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23. Jänner 1923 »Für den privaten Geschäftsgeist wird noch weiter Raum bleiben« Karl Renner gibt einer amerikanischen Journalistin ein Interview
ОглавлениеKarl Renner hat eine Lieblingsjournalistin. Am 23. Jänner trifft der Staatskanzler die Amerikanerin Elizabeth Jane Cochran aus Pennsylvania und gibt ihr ein ausführliches Interview. Die außergewöhnliche Dame ist unter dem Pseudonym Nellie Bly bekannt. Die Weltreisende gilt als erste »investigative« Journalistin der Welt. Für eine Reportage über ein Frauenasyl auf der Insel Blackwell’s Island bei New York täuscht sie eine Geisteskrankheit vor und lässt sich für elf Tage in die Klinik einweisen. Ihre aufwühlende Reportage erscheint in der Zeitung New York World. Eigentümer und Herausgeber ist Joseph Pulitzer. Nellie Bly wird so zu einer Pionierin des versteckten Recherchierens. Pulitzers Zeitung finanziert eine Abenteuerreise ihrer Spitzenjournalistin, bei der sie 1889/1890 auf den Spuren von Jules Vernes Roman In achtzig Tagen um die Welt hetzt. Tatsächlich schafft Bly die Erdumrundung deutlich schneller als Jules Vernes Held. Sie braucht nur 72 Tage und ein paar Stunden. Das Buch, das sie danach veröffentlicht, wird zum Welterfolg. Nellie Blys Rekord hält nicht lange. Schon 1911 reist André Jager-Schmidt in nur 37 Tagen um die Erde. Freilich unter anderen Bedingungen. Nellie Bly konnte 1887 noch nicht mit der Transsibirischen Eisenbahn fahren. Im Jänner 1919 ist sie wieder in Wien und soll über das Elend in der ehemaligen Kaiserstadt berichten. Die Reporterin der New York World war bereits im Frühjahr 1915 als Kriegsberichterstatterin in Galizien unterwegs gewesen und zeichnete von der k. u. k. Armee ein sehr idealistisches Bild: »In allen Ländern, die ich bereiste, kämpfen die Nationen, weil sie eine andere Nation hassen, in Österreich kämpfen sie alle nur, weil sie Österreich lieben. Es ist ein wunderbares Gemüt in diesen Leuten, die ihr Vaterland glühend lieben und doch seinem Feind gegenüber selbst im Kampfe voller Mitleid sind.«
Staatskanzler Karl Renner wirbt in einem Interview mit der Journalistin Nellie Bly für die amerikanische Zeitung New York World um Investitionen in Österreichs Wirtschaft.
Renner nützt die Journalistin als Augenzeugin der österreichischen Zustände. Er erhofft sich vor allem einen Leser: Amerikas Präsident Woodrow Wilson soll über Nellie Blys Artikel für die Anliegen der österreichischen Republik gewonnen werden. Renners Interview wird zum Appell: »Wenn uns die Sicherheit des Lebens geboten wird, wenn man uns Deutschböhmen und des Sudetenlandes und der Zufuhren aus Deutsch-Ungarn beraubt, ist zu hoffen, daß es den regierenden Parteien gelingt, den inneren Frieden zu erhalten. Ob wir noch eine Revolution haben werden oder nicht, das hängt heute ebenso sehr von den Ententemächten als von uns selbst ab.« Renner wirbt bei der amerikanischen Journalistin um Investitionen der US-Industrie. Ängste, die sozialdemokratische Regierung könne Industriebetriebe verstaatlichen, versucht Renner zu zerstreuen. Lediglich die von Kartellen geleiteten Großbetriebe sollten der Staatsleitung unterstellt werden, zunächst die Kohle- und Eisenbergwerke: »Für den privaten Geschäftsgeist wird noch weiter Raum bleiben. Gewiß! Nichts kann uns erwünschter sein, als wenn die amerikanischen Kapitalisten hier in unserem Lande ihr Geld anlegen und uns helfen, unsere Arbeitslosen zu beschäftigen.«
Nellie Bly veröffentlich das lange Gespräch mit dem Staatskanzler. Ob Woodrow Wilson es gelesen hat? Renners linker Parteigenosse Otto Bauer ist über die Öffentlichkeitsarbeit des Staatskanzlers nicht gerade erfreut. Er stellt ihn zur Rede: »Du liest offenbar keine ausländischen Blätter und hast daher, wie es scheint, keine Ahnung, welches Unheil Du mit manchen Redewendungen anrichten kannst.«