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5. „Textzentrierte“ und „angewandte“ Auslegung und eine Hermeneutik der Anknüpfungen

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Eine logische Schlussfolgerung des bisher Gesagten ist, dass im biblischen Text entdeckte Fragen beantwortet werden sollen, Unklarheiten aufgeklärt, Spannungen gelöst. Dazu verwenden die Rabbinen die hermeneutischen Regeln, stellen intertextuelle Bezüge zu anderen – aus unterschiedlichsten Gründen vergleichbaren – Bibelstellen her, benützen Gleichnisse oder Beispielerzählungen etc. Gerade die so genannten gaps, also die Leerstellen und offenen Fragen innerhalb des Textes ermöglichen es zudem, wichtige Botschaften zu transportieren, die in der Form der Auslegung des Bibeltextes erscheinen, über bloße „Exegese“ aber weit hinausgehen. Isaak Heinemanns in Bezug auf die Haggada geprägte Begriffe der „schöpferischen Philologie“ bzw. der „schöpferischen Geschichtsschreibung“ (Darche ha-Aggada) haben hier ihre tiefe Berechtigung. „Schöpferisch“ trifft insofern zu, als es sich bei den Auslegungen der Rabbinen tatsächlich um Kreationen von Zusammenhängen mit dem Ziel handelt, diese für die eigene Lebenswelt anwendbar zu machen.

|57|Eine Unterscheidung zwischen „reiner“ und „angewandter“ ExegeseUnterscheidung zwischen „reiner“ und „angewandter“ Exegese, wie sie etwa Geza Vermes (Bible and Midrash) vorschlägt, hat mit Einschränkungen Berechtigung. Er verwendet den Begriff „reine Exegese“ („pure exegesis“) in Bezug auf jene Texte, die ihren Anknüpfungspunkt in einem Problem im Text haben, während „angewandte Exegese“ („applied exegesis“) dann zu verwenden sei, wenn der Ausgangspunkt der Argumentation außerhalb des Textes liegt, wenn also der Text durch eine Thematik oder einen Aspekt angereichert wird, der aus der Welt der Ausleger stammt. Es ist fraglich, ob eine solche strikte Trennung möglich ist, da beide Aspekte sich verbinden. Man entdeckt schließlich jene Probleme im Text, die in der eigenen Welt von Bedeutung sind, und lässt sich umgekehrt von der Textwelt selbst massiv beeinflussen. Die Welt der Ausleger und die Welt der Bibel stehen in einem beständigen Dialog. Dennoch ergibt es Sinn, im Rahmen der Analyse von rabbinischen Midraschtexten mit aller Vorsicht die Unterscheidung zwischen einer stark textbezogenen und einer von textexternen Fragen dominierten Auslegung zu treffen und dabei die Übergänge, Grauzonen und Zwischentöne zu beachten. Auf diese Weise kann eruiert werden, welche Werthaltungen, Vorstellungen, auch Ideologien sich über die rabbinische Auslegung vermitteln, welche Fragen an den Text gestellt werden und welche man – von außen betrachtet – vermisst.

Hierzu sind einige wichtige Beobachtungen zu machen. Die rabbinische Hermeneutik ist eine „Hermeneutik der Anknüpfungen“. Damit ist gemeint, dass die Rabbinen ihre Auslegungen zu einem großen Teil auf der Basis von Assoziationen treffen, die sie aus dem intertextuellen Zusammenhang des Bibeltextes erschließen. Solche Assoziationen können sich aufgrund von Stichwörtern ergeben, sie können auf der Wortebene, der Satzebene, der Textebene bestehen, können sprachlich oder auch inhaltlich bestimmt sein. Des Öfteren setzen sie eine bereits vorhandene Assoziation(skette) bzw. einen von den Rabbinen geschaffenen Zusammenhang voraus. Macht man sich die Mühe, längere Abschnitte zu analysieren, wird die klare Strukturierung und Logik der Argumentation häufig deutlich, auch die Auswahl der Traditionsstoffe, was bei einem Blick auf kleine und begrenzte Textteile mitunter nicht möglich ist. Assoziation meint hier das Gegenteil von Willkür und Zufälligkeit, was nicht selten fälschlicherweise mit dem Begriff verbunden wird. Um diese Fehlinterpretation zu vermeiden, sei die Bezeichnung „Anknüpfung“ gewählt, in der das „Textgewebe“ als enger Verbund deutlich vor Augen tritt.

Hier seien einige wichtige Elemente an Beispielen erläutert.

|58|Die Bedeutung eines Wortes wird intertextuell erhelltDie Bedeutung eines Wortes wird intertextuell erhellt:

Die Identifikation des Ortes Morija, auf dem Abraham seinen Sohn opfern soll, mit dem Tempel wird in BerR 56.10 in Verbindung mit dem zentralen Stichwort „Sehen“ aus Gen 22,14 erläutert und mit anderen Texten mit „Sehen“ (mit Rückblick auf die Zerstörung und hoffnungsvollem Ausblick) verknüpft:

Siehe: Gebaut, wie es heißt: „Dreimal im Jahr lasse sich sehen (jerae)“ (Dtn 16,16). „Wie man noch heute den Berg nennt: [JHWH lässt sich sehen (jerae)]“ (Gen 22,14). Siehe: Niedergerissen, wie es heißt: „über den Zionsberg, der verwüstet liegt“ (Klgl 5,18). „JHWH wird ersehen (jire)“ (Gen 22,14). Gebaut und vollkommen, wie es heißt: „Denn JHWH baut Zion wieder auf und erscheint (nira) in all seiner Herrlichkeit“ (Ps 102,17).

Die Identifikation von Morija mit (dem Tempel in) Jerusalem ist bereits in 2 Chr 3,1 gegeben und liegt mit großer Wahrscheinlichkeit den Autoren von Gen 22 bereits vor. Die Rabbinen setzen diese Beziehung zu Jerusalem voraus, wenn in BerR 56.10 die Erzählung in Gen 14 mit der in Gen 22 verknüpft wird:

Abraham nannte ihn „Er sieht“ (jire): „Und Abraham nannte den Ort JHWH sieht“ (Gen 22,14). Schem nannte ihn Salem: „Und Melchisedek war König von Salem“ (Gen 14,18). Der Heilige sprach: Wenn ich ihn jire nenne, wie Abraham ihn nannte, so wird sich Schem, der Gerechte, darüber beschweren; nenne ich ihn dagegen „Salem“, so wird wieder Abraham, der Gerechte, sich darüber beschweren. Ich nenne ihn mit dem Namen, mit dem beide ihn nannten: „Jerusalem“, jire schalem. R. Berechja sagte im Namen des R. Chelbo: Als er noch Salem hieß, baute dir der Heilige eine Hütte und betete in ihr, wie es heißt: „Sein Zelt erstand in Salem, seine Wohnung auf dem Zion“ (Ps 76,3). Und was sagt er darin? Möge es doch sein, dass sich mein Haus in vollendetem Zustand zeigen werde. Eine andere Auslegung: Das lehrt, dass der Heilige, gepriesen sei er, ihm (in einer Vision) das Heiligtum gebaut, niedergerissen und gebaut gezeigt hatte.

In diesen Kontext der intertextuellen Auslegung gehören zahlreiche Beispiele, in denen ein Text aufgrund seiner Begrifflichkeit mit anderen Texten in Verbindung gesetzt wird, die auf den ersten Blick nichts mit ihm zu tun haben. In BerR 56.1 führt das Stichwort „am dritten Tag“ dazu, dass verschiedene biblische Belege miteinander in Beziehung gesetzt werden, in denen ebenfalls vom „dritten Tag“ die Rede ist. Dadurch entsteht ein neuer, von den Rabbinen gestifteter Zusammenhang mit dem Geschehen um Abraham und Isaak, in dem nicht zuletzt die Bezüge zum Sinai, die Geschichte Israels, aber auch die eschatologische Dimension des Isaakopfers anklingen bzw. verbunden werden:

„Nach zwei Tagen gibt er uns das Leben zurück; [am dritten Tag richtet er uns wieder auf]“ (Hos 6,2). Am dritten Tag der Stämme: „Am dritten Tag sagte Josef zu ihnen: [Tut folgendes, und ihr werdet am Leben bleiben, |59|denn ich fürchte Gott]“ (Gen 42,18). Am dritten Tag der Gabe der Tora: „Am dritten Tag, im Morgengrauen, [begann es zu donnern und zu blitzen. Schwere Wolken lagen über dem Berg, und gewaltiger Hörnerschall erklang. Das ganze Volk im Lager begann zu zittern]“ (Ex 19,16). Am dritten Tag [der Kundschafter]: „[Sie riet ihnen: Geht ins Gebirge, damit die Verfolger euch nicht finden;] dort haltet euch drei Tage lang verborgen, [bis die Verfolger zurückgekehrt sind; dann könnt ihr eures Weges gehen]“ (Jos 2,16). Am dritten Tag der Heimkehrer aus dem Exil: „[Ich ließ alle an dem Fluss zusammenkommen, der an Ahava vorbeifließt.] Dort blieben wir drei Tage“ (Esr 8,15). Am dritten Tag des Jona: „Jona war drei Tage [und drei Nächte] im Bauch des Fisches“ (Jona 2,1). Der Auferstehung der Toten: „Nach zwei Tagen gibt er uns das Leben zurück, [am dritten Tag richtet er uns wieder auf, und wir leben vor seinem Angesicht]“ (Hos 6,2). Am dritten Tag der Ester: „[Am dritten Tag] legte Ester ihre königlichen Gewänder an“ (Est 5,1). Aus Verdienst ihres Vaterhauses. R. Levi und die Rabbanan: R. Levi sagte: Aus Verdienst des dritten Tages Abrahams: „Segnen sollen sich mit deinen Nachkommen alle Völker der Erde, weil Abraham auf meine Stimme gehört hat“ (Gen 22,18, abweichend vom Bibeltext). Die Rabbanan sagten: Aus Verdienst der Gabe der Tora.

Die Verweise auf den Sinai oder das Schicksal Israels sind bereits den Autoren von Gen 22 wichtig. Sie werden also nicht erst von den Rabbinen in den Text eingetragen. Gleichwohl bereichern die Rabbinen (und einige Auslegungen vorher) den Text um weitere Aspekte wie die Errettung aus dem Tod oder die Folgen der messianischen Erlösung.

Die Doppelbedeutung von BegriffenDoppelbedeutung von Begriffen wird ausgelegt:

In BerR 55.4 knüpft man an „nach diesen devarim“ in Gen 22,1 an. devarim kann sowohl „Ereignisse“ als auch „Worte“ bedeuten. Versteht man es als „Worte“, so kann man fragen, auf welche Worte hier Bezug genommen wird. Daraus entsteht eine Selbstreflexion, die Schlussfolgerungen aus der bereits bekannten Geschichte Abrahams zieht:

Nach was für Worten? Nach den Betrachtungen, welche Abraham dort angestellt hatte. Er sprach nämlich: Ich war erfreut und habe auch alle andern erfreut und ich habe dem Heiligen, gepriesen sei er, keinen Stier und keinen Widder dargebracht. Da sprach der Heilige, gepriesen sei er, zu ihm: Unter der Bedingung, dass, wenn dir gesagt wird: Bringe mir deinen Sohn dar!, du dich nicht entziehst.

Die Beobachtung, dass Abraham noch nicht auf diese Weise geopfert hat, ist durchaus aus dem Bibeltext ableitbar. Die Reflexion stellt den Kontext zum Opfer her, der sich in Bezug auf Isaak nahe legt, aber vor allem dann Bedeutung bekommt, wenn der Ort Morija als Tempelberg und Ort der Opfer bereits im Hintergrund steht.

|60|Die doppelte Bedeutung eines Wortes kann auch Gott als Entlastung dienen, wie in dem Fall aus BerR 56.8, wo der Begriff ala (im Hifil haʿalot) im Mittelpunkt steht, der sowohl „hinaufbringen“ als auch „als Opfer (ola) darbringen“ bedeuten kann:

Abraham! „Meinen Bund werde ich nicht entweihen“ etc. (Ps 89,35). In der Stunde, in der ich dir sage: „Nimm [deinen Sohn]“ (Gen 22,2), „was meine Lippen gesprochen haben, will ich nicht ändern“ (Ps 89,35). Habe ich so zu dir gesagt: „Schlachte ihn“? Nein: „Bringe ihn hinauf (wehaʿalehu)“ (Gen 22,2). Jetzt bringe ihn hinunter.

Gott wendet sich hier gegen den Vorwurf, seine eigene Bundeszusage (Gen 17,21; 21,12) in Frage gestellt zu haben. Die Mehrdeutigkeit der Schrift ermöglicht die Lösung des Konfliktes zwischen der Verheißung der dauerhaften und generationenübergreifenden Zuwendung Gottes und dem radikal drohenden Abbruch dieser Zuwendung durch das Opfer Isaaks. Erst aus dem größeren Kontext der Schrift wird der Konflikt überhaupt bewusst.

In der Auslegung von Gen 22,13 in BerR 56.9 wird die Doppelbedeutung von achar als „hinten“ und „danach“ wichtig:

„Als Abraham aufschaute, sah er: Ein Widder hatte sich hinter [ihm mit seinen Hörnern im Gebüsch verfangen]“ (Gen 22,13) – was bedeutet „hinter“ (achar)?

Es sagte R. Judan: Nach (achar) allen diesen Ereignissen wird Israel in Verfehlungen verfangen und verstrickt sich in Problemen. Und am Ende wird es erlöst durch die Hörner des Widders, wie es heißt: „[JHWH selbst wird über ihnen erscheinen (jerae). Wie der Blitz schießt sein Pfeil dahin.] Gott, JHWH, bläst ins Schofar, [er kommt in den Stürmen des Südens]. JHWH Tzevaot beschirmt die Seinen“ (Sach 9,14–15).

In der Auslegung zur Aufzählung der unreinen Tiere in Lev 11 in WaR 13 wird das Kamel mit Babylon identifiziert:

„Das Kamel (gamal)“ – das ist Babylon, wie es heißt: „Wohl dem, der dir vergilt, was du uns aufgeladen hast (aschre sche-jeschallem lach et gemulech sche-gamalt lanu)“ (Ps 137,8).

Hinter dem Kamel, dem Aufladen und dem Vergelten steckt im Hebräischen dasselbe Wort, gamal, wodurch der Psalmtext als Belegvers fungieren kann, der das Leiden der Israeliten im babylonischen Exil betrauert.

Die Bedeutung eines Begriffes diskutiertBedeutung eines Begriffes kann auf mehrfache Weise aufgelöst werden:

Die Bedeutung des Begriffes und die Identifizierung des Ortes Morija in Gen 22 wird zum einen durch sprachliche Anklänge – zu den hebräischen Worten für Belehrung, Gottesfurcht, Sehen, Herrschaft |61|oder Myrrhe – bestimmt, zum anderen durch eine bereits existierende Bezugnahme auf den Jerusalemer Tempel. In BerR 55.7 wird daher die Auslegung von Morija mit der zur Bundeslade (aron) und dem Allerheiligsten (devir) eng verwoben:

(In Bezug auf Morija gibt es unterschiedliche Erklärungen:) R. Chijja der Große und R. Jannai: Einer sagt: Zu dem Ort, von dem Belehrung in die Welt hinausgeht (horaja), und der andere sagt: Zu dem Ort, von dem Furcht (jira) in die Welt hinausgeht.

(In Bezug auf die) Bundeslade (aron) (gibt es unterschiedliche Erklärungen): R. Chijja der Große und R. Jannai: Einer sagt: Zu dem Ort, von dem Licht (ora) in die Welt hinausgeht etc. Und der andere sagt: Zu dem Ort, von dem Gottesfurcht in die Welt hinausgeht.

(In Bezug auf das) Allerheiligste (devir) (gibt es unterschiedliche Erklärungen): R. Chijja der Große und R. Jannai: Einer sagt: Zu dem Ort, von dem die [göttliche] Anrede (ha-dibber) in die Welt hinausgeht. Und der andere sagt: Zu dem Ort, von dem die Seuche (ha-dever) in die Welt hinausgeht. Jehoschua b. Levi sagte: Denn von dort aus ist der Heilige, gepriesen sei er, der Völker überdrüssig und führt sie hinab (moridam) ins Gehinnom.

(In Bezug auf Morija gibt es unterschiedliche Erklärungen:) R. Schimon b. Jochai sagte: Zu dem Ort, der würdig ist (raui), gegenüber dem himmlischen Tempel zu liegen. R. Judan b. Philaja sagte: Zu dem Ort, den JHWH dir zeigt (mare). R. Pinchas sagte: Zu dem Ort, der die Herrschaft (maruta) der Welt ist. Die Rabbanan sagten: Zu dem Ort, wo man Weihrauch opfert, wie es heißt: „Wenn der Tag verweht und die Schatten wachsen, will ich zum Myrrhenberg (har hamor) gehen etc.“ (Hld 4,6).

Aufeinanderfolgende BibelstellenAufeinanderfolgende Bibelstellen werden zur Deutung genützt:

In Gen 21 ist von Isaaks Geburt die Rede, darauf in V. 9 vom „sich Vergnügen“ Ismaels. Dies deuten die Rabbinen (siehe dazu den Beleg unter IV. 4) als Bedrohung Isaaks. In BerR 55.4 zu Gen 22,1 wird von einem Streit zwischen Ismael und Isaak über ihre Beschneidung gehandelt:

Isaak und Ismael stritten miteinander. Ismael sprach: Ich bin beliebter als du, denn ich wurde im 13. Jahr beschnitten. Isaak entgegnete: Ich bin beliebter als du, da ich schon am achten Tag beschnitten wurde. Da entgegnete ihm Ismael: Ich bin beliebter als du, denn ich konnte mich wehren, ich unterließ es aber. In dieser Stunde erwiderte Isaak: Wenn Gott mir erscheinen und mir sagen würde, ich sollte mir eins von meinen Gliedern abschneiden, ich würde mich nicht weigern.

Das Necken ist zu einem Streit geworden, wer vor Gott beliebter ist. Isaak nimmt dabei den Mund recht voll. Die Prüfung bezieht sich demnach direkt auf die „Provokation“ Gottes durch Isaak („nach diesen Worten“). Er gibt nicht nur einen Teil seines Fleisches, sondern sein gesamtes Leben. Die Rabbinen kombinieren hier zwei aufeinander folgende Kapitel unter der Voraussetzung eines Vorverständnisses |62|über den Wert der Beschneidung, über Ismaels Verhalten gegenüber Isaak etc.

Ein Text wird zergliedert und enthält mehrere Botschaften:

Die AtomisierungAtomisierung des Bibeltextes ist ein gängiger Vorgang innerhalb des Midrasch. Demnach erhalten die einzelnen Versteile jeweils eigenständige wichtige Aussagen. Dies wird noch des Öfteren begegnen.

In BerR 56.4 wird Gen 22,8, die Antwort Abrahams auf die Frage Isaaks, wo das Schaf für das Brandopfer sei, in zwei Teile aufgespalten. Abraham habe Isaak geantwortet:

An jedem Ort „Gott wird sich ersehen“. Und wenn nicht: „Das Schaf für das Brandopfer (ist) mein Sohn“.

Der erste Teil des Satzes (elohim jire-lo) spricht Abrahams Hoffnung auf Rettung Isaaks an, der zweite (ha-se leola beni) stellt klar, dass die Aqeda (= Bindung/Opferung Isaaks) von Abraham ernst genommen wird. Der Bibelvers wird an dieser Stelle nicht als fromme Ausrede Abrahams gedeutet, sondern verweist auf die Auflösung der Erzählung und die „Vor-Sehung“ Gottes in Gen 22,14, mit der V. 8 eng verknüpft ist. Die Teilung des Verses ermöglicht die doppelte Aussage: Gott wird sich treu bleiben und in weiser Voraussicht ein Schaf bereithalten, damit Israels Zukunft möglich wird, zum anderen aber ist diese Hoffnung keine Gewissheit, die den Opfergang zu einer bloßen Symbolhandlung herabwürdigt.

Vergleiche und KontrasteVergleiche und Kontraste prägen die Textwelt der Rabbinen:

Aufgrund der intertextuellen Verbindung aller Bibelstellen können nicht nur entfernt liegende Stellen sich gegenseitig erhellen, sondern auch gleiches oder unterschiedliches Verhalten darin aufeinander bezogen werden. So heißt es in BerR 55.8 zu Gen 22,3 („Frühmorgens stand Abraham auf, sattelte seinen Esel“):

R. Schimon b. Jochai sagte: Ein „Satteln“ kommt und steht einem anderen „Satteln“ entgegen. Ein „Satteln“ – das unseres Vaters Abraham, der sattelte, um zu gehen und den Willen dessen zu erfüllen, der sprach und die Welt war, wie es heißt: „Und Abraham streckte seine Hand aus“ etc. (Gen 22,10). (Das) steht einem anderen „Satteln“ entgegen: Als Bileam sattelte, um zu gehen und Israel zu verfluchen (vgl. Num 22,21: „Am Morgen stand Bileam auf, sattelte seinen Esel und ging mit den Hofleuten aus Moab“).

|63|Eine positive Handlung hebt hier eine negative auf. Demnach sind nicht nur die Texte alle aufeinander bezogen, sondern auch alle Zeitebenen und Ereignisse.

Scheinbare Bezüge können auch Kontraste sein. So lässt sich in BerR 55.4 zwar das Opfer des Königs Mescha in 2 Kön 3,27 mit Mi 6,6–7 in Verbindung bringen, hat aber im Grunde nur mit Abrahams Opfer zu tun:

R. Joschua aus Sichnin im Namen des R. Levi sagte: Obwohl diese Worte sich auf Mescha, den König von Moab, beziehen, (der wirklich seinen Sohn geopfert hat), sind sie doch nur auf Isaak anzuwenden „Womit soll ich vor den Herrn treten, [wie mich beugen vor dem Gott in der Höhe? Soll ich mit Brandopfern vor ihn treten, mit einjährigen Kälbern?] Hat der Herr Gefallen an Tausenden von Widdern, [an zehntausend Bächen von Öl? Soll ich meinen Erstgeborenen hingeben für meine Vergehen, die Frucht meines Leibes für meine Sünde?]“ (Mi 6,6–7).

Die Rabbinen stellen hier – durch angewandte Exegese – eine doppelte Verbindung her. Sie konkretisieren einen allgemein gehaltenen Text (Mi 6,6–7), der vom biblischen Kontext her wohl auf Israel zu beziehen ist, mit dem Menschenopfer des moabitischen Königs Mescha. Dieses Opfer wurde von Gott abgelehnt. Auf der zweiten – tieferen – Ebene kommt nun Isaaks Opfer ins Spiel. Und hier zeigt sich, wie sehr die angewandte Exegese auch pure Exegese ist. Die Aussage in BerR ist nur verstehbar, wenn der weitere Kontext des zitierten Bibeltextes Mi 6, hier also V. 8, mitgedacht ist. Denn betrachtet man Mi 6,8, also den darauffolgenden Bibelvers, so wird der Schlüssel für das Verständnis der Aussage in BerR geliefert: „Es ist dir gesagt worden, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir erwartet: Nichts anderes als dies: Recht tun, Güte lieben, in Demut den Weg gehen mit deinem Gott“. Anders als bei Mescha, wo die Darbringung des Sohnes eine reine – und von Gott ungewollte – Opfergabe war, deutet man Abrahams Darbringung des Isaak als demütiges Gehen mit Gott. Das Rechte tun (mit dem Begriff mischpat), Güte lieben (mit dem Begriff chessed) und natürlich den Weg gehen (mit dem Begriff halach, der Assoziation zur Halacha weckt) umschreibt das Verhalten und die Einstellung Abrahams. Die Begriffe des Textes werden also „angewandt“ auf die Personen und damit aber auch das Opfer selbst in ein – vom Bibeltext her intendiertes – richtiges Licht gesetzt. Demnach ist nicht die Darbringung des Opfers selbst die zentrale Aufgabe, sondern die Einstellung des Menschen, sein Verhalten und sein Tun. Und damit wird rabbinisches Denken mit biblischem Text aufs Engste verbunden. Vom biblischen Text her kann man Abrahams Opfer in richtigem Licht betrachten, von der rabbinischen „Assoziation“ des Michaverses mit Abraham und Isaak her kann man den biblischen Text besser verstehen.

|64|In WaR 20.1 (und Parallelen) wird der Umstand, dass die Söhne Aarons, Nadav und Avihu, nach Lev 10,1 ums Leben kommen, zum Anlass genommen, über den Umstand zu handeln, dass Gerechte und Schurken mitunter das gleiche Schicksal teilen.

R. Schimon b. Abba erschloss (patach): „Aber ein und dasselbe Geschick trifft den Gerechten und den Schurken, [den Guten, den Reinen und den Unreinen, den Opfernden und den, der nicht opfert. Dem Guten ergeht es wie dem Sünder, dem Schwörenden ebenso wie dem, der den Schwur scheut]“ (Koh 9,2). „Den Gerechten“ – das ist Noach. „Noach war ein Gerechter“ (Gen 6,9). R. Jochanan der Sohn des R. Eliezer der Sohn des R. Jose ha-Gelili (sagte): Als Noach aus der Arche stieg, biss ihn eine Schlange und schlug ihn ein Löwe und brach ihm (ein Bein), und er war nicht mehr geeignet, ein Opfer darzubringen, und sein Sohn Schem brachte es an seiner statt dar. „Und den Schurken“ – das ist Pharao Necho. Als er sich auf den Thron Salomos (vgl. 1 Kön 10,18–20) setzen wollte, konnte er dessen Mechanismus nicht bedienen, und es biss ihn eine Schlange und ein Löwe schlug ihn und brach ihm (ein Bein). Der eine starb als Lahmer, und der andere starb als Lahmer: „Aber ein und dasselbe Geschick trifft den Gerechten und den Schurken“.

Der Kohelettext gibt die Folie vor, auf der geklärt wird, dass Gute wie Böse mitunter das gleiche Schicksal teilen können und niemand allein aufgrund der guten oder schlechten Erfahrungen oder aufgrund von Schicksalsschlägen, die einen Menschen treffen, urteilen könne, ob er von Gott geliebt oder verurteilt werde. Dadurch wird der Tod der Söhne Aarons als nicht durch ihre Schuld bedingt erklärbar dargelegt. Die herangezogenen Vergleiche sind zwar aus der Bibel genommen, wurden aber massiv mit Haggada angereichert. So sagt uns die Bibel nichts über den Löwen bei Noach, und sie erwähnt auch nichts von den Versuchen des Necho, auf dem – von der rabbinischen Darlegung ausgeschmückten – sagenumwobenen Thron Salomos zu sitzen, der mit Löwen geschmückt war und dessen komplexer Mechanismus an verschiedenen rabbinischen Stellen erläutert wird (vgl. EstR zu Ester 1,2; Abba Gurion; Panim Acherim; BemR 12.17; PesK 1 etc.).

Ein(e) sich mehrfach in der Bibel findende(r) Sachverhalt, Gegenstand, Person wird für einen intertextuellen Zusammenhang ausgewertet:

Bündelung von BezügenSowohl der Altar als auch der Widder erhalten in der rabbinischen Auslegung von Gen 22 besondere Bedeutung. An der Stelle bündeln sich viele andere biblische Bezüge. Dies tritt vor allem in den späteren Belegen vor Augen. So heißt es in PRE 31:

|65|PRE 31Rabbi Sacharia sagte: Jener Widder, der im Zwielicht (der Schöpfung) erschaffen wurde, lief und kam, um anstelle von Isaak geopfert zu werden. Samael aber stand da und lenkte ihn in die Irre, um das Opfer[tier] Abrahams, unseres Vaters, (vom Wege) abweichen zu lassen. Er verfing sich aber mit seinen zwei Hörnern zwischen den Bäumen, denn es heißt: „Da erhob Abraham seine Augen und schaute, und siehe, ein Widder[, der hinter ihm im Dickicht an den Hörnern hängenblieb]“ (Gen 22,13).

Was tat der Widder? Er streckte seinen Huf an den Mantel Abrahams. Abraham schaute (sich um) und sah den Widder. Und er nahm ihn und band ihn und opferte ihn anstelle von Isaak, denn es heißt: „Da ging Abraham und nahm den Widder und brachte ihn als Brandopfer dar anstelle seines Sohnes“ (Gen 22,13).

Rabbi Berechja sagt: Der liebliche Wohlgeruch des Widderopfers stieg vor den Thron der Glorie, und er war ihm angenehm wie der liebliche Geruch von Isaak.

Und er schwur, ihn in dieser Welt und in der kommenden Welt zu segnen, denn es heißt: „Denn ich werde dich segnen und deinen Samen mehren wie die Sterne des Himmels“ (Gen 22,17).

„Ich werde dich segnen“ – in dieser Welt. „Ich werde vermehren“ – in der kommenden Welt.

Rabbi Chanina ben Dosa sagt: Von diesem Widder ging nichts Unbrauchbares hervor. Die Asche des Widders war die Grundlage für das, was auf dem mittleren Altar war, denn es heißt: „Und Aaron erwirke Sühnung auf seinen Hörnern einmal im Jahr“ (Ex 30,10).

Die Sehnen des Widders sind zehn entsprechend den zehn Saiten der Harfe, auf denen David spielte. Das Leder des Widders war der Gürtel um die Hüften von Elija, denn es heißt: „Sie sagten zu ihm: Er ist ein behaarter Mann, gegürtet mit einem ledernen Gurte um die Hüften“ (2 Kön 1,8).

Die beiden Hörner des Widders sind (Schofarhörner). Auf dem linken (Horn) blies der Heilige, gepriesen sei er, auf dem Berg Sinai, denn es heißt: „Und die Stimme des Schofars [ging fortwährend stärker]“ (Ex 19,19). Und das rechte Horn ist größer als das linke. Und in dies wird er einst hineinstoßen, in der Zukunft, die kommen wird, damit diejenigen, die im Exil leben, versammelt werden, denn es heißt: „Und es geschieht, an jenem Tage wird in das große Schofar gestoßen und JHWH wird König sein auf der gesamten Erde“ (Jes 27,13).

Rabbi Isaak sagt: Alles ist nur durch das Verdienst des Sich-Beugens (vor Gott) erschaffen, denn es heißt: „Erhebet JHWH, unseren Gott, und beugt euch vor seiner Füße Schemel“ (Ps 99,5). (Übersetzung Börner-Klein, Pirke de-Rabbi Elieser, S. [181–183])

Diese Beispiele mögen genügen, um die Hermeneutik der Anknüpfungen zu erläutern. Des Öfteren lässt sich bei genauerem Hinsehen erkennen, dass die Bezüge zum Text (bzw. zum gesamtbiblischen Kontext) größer sind, als man vermuten würde. Gleichwohl wird die rabbinische Welt mit ihren Vorstellungen und Überzeugungen eingespielt. In der Folge seien nur wenige Beispiele genannt, in denen diese Angewandte Exegeseangewandte Exegese stärker zum Tragen kommt.

|66|So wird beispielsweise Abraham bereits als ein weiser Rabbi geschildert, der saß und die Tora auslegte (jaschav wedarasch), in WaR 25.6 konkret zum Thema der „Verortung“ von Orla (Unbeschnittenes/Vorhaut), von der in der Bibel sowohl bei Pflanzen als auch beim Menschen die Rede ist. Dabei wird auch darüber diskutiert, worauf sich Abraham bei seinen Überlegungen stützte, ob nur auf einen Bibeltext (konkret Gen 17) oder auch (schon) auf hermeneutische Regeln wie den Schluss vom Leichteren auf das Schwerere (qal wa-chomer) oder den Analogieschluss (gezera schawa).

Als Abraham sich auf dem Rückweg von Morija befindet, kommt Isaak im Bibeltext nicht mehr vor. In BerR 56.11 fragt man daher:

Wo war Isaak? R. Berechja sagte im Namen der dortigen Rabbinen: Er hatte ihn zu Schem geschickt, um Tora von ihm zu lernen. Gleich einer Frau, die durch den Mühlstein reich geworden ist. Sie sagte: Weil ich durch diese Fertigkeit reich geworden bin, so soll sie nie mehr aus meiner Hand weichen. R. Jose ben Chanina sagt: Er schickte ihn in der Nacht wegen des (bösen) Auges. Denn von der Stunde an, als Chananja, Mischael und Azarja aus dem Feuerofen gerettet wurden, wurden sie nicht mehr erinnert/erwähnt. Und wohin sind sie gegangen? R. Eliezer sagt: Sie starben am Speichel. R. Jose ben Chanina sagt: Sie starben wegen des (bösen) Auges. R. Jehoschua ben Levi sagt: Sie wechselten den Ort und gingen zu Jehoschua ben Jehotzadak, um von ihm Tora zu lernen, wie geschrieben steht: „Höre, Hohepriester Jehoschua[: Du und deine Gefährten, die vor dir sitzen, ihr seid Männer, die Wahrzeichen sind]“ (Sach 3,8). R. Tanchum bar Abbuna im Namen R. Chaninas: Deshalb stiegen Chananja, Mischael und Azarja in den Feuerofen hinab, damit an ihnen ein Wunder geschehe.

Diese Stelle ist bezeichnend für die Rabbinen. Abraham schickt seinen Sohn zum TorastudiumTorastudium, ganz im Sinne dessen, was sie als lebensspendende Mitte jüdischer Identität ansehen. Aber sie verabsäumen auch nicht, das Schicksal Isaaks in den Kontext der Märtyrer für den wahren einzigen Gott zu stellen. Chananja, Mischael und Azarja waren von Nebukadnezzar in den glühenden Ofen geworfen worden und hatten überlebt. Aber auch von ihnen war später nichts mehr zu hören. Was also geschah? Starben sie doch an den Folgen oder gingen sie, um Tora zu studieren? Das Torastudium als Mitte rabbinischer Lehre ist hier in den Text hineingelesen.

In BerR 63.6 heißt es zu Gen 25,22:

„Sie stießen einander im MutterleibMutterleib“: Als sie (Rebekka) an GötzentempelnGötzentempeln vorbeikam, zappelte Esau und wollte herauskommen. Als sie an SynagogenSynagogen und Lehrhäusern vorbeikam, zappelte Jakob und wollte herauskommen.

Esau ist von Anfang an verdorben, während Jakob Synagogen und Lehrhäuser schätzt. Der Bibeltext selbst erklärt nicht näher, warum |67|die beiden zappeln, was der Midrasch ausnutzt, um seine Weltsicht zu propagieren. Esau, häufig Sinnbild Roms, ist der negative Gegenpol zum lernbegierigen Jakob/Israel. Wenig später, in BerR 63.10Genesis Rabba 63.10 wird das Bild von Rom erneut zur Folie. Richtiges oder falsches VerhaltenUnter anderem heißt es hier:

„Esau verstand sich auf die JagdJagd“ (Gen 25,27Gen 25,27) – Er jagte die Geschöpfe mit seinen Worten (folgendermaßen): Du hast nicht gestohlen? – Wer hat mit dir gestohlen? Du hast nicht gemordMordet? – Wer hat mit dir gemordet?

Wie Rom ist Esau hinterhältig und verbrecherisch. In Ber 63.12 wird Gen 25,29 ausgelegt. Hier kommt Esau vom Feld. Der Begriff „Feld“ wird intertextuell aufgelöst und negativ auf Esau gedeutet. Demnach habe Esau eine verlobte Jungfrau vergewaltigt und einen Mord begangen. Belege dafür sind Dtn 22,25 (wo eine Jungfrau „auf freiem Feld“ vergewaltigt wird) und Jer 4,31 („Ja, ich höre Geschrei wie von einer Frau in Wehen, Stöhnen wie von einer Erstgebärenden, das Schreien der Tochter Zion, die nach Atem ringt und die Hände ausstreckt: Weh mir, unter Mörderhand endet mein Leben“). Nach einer weiteren Ansicht habe er auch – mit Beleg Obd 1,5(-6) („Wenn in der Nacht Diebe oder Räuber bei dir einbrechen […] Wie wird man Esau durchsuchen und seine Verstecke durchstöbern!“) – gestohlen.

Biblische Texte, Personen oder Handlungen können zu weiterführenden Betrachtungen über richtiges oder falsches Verhalten führen. So heißt es in Anknüpfung an Doëg, der David einst verriet (1 Sam 22) in Tan Metzora 2 bzw. TanB Metzora 4 (22b/23a), dass der Verrat sogar die drei großen Kapitalvergehen übersteigt:

Und Doëg wurde aus dem Leben dieser Welt entwurzelt und (auch) aus allen Leben der zukünftigen Welt, wie es heißt: „Darum wird Gott dich verderben für immer, (dich packen und herausreißen aus deinem Zelt, dich entwurzeln aus dem Land der Lebenden)“ (Ps 52,7Ps 52,7) – aus dem Leben der zukünftigen Welt. Was ist schwerwiegender: wer mit dem Schwert tötet, oder wer mit dem Pfeil tötet? Sag: Wer mit dem Pfeil tötet! Denn wer mit dem Schwert tötet, kann sein Gegenüber nur töten, wenn er nahe bei ihm ist und ihn trifft. Wer mit dem Pfeil tötet, bei dem ist es nicht so, sondern er schießt den Pfeil ab und tötet ihn überall, wo er ihn sieht. Deswegen wird (der Verleumder) mit dem Pfeil verglichen, wie es heißt: „Ein tödlicher Pfeil ist ihre Zunge“ (Jer 9,7). Und so sagt sie (die Schrift): „Ich muss mich mitten unter Löwen lagern, die gierig auf Menschen sind. Ihre Zähne sind Spieße und Pfeile, ein scharfes Schwert ihre Zunge“ (Ps 57,5Ps 57,5). Sieh, wie schwer die Verleumdung ist – dass sie schwerer (wiegt) als Blutvergießen und Unzucht und Götzendienst. Von der Unzucht steht geschrieben: „Wie sollte ich da ein so großes Unrecht begehen und gegen Gott sündigen?“ (Gen 39,9).Vom Blutvergießen steht geschrieben: „Da sprach Kain zum Herrn: Meine Sünde ist größer, als dass ich sie tragen könnte“ (Gen 4,13). Vom Götzendienst steht geschrieben: „Ach, dieses Volk hat gesündigt“ |68|etc. (Ex 32,31). Aber wenn er die Verleumdung erwähnt, sagt er weder „groß“ noch „große(s)“ (Sg.), sondern „große“ (Plural), wie es heißt: „Der Herr vertilge alle falschen Zungen, jede Zunge, die Großes (Pl.) redet.“ (Ps 12,4). Deshalb wird gesagt: „Tod und Leben steht in der Gewalt der Zunge“ (Spr 18,21).

Die wenigen Beispiele illustrieren, wie rabbinisches Welt- und Menschenbild sich an den Text anheften kann. Dabei kommt es nicht selten zu einer Neubewertung von Figuren in der Bibel. Grundsätzlich werden die Ideale der Rabbinen auch in den Bibeltext hineinprojiziert. Dazu gehören der Vorrang des Studiums und der Lehre, die mit der höchsten Wertschätzung der Tora verbunden wird, und die vielen Beispiele für richtiges und toragemäßes Verhalten, für Bescheidenheit und Tugendhaftigkeit.

Die Beispiele haben jeweils nur einzelne kurze Passagen in den Blick genommen. Die „Hermeneutik der Anknüpfungen“ ist natürlich nicht zuletzt über längere Abschnitte zu beobachten. Sehr gut lässt sich dies etwa an WaR illustrieren, wo im Grunde jede Parascha eine Fülle von Wissen vermittelt, das sich assoziativ an den Text anbindet und sukzessive weiter durch Anknüpfungen thematisch verbunden und dadurch ausgeweitet wird. Damit gelingt es, in die Auslegung der verwendeten Bibeltexte auf den ersten Blick weit entfernte Themen einzubinden und doch immer wieder – was allerdings durchaus Aufmerksamkeit verlangt – auf den biblischen Ausgangstext des Buches Levitikus zu verweisen.

Midrasch

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