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6. Polysemie

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Angeregt durch die Thesen der poststrukturalistischen Literaturwissenschaft gab es vor wenigen Jahrzehnten einen Trend, Rabbinische Texte als Ausdruck einer polyvalenten und unbestimmten Textproduktionrabbinische Texte als Ausdruck einer polyvalenten und unbestimmten Textproduktion zu lesen, in der der Autor verschwindet, die historische Verankerung keine Rolle spielt, der Text vielmehr als freies Spiel verstanden wird, in dem die Leserinnen und Leser eine wichtige Rolle als Sinnkonstrukteure spielen. Vor allem in den USA entwickelten sich poststrukturalistische literarische Zirkel, welche Midrasch als Hermeneutik untersuchen. Midrasch wird hier nicht als Gattung oder als Textform verstanden, sondern als exegetisches Vorgehen, als Methode (vgl. Gelhard, Spuren des Sagens). Hier ist nicht zuletzt die viel diskutierte Arbeit von Susan Handelman (The Slayers of Moses) zu nennen. Unter anderem galt Jacques Derridas Dekonstruktionismus als moderne Form des Midrasch im Unterschied zur Exegese, welche letztlich nach der einen „richtigen“ Bedeutung suche (vgl. Joseph Dan, Exegesis).

|69|Ein zentrales Stichwort in der poststrukturalistischen Analyse ist die „Unbestimmtheit“ (indeterminacy)„Unbestimmtheit“ (indeterminacy) des Textes. Diesbezüglich wird in der rabbinischen Literatur gern auf bSanhedrin 34a oder bSchabbat 88b verwiesen, wo Jer 23,29 ausgelegt und der vom Hammer zerschmetterte Felsen mit den biblischen Versen verglichen wird, die auf vielfältige Weise auszulegen sind. Im mittelalterlichen BemR 13.15 ist schließlich von den 70 Gesichtern der Tora die Rede.

Zweifellos trachtet die rabbinische Bewegung danach, unterschiedliche Meinungen und im Studium erworbene Auslegungen nebeneinander zu belassen und gleichzeitig ihre gemeinsame Herkunft aus einer Quelle (von Gott am Sinai) zu betonen. Die mündliche und schriftliche Anordnung der Überlieferungen allein macht aber aus dieser Gleichzeitigkeit eine Nachordnung, eine Abfolge, bedingt eine Auswahl und Beschränkung, die – bewusst oder unbewusst, darüber lässt sich trefflich streiten – die Rezeption beeinflusst (vgl. Steven Fraade, From Tradition to Commentary, vor allem S. 124).

In Bezug auf die Offenheit und Geschlossenheit des rabbinischen „Systems“ gilt, was David Stern bereits 1988 in seinem Beitrag Indeterminacy geschrieben hat:

Die Zitation von verschiedenartigen Interpretationen im Midrasch ist ein Versuch, mit textlichen Mitteln eine idealisierte Akademie rabbinischer Tradition vorzustellen, in der alle Meinungen der Gelehrten gleichwertig als Teil des einen göttlichen Gesprächs aufgezeichnet werden. Meinungen, die im menschlichen Diskurs als widersprüchlich oder einander ausschließend erscheinen, werden auf die Ebene einer paradoxen Einheit gehoben, die sich auf ihre eine gemeinsame Quelle im Sprechen des göttlichen Autors zurückführt. […] Das Phänomen, das wir in vielen Auslegungen beobachten, ist, in anderen Worten, in Wirklichkeit ein Eindruck, den die Redaktoren der rabbinischen Literatur bieten, ein Resultat einer allgemeinen Entscheidung, die von den anonymen Redaktoren getroffen wurde, die Minderheitenpositionen ebenso wie die Mehrheitspositionen zu bewahren, die Verschiedenheit der Traditionen anstatt von einzelnen Versionen. (Stern, Indeterminacy, S. 155)

Vorbilder dazu finden sich bereits im Vorgehen der biblischen Redaktoren, die unterschiedliche Texte nebeneinander bewahren und die Spannungen nicht immer ausgleichen. Der Unterschied zur rabbinischen Literatur besteht darin, dass die Rabbinen mehr und mehr den redaktionellen Pluralismus als eine Art Ideologie verstehen, die gerade die textliche Stabilität und den sozialen Zusammenhalt einer Gruppe betont, die harmonisch Uneinigkeit aushält und bereit ist, diese in Frieden zu akzeptieren. Der von Stern bevorzugte Begriff Polysemie gegenüber dem mehr belasteten und missverständlichen „Indeterminiertheit“ bringt zum Ausdruck, dass |70|rabbinische Literatur nicht grenzenlos offen und nicht unbestimmt bleibt, sondern der im letzten vor allem auf die Redaktion zurückgehende Pluralismus sich an Bedingungen knüpft. Eine davon ist die Quelle aller Auslegung selbst, nämlich Gott. In einem Beleg aus QohR 12.11.1QohR 12.11.1 (mit Teil-Parallelen in tSota 7.11; bChagiga 3ab und Avot de-Rabbi Natan A 18.10–12) wird dies besonders deutlich:

„Worte von Gelehrten sind wie Ochsenstecken (ka-ddarvonot)“ (Koh 12,11) – (das bedeutet) wie ein Ball von Mädchen (kekaddur schel banot). Was meint „Ball“? Dieser wird von Hand zu Hand geworfen und fällt nicht zu Boden. „Von den Worten[, die er durch seinen Knecht Moses verkündet hat,] ist nicht eines hinfällig geworden“ (1 Kön 8,56).

Wie ein Ball in ihre Hände geworfen wird und nicht herunterfällt, so bekam Moses die Tora vom Sinai und überlieferte sie Josua und Josua den Ältesten und die Ältesten den Propheten und die Propheten überlieferten sie der großen Versammlung etc.

[…]

Wann werden die Worte der Tora in ihrer besten Weise gesprochen? In der Stunde, wo die, die sie beherrschen, sie in der Versammlung hören. Woher sagst du, dass, wenn jemand es aus dem Mund eines Israeliten hört, es ist, als habe er es aus dem Mund eines Weisen gehört? Die Schrift sagt: „[Diese Worte], auf die ich dich heute verpflichte, [sollen auf deinem Herzen geschrieben stehen]“ (Dtn 6,6). Nicht wie etwas, das man aus dem Mund eines Weisen gehört hat, sondern aus dem Mund der Weisen, wie es heißt: „Die Worte der Weisen sind wie Ochsenstecken.“ Und nicht wie etwas, das man aus dem Mund der Weisen gehört hat, sondern aus dem Mund des Sanhedrin: „Versammle siebzig [von den Ältesten Israels vor mir]“ (Num 11,16). Und nicht wie etwas, das man aus dem Mund des Sanhedrin gehört hat, sondern wie etwas, das man aus dem Mund von Moses gehört hat, wie es heißt: „Gegeben von einem Hirten“ (Koh 12,11). – Das ist Moses. Und nicht wie etwas, das man von dem Hirten Moses gehört hat, sondern wie etwas, das man aus dem Mund des Heiligen, gepriesen sei er, gehört hat, wie es heißt: „Du Hirte Israels, höre, [der du Josef weidest wie eine Herde! Der du auf den Kerubim thronst, erscheine!]“ (Ps 80,2), und „einer“ bezeichnet niemand anderen als den Heiligen, gepriesen sei er, wie es heißt: „Höre, Israel, JHWH unser Gott, JHWH ist einer“ (Dtn 6,4). (Druckfassung)

Die finale Botschaft ist schließlich, dass alle Weisung, in allen ihren unterschiedlichen Varianten und allen möglichen konkreten Quellen, letztlich als Aussage aus dem Mund des einen Gottes stammend verstanden werden soll. Selbst Moses ist nur ein Vermittler des Wortes. Das rabbinische Schulideal ist deutlich zu spüren. Man lernt in der Gruppe, der Gemeinschaft. Hier ereignet sich die Polysemie der Auslegung. Hier wird aber auch und umso mehr bewusst, dass alle Differenz in der Einheit des Hirten aufgelöstDifferenz in der Einheit des Hirten aufgelöst ist. In der Parallele bChagiga 3ab wird noch deutlicher, dass die unterschiedlichen Auslegungen durchaus die Schüler verwirren, dass sie sich dadurch aber nicht entmutigen lassen sollen, sondern |71|in ihrem Herzen (ihrem „Verstandesapparat“) mnemotechnisch geordnete Räume einrichten, um die unterschiedlichen Positionen inklusive ihrer Quelle zuordnen zu können. In tSota 7.11 dient diese Leistung der Schüler letztlich dazu, das Richtige vom Falschen zu unterscheiden (vgl. zu dieser Diskussion Rubenstein, Stories of the Babylonian Talmud, S. 100–113).

In jüngerer Zeit ist verstärkt, und hier sind besonders die Arbeiten von Rubenstein zu nennen, auf den Umstand aufmerksam gemacht worden, dass vor allem die späten babylonischen Redaktionen großen Wert auf die offene Diskussion, die Rezeption unterschiedlicher Standpunkte legten. Die Unterscheidung zwischen babylonischen und palästinischen Quellen, früheren und späteren Texten ist zweifellos hilfreich, um die (steigende) Bedeutung der Polysemie zu verstehen und in einen Kontext setzen zu können.

An dieser Stelle wäre noch viel über die Frage zu diskutieren, welche Traditionen in den Sammlungen aus welchen Gründen gesammelt, welche aber nicht aufgenommen wurden, die Frage der Zugehörigkeit zur Gruppe, die Mechanismen der Distanzierung oder gar des VerschweigensMechanismen der Distanzierung oder gar des Verschweigens. Die kritische Wahrnehmung einzelner Rabbinen (wie beispielsweise Elischa ben Avuja) oder die komplexe Sicht auf Rabbinen, die als Grenzgänger erlebt werden (z.B. Eliezer ben Hyrkanos), seien hier ebenso erwähnt wie die differenzierte Haltung gegenüber Apokalyptik, Magie oder esoterischen Strömungen, die ihre Spuren deutlich hinterlassen. Darüber hinaus mögen Statistiken des Vorkommens bestimmter Rabbinen Aufschluss darüber geben, wer im rabbinischen „Kanon“ besonders gefragt ist. Dies gilt natürlich auch für einzelne Entwicklungsstufen der jeweiligen Texte.

Zu erwähnen sind auch die in bSanhedrin 99b genannten haggadot schel dofi, also jene Auslegungen, die von den Rabbinen als beleidigend und anstößig gekennzeichnet wurden. Damit schaffen die Rabbinen Abgrenzungen gegenüber Auslegungen, die als unpassend oder aus fragwürdiger Quelle stammend – weil im Kontext des rabbinischen Konsenses als frivol, überheblich, grenzüberschreitend erlebt – empfunden wurden. In bSanhedrin 99b wird beispielsweise Manasse ben Hiskija gerügt, der fragt, ob Moses nicht Besseres zu schreiben gehabt hätte als die Bemerkung „Die Schwester Lotans ist Timna“ (in Gen 36,22) und „Timna war die Nebenfrau des Esau“ (in Gen 36,12) oder „Einst ging Ruben zur Zeit der Weizenernte weg und fand auf dem Feld Alraunen“ (in Gen 30,14).

In jedem Fall ist Polysemie ein Phänomen, das innerhalb der rabbinischen Tradition eine wichtige Rolle spielt, zeitlich und örtlich unterschiedlich wichtig ist und gleichzeitig nicht den Blick verstellen darf auf die GrenzenGrenzen, die sich von Zeit zu Zeit verschieben |72|mögen, grundsätzlich aber nicht zu leugnen sind. Entscheidend bleibt, dass Polysemie nicht mit einer allgemeinen Meinungsfreiheit zu verwechseln ist. Sie findet im Rahmen der abgegrenzten Gruppe der Rabbinen statt, also einer Binnenwelt. Zurecht wurde in der Forschung vielfach bemerkt, dass und wie die rabbinische Bewegung als Gruppe von Männern für Männer (die Welt be-)schreibt. Die weibliche Stimme im Chor der Polysemie kann daher nur indirekt erschlossen werden. Weibliche Figuren, die im Rahmen der rabbinischen Gelehrtenwelt eine Rolle spielen – u.a. Berurja, Tabita, Jalta, die Frau Aqivas etc. – sind über die Erzählungen der Männer präsent und erhalten heute nicht selten über neue Midraschim (siehe dazu unter XIV), aber auch durch kritische Textanalysen (vgl. etwa Baskin, Midrashic Women; Kosman, Gender; Hartman/Buckholtz, Man of God) Profil.

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