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2. Der Referenzrahmen

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Maʿase (Ereignis/Fallbericht) über R. Jochanan b. Beroqa und R. Leazar Chisma, die von Javne nach Lod kamen und vor R. Jehoschua in Peqiin die Aufwartung machten.

R. Jehoschua fragte sie: Was gab es heute Neues im Lehrhaus?Was gab es heute Neues im Lehrhaus?

Sie antworteten ihm: Wir sind deine Schüler und trinken dein Wasser (= lernen von dir).

Er sagte zu ihnen: Es ist unmöglich, dass es nicht Neues im Lehrhaus gibt. Wessen Sabbat war es (= wer war zum Auslegen eingeteilt)?

Sie antworteten ihm: Es war der des R. Leazar b. Azarja.

Er fragte sie: Was war die Haggada?

„Versammle die Männer und Frauen und Kinder“ (Dtn 31,12).

|20|Er fragte sie: Was hat er dazu ausgelegt (ma darasch ba)?

Sie antworteten ihm: So hat er ausgelegt (kach darasch ba): Die Männer kommen, um zu lernen, die Frauen kommen, um zu hören. Warum kommen die Kinder? Um denen Lohn zu geben, die sie bringen.

Dieser kurze Bericht aus der Tosefta (Sota 7.9) über einige bekannte Rabbinen enthält wichtige Informationen zum Begriff darasch und zum Midrasch.

1 Der Gegenstand der Auslegung ist ein Stück aus der Bibel,

2 vorgetragen in einem ganz bestimmten Ort und Kontext, in der Versammlung der Rabbinen im Lehrhaus.

3 Die Auslegung hat Neuigkeitswert, fördert also eine Information aus dem Bibeltext zutage, die nicht ohne weiteres schon selbstverständlich und jedermann einsichtig wäre.

Es lohnt, ausgehend von diesem kurzen Beispiel, einen Blick auf einige Voraussetzungen zu werfen, die für den Midrasch in seiner klassischen Form gelten. Man kann dies Referenzrahmen nennen. Im folgenden Abschnitt (II.3) wird zu zeigen sein, dass Midrasch nicht von Anfang an und grundsätzlich als Auslegung von Schrift verstanden werden kann, sondern mit der Verkündigung und Interpretation von vorhandenem Recht zu tun hat – mit oder ohne Bibelbezug. Der weitaus überwiegende und maßgebliche Teil des Midrasch basiert aber auf der Auslegung von Schrift. Dazu gehört einmal ein Bewusstsein von einem autoritativen TextBewusstsein von einem autoritativen Text der Bibel. Auch wenn im Detail die Frage der Zugehörigkeit gewisser Bücher zu einem anerkannten Kanon lange im Fluss sein mag, so setzt Midrasch ein Korpus religiös-autoritativer Schriften voraus.

Die zweite entscheidende Grundvoraussetzung für die Entwicklung des Midrasch sind Die Rabbinendie Rabbinen. Die Zerstörung des Jerusalemer Tempels im Jahr 70 n.Z., mehr noch aber der gescheiterte Aufstand unter Bar Kochba um 135 n.Z. stellten die Weichen für diese Bewegung, die das Judentum im Laufe der Zeit maßgeblich beeinflusst. Anfangs sicherlich eine Minderheit in der jüdischen Bevölkerung, setzt sich diese Gruppe aus unterschiedlichen Strömungen zusammen, deren gemeinsames Ziel es ist, jüdische Identität auf der Grundlage der Überlieferungen zu sichern. Die zentrale Basis der Bewegung ist das Lehrhaus, wo junge Männer in enger Beziehung zu ihren Lehrern an der Bibel und an den sich entwickelnden weiterführenden Lehren ausgebildet werden. Ein Geheimnis des langsam wachsenden Erfolgs der rabbinischen Bewegung ist sicherlich ihre Bereitschaft, unterschiedliche Aspekte jüdischen wie nichtjüdischen Lebens und Denkens zu integrieren und so zu verarbeiten, dass sie ein eigenständiges rabbinisches Gepräge erhalten. So nimmt man priesterlich-kultische Vorgänge auf, aber |21|auch messianisch-apokalyptische Strömungen, esoterisch-magische Elemente bei gleichzeitiger Distanzierung und Vorsicht vor politisch ungeschicktem Aktivismus oder religiösem Fanatismus. Vergleichbar den griechisch-römischen Rhetoren sind Rabbinen ausgebildete Experten für jüdisches Recht, aber nicht selten auch Wundertäter und Heiler, Astrologen und vieles mehr. Üblicherweise werden die rabbinischen Gelehrten auch nach Zeitepochen unterteilt:

Tannaiten von aram. teni bzw. hebr. schana = wiederholen, lehren, lernen Amoräer von amar = sagen, kommentieren Savoräer von savar = meinen Geonim von gaon = erhaben
Hillel und Schammai bis Jehuda ha-Nasi (Rabbi) bis etwa 500 n.Z. Bearbeiter des babylonischen Talmuds 6. und Beginn 7. Jh. Schuloberhäupter Babyloniens bis 11. Jh.

Midrasch basiert auf dem rabbinischen Verständnis von Schrift und Tora. Wie ist dies zu verstehen?

Dreh- und Angelpunkt ist die Gabe der Tora am SinaiDreh- und Angelpunkt ist die Gabe der Tora am Sinai. In SifDev § 313 zu Dtn 32,10 heißt es über die Offenbarung:

„Er gab ihm Einsicht (jevonenehu)“ – durch den Dekalog. Das lehrt: Als das Wort aus dem Mund des Heiligen, gepriesen sei er, kam, sahen es die Israeliten und verstanden es und wussten, wieviel Midrasch in ihm ist, wieviel Halacha, wieviele Schlüsse vom Leichteren auf das Schwerere und wieviele Analogieschlüsse.

Die Einsicht (bina), von der im Bibeltext die Rede ist, verweist nach rabbinischer Ansicht bereits auf die die darin enthaltene Auslegung. Der Text ist Träger von Bedeutung, die entschlüsselt, erarbeitet werden muss. Der Dekalog fungiert als paradigmatischer Text, der Sinai als paradigmatischer MomentSinai als paradigmatischer Moment in Bezug auf Midrasch. „Paradoxerweise entfaltet sich das göttliche Wort durch menschliche Rede. Als exegetischer Akt und Vorgang ist diese menschliche Rede Midrasch“ (Fishbane, Midrash, S. 14). Fishbane verwendet in diesem Zusammenhang die von de Saussure stammende Unterscheidung von langue und parole, um die Bedeutung des aktualisierenden Sprechakts (parole) des Midrasch für die kanonisierte langue der Tora zu verdeutlichen.

Die Rabbinen sehen die Tora als ein komplexes Bezugssystem an. Günter Stemberger formulierte es einmal so:

Rabbinische Tradition hat durch die Jahrhunderte an der These festgehalten, dass die am Sinai geoffenbarte Tora auch schon die spätere Auslegung mitenthält, das traditionelle Verständnis also schon mit dem Bibeltext mitgegeben |22|ist und an dessen Autorität teilhat, eine Auffassung, die gerade innerhalb orthodoxer Kreise des Judentums Auslegungsunterschiede oft zu Grundsatzfragen werden läßt. Jedenfalls ist damit grundgelegt, daß die auf den Buchstaben genau abgegrenzte Tora vom Sinai unendliche Bedeutungsfülle hat, die Tora unendlich erneuerungsfähig ist und ihr doch nie Neues hinzugefügt werden kann. Der liturgische Dichter Jannai (6. Jh.) hat es in einer Qerova zu Ex 34,27 prägnant formuliert: „Nichts in ihr wird erneuert – und wenn erneuert wurde, so ist es gar nichts Neues“. Oder in der Wendung des Ben Bag Bag: „Drehe und wende sie; denn alles ist in ihr“ (mAv 5,21). (Verständnis der Tora, S. 4)

Die Bibel kann gedreht und gewendet werden, alles ist in ihr. Sie ist ein Bezugssystem, in dem alle Bereiche miteinander in Beziehung stehen und daher auch für die Auslegung verwendet werden können. Hierzu ist das Stichwort der Intertextualität wichtig, das noch oft begegnen wird.

Der Bibeltext ist in hebräischer SpracheSprache überliefert. Sie ist die Sprache der Schöpfung und der Offenbarung. Auslegung kann sich daher nicht nur auf Inhalte beziehen, sondern nicht zuletzt auf die sprachliche Äußerung und Form. Worte und Sätze können als Buchstabenkombinationen verstanden werden, die neu arrangiert wiederum eine Fülle von Auslegungen in sich bergen.

Auch wenn die Völker der Welt (vor allem die Christen) über den Bibeltext Zugang zur Offenbarung gewonnen haben, bleibt nach rabbinischer Ansicht die Besonderheit Israels in der Spezialoffenbarung der so genannten mündlichen Tora. Unter dem Kapitel Hermeneutik wird ausführlicher über das Offenbarungsverständnis und die hermeneutischen Grundsätze der Rabbinen gehandelt. Es mag hier genügen, den Referenzrahmen kurz aufgezeigt zu haben. Er besteht in der Gruppe der Rabbinen, einem autoritativen Bibeltext und einem Verständnis von Offenbarung, das es ermöglicht, alle Teile dieser Bibel miteinander in Beziehung zu setzen und auszulegen. Die Notwendigkeit der Auslegung, aber auch ihre in den Tiefenschichten des Textes verborgene Bedeutung, ist Bestandteil der Offenbarung.

Midrasch ermöglicht die dauerhafte Gültigkeit der Offenbarung, „ist primär religiöse Betätigung, ewiger Dialog Israels mit seinem Gott“ (Stemberger, Midrasch, S. 26).

Midrasch

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