Читать книгу Neue Zeit 1919 - Gerhard Jelinek - Страница 17
3. Februar 1919 »Der Kampf der Gewalten – Ein Drama der Arbeit« Der Film erobert als Massenmedium Wien
ОглавлениеDer Film Der Kampf der Gewalten – Ein Drama der Arbeit wird von der Zensurstelle aufgrund der in der Woche vom 3. Februar bis 18. Februar 1919 vorgenommenen Filmprüfungen zur Vorführung in den Jugendvorstellungen als nicht geeignet eingestuft. Immerhin werden im Winter 1919 schon 56 Filme überprüft, wovon nur 20 auch Jugendlichen zugemutet werden dürfen. Der Kampf der Gewalten greift ein fast tagespolitisch aktuelles Thema vor der Drohkulisse einer »roten« Räteregierung in Bayern und Ungarn auf. Die Arbeiter einer Fabrik werden von einem Bolschewiken namens »Borski« gegen ihre Arbeitgeber aufgewiegelt und übernehmen den Betrieb. Am Ende scheitert die Selbstverwaltung kläglich und die Aufrührer begrüßen die Rückkehr der Direktoren zur Leitung der Firma. Da sich »Borski« auch noch als Frau in Männerkleidern entpuppt, wird hier nicht nur vor den verhängnisvollen Folgen des Bolschewismus gewarnt. Das Filmdrehbuch macht unterschwellig Ängste der Männer gegenüber einer neuen starken Frau sichtbar.
Mit dem Zusammenbruch der Monarchie und dem Ende des Krieges ist die allgemeine Zensur aufgehoben worden. Das Medium Film bleibt von der neuen Freiheit ausgeschlossen. Die republikanischen Behörden orientieren sich weiterhin an den Bestimmungen des Jahres 1912: Die Polizeidirektion Wien fertigt für jeden neuen Film »Erlaubniskarten« an. Auch in den Bundesländern entscheiden Beamte über die Zulassung von Filmen in den Lichtspieltheatern. Anfangs steht weniger die politische Absicht im Vordergrund, als der Schutz vor flimmernder Zügellosigkeit. Was in Wien erlaubt ist, darf aber möglicherweise in Salzburg nicht gezeigt werden. Gerade im Bereich des »Jugendschutzes« beharren die Landesregierungen auf die lokale Sittenstrenge. Daran wird sich auch die nächsten hundert Jahre wenig ändern.
Filme mit klaren politischen Botschaften sind auch eher die Ausnahme. Erfolgreicher sind Filme wie Der Mann der Tat, die sich gleich mehrerer Klischees bedienen: Der später berühmte Emil Jannings agiert als reicher, aber »etwas verwilderter« Amerikaner namens Jan Miller. Er trifft auf eine reiche, schöne Witwe mit dem blumigen Namen Hendrica van der Looy. Die Dame kann sich nicht zu einer zweiten Heirat entschließen. Sie wartet auf einen »Mann der Tat«. Über Vermittlung eines Bankiers trifft sie den amerikanischen Herrn Miller, sie zeigt kokettes Interesse, muss ihn aber zuerst europäische Umgangsformen lehren.
Für mehr Aufsehen sorgt der unter der Regie von Hans Otto Löwenstein produzierte Streifen Mayerling, der sich mit der Tragödie von Kronprinz Rudolf beschäftigt. Auch in der Republik ist das Thema so heikel, dass der Film zunächst von der Zensur verboten wird. Er könnte monarchistische Bevölkerungskreise verstören. Erst 1924 darf dieser Film in Österreich öffentlich vorgeführt werden. In Prag kommt Mayerling schon im Herbst 1919 in die Kinos. Synchronisiert muss der Stummfilm ja nicht werden. Regisseur Hans Otto Löwenstein entwickelt sich zu einem der prägenden Filmemacher der Ersten Republik. Mehr als 400 Produktionen werden seinem Schaffen zugeschrieben. Im Herbst des Jahres flimmert ein weiterer Mayerling-Film (Die Tragödie des Kronprinzen Rudolf) in gleich 94 Wiener Kinos. Regie in diesem deutschen Spielfilm führt Rolf Randolf. Die Zensur schaut diesmal weg. Der Film als Massenmedium hat Wien längst erobert.
Als eigentliches Geburtsjahr des österreichischen Spielfilms gilt 1908, als der Fotograf Anton Kolm gemeinsam mit dem Schauspieler Heinz Hanus den nicht mehr erhaltenen Streifen Von Stufe zu Stufe dreht. Die schwarz-weißen, mit 18 Bildern pro Sekunde flimmernden Minidramen leiten einen regelrechten Kino-Boom ein. Innerhalb der wenigen Jahre bis zum Ausbruch des Weltkrieges werden allein in Wien 150 Lichtspiel- oder, wie es damals heißt, Kinematografentheater eröffnet. Mit der Zahl der Filmtheater explodiert die Filmproduktion. Zwischen 1908 und August 1914 werden in Österreich mehr als 210 »Dokumentarfilme« und über 120 Kurz- und Langspielfilme hergestellt.
Der Film wird zum neuen Massenmedium. Schon im ersten Jahr der Republik flimmern in fast 200 Kinos kinematografische Werke. Filme dienen vornehmlich der Unterhaltung, dokumentieren aber auch gesellschaftliche Missstände.
Der mährische Adelige Alexander (Sascha) Kolowrat-Krakowsky wird zum Wiener Filmmogul. Seine »Sascha-Film« dreht und produziert am laufenden Band, und im Jahr 1913 wagt sich Kolowrat-Krakowsky mit seiner Produktionsgesellschaft in Wien an den ersten »abendfüllenden« Spielfilm: Der Millionenonkel. Regie führen die Brüder Hubert und Ernst Marischka, die Hauptrolle des Millionenonkels spielt Burgtheater-Schauspieler Alexander Girardi. Noch verschwimmen die Grenzen zwischen Theater und Film. Der fehlende Ton erzwingt ein gestenreiches Schauspiel, durchaus so wie es das Publikum vom Theater kennt.
Der Erste Weltkrieg befreit zunächst die österreichischen Produzenten von der mächtigen französischen Konkurrenz. Immer öfter rücken die heimischen Kameraleute an die Front aus, um im Dienste der Propaganda Kriegsberichterstattung zu machen. Viele der dokumentarischen Szenen sind freilich inszeniert und die Filme unterliegen einer strengen Zensur durch die Filmstelle des Kriegspressequartiers. Zur Produktion der Filmaufnahmen braucht es professionelle Filmschaffende, wie eben Alexander Kolowrat-Krakowsky, der zum Leiter der k. u. k. Filmstelle gemacht wird und sich dabei der Ressourcen seiner »Sascha-Film« bedienen kann. Auch der routinierte Filmemacher Hans Otto Löwenstein führt bald bei den Produktionen Regie. Die Filme werden der Bevölkerung im regulären Kinobetrieb, aber auch den Truppen in eigenen Feldkinos vorgeführt.
Die Regierung hat großes Interesse am Einsatz des neuen Mediums Film, dessen propagandistischer Wert erkannt wird. Die »Filmstelle des k. u. k. Kriegspressequartiers« wird ohne Schnitt als »deutsch-österreichische Filmhauptstelle« direkt der Staatskanzlei unterstellt und mit dem vorhandenen Personal weitergeführt. Die Aufgabe dieser neuen Institution ist vor allem die Produktion von wissenschaftlichen Filmen zu Unterrichtszwecken, aber auch von Unterhaltungsfilmen und Filmen, die zur Hebung des Ansehens der jungen Republik im Ausland beitragen sollen. Schon bald werden auch die Förderung des Fremdenverkehrs und die Schönheit der Landschaft kinematografisch belichtet. Die erste erhaltene Produktion entsteht mit Unterstützung der amerikanischen Kinderhilfsaktion und soll die Not der Bevölkerung Wiens einem mutmaßlich internationalen Publikum vor Augen führen. Das Kinderelend in Wien ist der Versuch, mit dokumentarischen Bildern über die Hungersnot von Kindern und das Elend von Familien internationale Hilfe anzuregen, ja geradezu einzufordern. Die für den rund zehn Minuten langen Streifen gedrehten Bilder werden sich in den 1920er- und 1930er-Jahren immer wieder in Propagandafilmen wiederfinden.
Das Kinderelend in Wien zeigt im 35-Millimeter-Format in drastischer Weise die reale Situation der Nachkriegsgesellschaft im ersten »Friedenswinter«, der vor allem für städtische Kinder zum Hungerwinter wird. Im Stil eines Lehrfilms werden zunächst Kinder einer Wiener Volksschule aus dem Jahr 1914 gezeigt, die fröhlich hüpfen und offensichtlich wohlgenährt sind. Den Archivaufnahmen aus der Vorkriegszeit wird ein elfjähriges Mädchen aus derselben Volksschule im Jahre 1919 gegenübergestellt, das gewogen und vermessen wird. In der statischen Aufnahme hantiert eine männliche Person mit einer Waage. Ein Insert informiert, das Kind wiege 23 Kilogramm bei 122 Zentimeter Körpergröße. Der 26 Minuten lange Film thematisiert auch die tristen Wohnverhältnisse im Nachkriegs-Wien. Inserts liefern zusätzliche Informationen: »Die Wohnungsnot zwingt nicht nur die untersten Schichten der Bevölkerung, sondern auch Familien des Mittelstands, ihr Heim in alten Eisenbahnwaggons aufzuschlagen.« Der Streifen versucht zu dokumentieren, wie sich der Allgemeinzustand der Bevölkerung in den Kriegsjahren verschlechtert hat. Menschen suchen in Abfällen nach Nahrung. Es werden Krankheitsbilder von Rachitis, Skrofulose und Tuberkulose gezeigt.
Auch dieser zweite Film entsteht 1919 an der Kinderklinik der Medizinischen Fakultät der Universität Wien. Professor Clemens Freiherr von Pirquet, Vorstand der Universitäts-Kinderklinik, tritt in diesem sechs Minuten langen Streifen selbst auf. Gezeigt werden ärztliche Untersuchungen mittels Perkussion, Schwestern beim Baden, Abwiegen und Vermessen unterernährter Kinder. Diese Dokumentarfilme sind die ersten medizinisch-wissenschaftlichen Filme, die in der Ersten Republik an der Medizinischen Fakultät in Wien gedreht wurden.
Die filmische Darstellung spiegelt sich in medizinischen Statistiken wider. Clemens von Pirquet veröffentlicht in der Wiener Medizinischen Wochenschrift eine wissenschaftliche Arbeit über den »Ernährungszustand der Wiener Kinder«. Er vergleicht die Untersuchungsergebnisse in der Kinderklinik mit den Daten vor dem Krieg: »Der Ernährungszustand der Wiener Kinder ist zwar nicht so fürchterlich wie der Ernährungszustand der alten Leute, aber es ist immerhin auch außerordentlich schlecht. Jeder, der Gelegenheit hat, eine größere Anzahl von Kindern des Mittelstandes oder der Arbeiterkreise zu untersuchen, wird das bestätigen. Nur die Neugeborenen machen eine Ausnahme. Der Foetus lebt auf Kosten der Mutter und zieht aus dem mütterlichen Körper die ihn zukommenden Nahrungsstoffe wie ein bösartiger Tumor ohne jede Rücksicht darauf, ob die Mutter diese Stoffe durch die Nahrung ersetzen kann oder ob sie ihre eigenen Gewebe einschmelzen muß, um das Wachstum des Kindes zu ermöglichen.« Von den 252 untersuchten Buben waren 226 untergewichtig. Mädchen sind nur wenig besser genährt. »Von 246 in der Kinderklinik aufgenommenen waren 214 untergewichtig, nur 32 befriedigend ernährt, davon 14 im ersten Lebensjahre stehend.« Die Kinder sind im Durchschnitt um 20 Prozent untergewichtiger als es die damals gültige »Camer’sche Standardzahl« angibt. 11-jährige Burschen wiegen im Durchschnitt 27,8 Kilo, Mädchen 25,7 Kilo. Im Frühjahr 1919 beginnen die Hilfslieferungen der alliierten Westmächte. Pirquet lässt es nicht bei den Statistiken bewenden: Vor dem Krieg konnte er bei einem Forschungsaufenthalt in den USA zahlreiche persönliche Kontakte knüpfen. Er genießt das Vertrauen amerikanischer Hilfsorganisationen. Mit seinen Mitarbeitern organisiert Pirquet zwischen 1919 und 1921 österreichweit die Ausspeisungen der amerikanischen Kinderhilfsorganisation. »Mitte Mai hatten die Vertreter der Vereinigten Staaten von Nordamerika in Wien ihr Quartier aufgeschlagen und wir bemühten uns, das Wichtigste in einigen Tagen zur Verfügung zu stellen, einzurichten und neu zu schaffen: Die Materiallager für die anrollenden Lebensmittel und die Küchen für die Zubereitung des Essens. Schon in den allernächsten Tagen waren die ersten Ausspeisestellen in Betrieb. Im Schnellschrittempo ist in der folgenden Zeit der weitere Ausbau ins Werk gesetzt worden: Einen Monat später hat man in Wien täglich rund 75 000 Portionen verabfolgt.« Rund 400 000 unterernährte und unter Mangelerscheinungen leidende Kinder bekommen amerikanische »Kraftnahrung«. Der spätere US-Präsident Herbert Hoover (United States Food Administration) leitet diese Hilfsaktionen für die notleidende europäische Bevölkerung. Hoover wird 20 Jahre später, im März 1938, für seinen Beitrag zur Linderung des Hungers mit der Verleihung einer Ehrendoktorwürde an der Technischen Hochschule in Wien geehrt.
Amerikaner, Schweden und Schweizer schicken Nahrungsmittel. Die Hilfe verfolgt durchaus auch politische Zwecke. Österreich soll nicht nur vorm Verhungern, sondern auch vorm Bolschewismus gerettet werden. Die soziale Krise des Jahres 1919 wird durch eine nie gekannte Produktionskrise gesteigert. Der industrielle Ausstoß beträgt nur ein Drittel, die Agrarproduktion nur die Hälfte von 1913. Die Arbeitslosenzahl steigt auch durch die Heimkehr von Kriegsgefangenen und die Demobilisierung des Heeres von 46 000 im Dezember 1918 auf 186 030 im Mai 1919 an.