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2. Februar 1919 »Eine fast pathologische Neigung zum Verzerrten« Ein künstlerischer Nachruf auf Egon Schiele

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Ein Beginn am Ende. Ein Aufbruch in die »moderne Zeit« mitten im Zusammenbruch der »alten Welt«. Mit dem Zerfall der Monarchie erscheint in Wien eine neue Kulturzeitschrift. Der Titel ist Programm: Moderne Welt. »Aus der Fülle und Buntheit der modernen Welt das Charakteristische, Interessante und Aktuelle herauszugreifen und in Worten und Bildern festzuhalten, ist unser Arbeitsplan.« Unter den Autoren finden sich klingende Namen, die doch auch noch der »alten Welt« verhaftet sind: Anton Wildgans, Hermann Hesse, Egon Friedell, Hugo von Hofmannsthal, Hermann Bahr, Heinrich Mann, Sigmund Freud, Raoul Auernheimer und viele andere, deren Namen heute verklungen sind.

Die Illustrierte soll »eine künstlerisch gehaltene Revue großen Stils« sein, eine »österreichische und zugleich europäische Zeitschrift, die den Wettbewerb mit den großen ausländischen Revuen aufnehmen kann.« Die Gründung des Heftes steht im bewussten Kontrast zur Wirklichkeit. Chefredakteur Ludwig Hirschfeld sieht mitten in der Niederlage Hoffnung wachsen. »Dieses erwachte österreichische Selbstbewußtsein und Selbstvertrauen soll auch in kommenden helleren Zeiten gepflegt werden und seinen eigenen österreichischen Ausdruck finden. Dazu möchte die Moderne Welt das Ihrige beitragen. Wir wollen nicht immer nur in den wohlwollenden oder mißgünstigen, aber meistens unrichtigen Spiegeln des Auslandes gesehen werden, sondern uns einmal selbst mit eigenen Worten und Farben schildern und unseren Freunden und denen, die heute noch unsere Feinde sind, zeigen: so sind wir und so sehen wir wirklich aus.«


Die neue Zeit verlangt nach einer neuen Zeitschrift. Die Moderne Welt erscheint 1919 mit einem künstlerischen Nachruf auf Egon Schiele.

In einer der ersten Ausgaben des Jahres 1919 druckt die Monatszeitung – in der Hirschfeld immer nur das Wort »Österreich«, nie »Deutschösterreich« verwendet – vier Zeichnungen eines kürzlich verstorbenen Malers ab: Egon Schiele. Der feuilletonistische Nachruf auf den Maler beweist, dass Genies durchaus schon in ihrer Zeit erkannt und bekannt werden, auch wenn ihr Werk dann über Jahrzehnte zu verblassen scheint, ehe es wiederentdeckt wird. »Noch nicht 27 Jahre alt ist dieser ungemein interessante Künstler vor kurzem an der Grippe gestorben. Wir würden ihn ›vielversprechend‹ genannt haben, wie man dies in solchen Fällen zu tun pflegt. Allein der Ausdruck paßt hier nicht. Schiele war schon mit 18 Jahren eine fertige Individualität und hat sich in dem kurzen Dezennium, das ein geiziges Schicksal ihm gegönnt hat, nicht merklich geändert; hätte es wohl auch später kaum mehr getan. Die Fähigkeit, in dünnen Umrissen das ganze Leben und den eigentümlichen Ausdruck menschlicher Gesichter, Gestalten und Bewegungen einzufangen, dazu eine aparte Koloristik, waren die bezeichnenden Merkmale seiner Kunst schon in seinen Schülerjahren. Er mag wohl von Klimt und Kokoschka angeregt worden sein, die zu der Zeit, als Schiele heranwuchs, mit ähnlichen Versuchen vor das Publikum traten. Doch haben seine Arbeiten ein eigenes Cachet. Eine fast pathologische Neigung zum Verzerrten, Leichenhaften charakterisiert die Mehrzahl seiner Werke. Aber eine eigentümliche Phantastik hebt diese grimassierenden Fratzen, die an der Grenze der Karikatur stehen, in die Sphäre des Traumhaften, Visionären (…) Auch wer dieser Richtung keinen Geschmack abgewinnen kann, wird zugestehen müssen, daß sie hier einen vollwertigen künstlerischen Interpreten gefunden hat. Die erstaunliche Virtuosität, mit der Schiele seine Konturen hinschreibt, wird am deutlichsten in seinen Naturstudien (…) Hier spricht sich mit dem spärlichsten Aufwand an Mitteln doch die feinste Naturempfindung aus, dabei ein eigenartiger ornamentaler Geschmack und es fehlt auch der pathologische Einschlag, der zwar für viele von den Werken Schieles charakteristisch ist, sie aber doch auch abstoßend macht.«

Neue Zeit 1919

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