewistischen Revolutionsideen: »Das wäre vielleicht weniger wahnsinnig, als unsere Bürgerlichkeit tut.« Und der Schriftsteller propagiert die »Dolchstoß-Legende« der deutschen Militärführung. Schuld an der Niederlage sei die »voreilige deutsche Revolution« gewesen. Die politische Urteilsfähigkeit des Autors ist am Beginn des Jahres 1919 nicht sehr scharf.