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2. Offenbarung, Mündlichkeit und Schriftlichkeit

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Die Offenbarung der Tora geschah nach rabbinischer Ansicht entweder (hauptsächlich) in direkter Gottesbegegnung mit dem Volk oder (wesentlich seltener) – so vor allem in späterer Entwicklung – über den Mittler Moses (vgl. Stemberger, Mose).

In der MekhJ Bachodesch 9 heißt es:

„Und das ganze Volk sah die Stimmen (und die Blitze)“ (Ex 20,18). Sie sahen das Sichtbare und hörten das Hörbare – Worte des Rabbi Jischmael. Rabbi Aqiva sagt: Sie sahen und hörten das Sichtbare. Sie sahen das feurige Wort, wie es aus dem Mund des Allmächtigen kam und sich auf den Tafeln einschlug. Es heißt ja: „Die Stimme JHWHs schlägt feurige Flammen aus“ (Ps 29,7).

|41|„Und das ganze Volk sah die Stimmen“: Stimme, Stimmen über Stimmen; Blitz, Blitze über Blitze. Wie viele Stimmen und wie viele Blitze waren es denn? Vielmehr ließen sie jeden einzelnen nach seiner Fassungskraft hören. Es heißt ja: „die Stimme JHWHs in Kraft, [die Stimme JHWHs voll Majestät]“ (Ps 29,4).

Rabbi sagt: Das soll das Lob der Israeliten verkünden. Denn als sie alle vor dem Berg Sinai standen, um die Tora zu empfangen, da hörten sie das Gotteswort und wussten es zu deuten (mefarschim oto). Es heißt ja: „Er umfasst es, er versteht es, er hütet es wie seinen Augenstern“ (Dtn 32,10): Sobald das Wort ausging, wussten sie es zu deuten.

Das Volk Israel empfängt die OffenbarungDas Volk Israel empfängt die Offenbarung und unterscheidet sich von allen anderen Völkern darin, dass es das Wort Gottes nicht nur hört (und sieht), sondern versteht und dadurch interpretieren kann.

Dabei ist das Thema der mündlichen Überlieferung für die jüdische Tradition wesentlich. Was versteht man darunter? Einmal wird der Begriff sehr allgemein als Hinweis auf die Bedeutung der nichtschriftlichen Weitergabe von Tradition im Lehr- und Lernkontext verstanden, bei der Auswendiglernen und mündliche Diskussion eine große Rolle spielen. Dann kann damit eine Fülle an Meinungen, Lehren und halachischen Entscheidungen gemeint sein, die aus der Schrift mithilfe des Midrasch abgeleitet und weitergegeben werden.

Darüber hinaus gibt es die Vorstellung von einer von der Schrift getrennt zu betrachtenden Überlieferung, der Halacha an Moses vom SinaiHalacha an Moses vom Sinai. Das beweist etwa die bekannte Stelle in bMenachot 29b. Hier lauscht Moses im himmlischen Lehrhaus der komplexen Bibelauslegung des R. Aqiva, der er aber nicht folgen kann. Er beruhigt sich jedoch, als Aqiva bei einer bestimmten Sache von der „Halacha an Moses vom Sinai“ als Erkenntnisquelle spricht. In jPea 2,6,17a wird formuliert, dass „Schrift, Mischna, Halachot, Talmud, Toseftot, Haggadot und auch das, was ein kundiger Schüler in Zukunft einmal vor seinem Lehrer sagen wird, bereits am Sinai dem Moses gesagt wurde.“ In bBerachot 5a wird Ex 24,12 atomisiert und die einzelnen Begriffe werden auf Pentateuch, Mischna, Propheten, Schriften und Talmud bezogen, die alle Moses am Sinai erhielt.

Zu diesem Konzept hat z.B. David Weiss Halivni (Revelation, S. 54–74) wichtige Beobachtungen gemacht. Dementsprechend begegnet in der tannaitischen Periode die Rede von einer schriftunabhängigen Moseshalacha äußerst selten (vgl. SifDev § 351) und wird vor allem in den Meinungsäußerungen R. Aqivas in Frage gestellt. Vielmehr dienen mehrheitlich Schriftpassagen als Belege für eine EntscheidungSchriftpassagen als Belege für eine Entscheidung. Im folgenden Text ist Aqiva der Meinung, dass die eine Tora vom Sinai bereits alle Auslegung enthält:

|42|„Und die Torot“ (Lev 26,46): Das lehrt, dass Israel zwei Torot gegeben wurden, eine schriftlich und eine mündlich.

Es sagte (dagegen) R. Aqiva: Hatte denn Israel nur zwei Torot? Es wurden Israel doch viele Torot gegeben! (So heißt es doch:) „Das ist die Tora des Ganzopfers“ (Lev 6,2); „das ist die Tora der Mincha“ (Lev 6,7); „das ist die Tora des Schuldopfers“ (Lev 7,1); „das ist die Tora des Heilsopfers“ (Lev 7,11); „Das ist die Tora, wenn ein Mensch in einem Zelt stirbt“ (Num 19,14). „Die JHWH zwischen sich und den Israeliten gegeben hat“ (Lev 26,46) – Moses verdiente es, zum Mittler zwischen Israel und seinem Vater im Himmel zu werden. „Auf dem Sinai durch die Hand des Moses“ (ebd.): Das lehrt, dass die Tora mit ihren Halachot, ihren Feinheiten und ihren Erklärungen durch Moses vom Sinai gegeben wurde. (Sifra Bechuqqotai 8.12, Weiss 112c)

Aqivas Position ist hier die einer im Grunde einzigen Tora, die in sich das Potenzial der Auslegung enthält. Auch SifDev § 313 drückt diese Meinung aus (oben schon zitiert), wonach die Israeliten am Sinai das Wort Gottes verstanden „und wussten, wieviel Midrasch in ihm ist, wieviel Halacha, wieviele Schlüsse vom Leichteren auf das Schwerere und wieviele Analogieschlüsse“.

Die eigenständige und vom Bibeltext unabhängige Überlieferung – vor allem von Halacha – ist in der frühen rabbinischen Ära präsent, man denke an viele Stellen der Mischna, die keine Ableitung aus der Schrift haben. Gleichwohl verstärkt sich das Bemühen – z.B. in den halachischen Midraschim –, diese Neuerungen in Einklang mit der Schrift zu deuten.

Weiss Halivni ortet eine Tendenz der Tannaiten, das gültige Recht weitgehend aus dem Text selbst abzuleiten.

Gegen Ende der talmudischen Periode und darüber hinaus änderte sich der rabbinische Standpunkt total, indem man nun existierendes Recht – sogar solches, das mit wohlbekannten exegetischen Erklärungen verbunden war – aus einem eigenen Corpus nichtschriftlicher Information ableitete, das explizit geoffenbart und gemeinsam mit den Schriften genauestens überliefert wurde – die Halacha an Moses vom Sinai. (Weiss Halivni, Revelation, S. 64)

Die Rede von der Halacha an Moses vom Sinai unterliegt tatsächlich im Laufe der Zeit einem Wandel und ist abhängig von der jeweiligen Quelle (vgl. dazu die umfassende Studie von Hayes, Halakhah le-Moshe). In Mischna, Tosefta und im Bavli ist diese Halacha an Moses als eigenständig gegenüber der Schrift zu denken. Im Bavli wird sie schließlich zur Demonstration der rabbinischen Autorität, die sich unabhängig von einer midraschischen Ableitung aus der Schrift als unveränderliche Lehre durchsetzt, während im palästinischen Talmud nicht immer klar zwischen Schrift und Halacha an Moses unterschieden wird.

Die mündliche Tora wird in jPea 2,4,17a als Basis des Bundes bezeichnet und ist wichtiger als die schriftliche Tora. Die Mischna |43|als Inbegriff mündlicher Tora wird als alleiniges Mysterium Israels Grundlage der Kindschaft Israels vor Gott (PesR 5.2–3). Hierin spiegelt sich die Auseinandersetzung mit dem ChristentumAuseinandersetzung mit dem Christentum, das z.B. in Form der Septuaginta den Bibeltext besitzt.

Die Mündlichkeit ist jedoch nicht nur ein ideologisches Motiv zur Abwehr von fremder Vereinnahmung der Schrift und zur Stärkung der Autorität rabbinischer Gesetzgebung, sondern eng an die Struktur des Studiums gebunden. Zur Mündlichkeit gehört die Praxis des Auswendiglernens, des Memorierens, des lauten Lernens, des Lernens in Gemeinschaft, auch des Weitertradierens in Gemeinschaft (vgl. bEruvin 54b).

Im Rahmen der Vorstellung einer Offenbarung am Sinai, die in erster Linie als eine mündliche Begegnung mit Gottes Wort erscheint, erhält der Midrasch eine ganz besondere Bedeutung. Auch wenn der Text selbst als Schrift bewahrt und geehrt wird, wird im Zuge der Auslegung – z.B. über die mündliche Vermittlung der Lehre von Lehrer an Schüler – die Ursprungssituation der Weitergabe der Tora am Sinai gewissermaßen nachempfunden, repräsentiert, der Text im Lehrer „verkörpert“ (vgl. dazu auch Fraade, Literary Composition, z.B. S. 45. In: Legal Fictions, S. 378).

Das Memorieren, geistiges Aufnehmen und StrukturierenMemorieren, geistige Aufnehmen und Strukturieren des mündlich gelernten und wiederholten Stoffs wird vielfach in den Quellen erläutert. Damit verbunden sind auch methodische Fragen in Bezug auf die Sammlung und Verwendung eines Thesaurus an Überlieferungen, auf die man zugreifen und die man in unterschiedlichen Kontexten verwerten kann (vgl. z.B. David W. Nelson, Orality and Mnemonics in Aggadic Midrash, oder Jaffee, Torah in the Mouth bzw. Orality).

Neben dem „ideologischen“ Aspekt von Mündlichkeit und Schriftlichkeit gibt es auch einen ganz praktischen. Mehrfach ist in den Quellen – außer im Bavli, wo man dies wohl bewusst vermeidet – von Notizbüchern und Gedächtnisstützen die Rede, die man auch als Korrekturen mündlicher Überlieferung verwendet (jMaʿaser 2,4,49d; jKilajim 1,1,27d).

Die erstaunliche textliche Stabilität der Überlieferung von verschiedenen Werken wie etwa auch der halachischen Midraschim ist ohne schriftliche Vorlagen undenkbar, aber im babylonischen Talmud dominiert noch lange das mündliche Studium, was natürlich auch Auswirkungen auf die komplexe Textüberlieferung zeitigt. Mit Stemberger (Mündliche Tora) ist das Nebeneinander von schriftlichen und mündlichen Überlieferungen zu betonen. Texte werden mündlich weitertradiert, der mündliche Vortrag hat wiederum Einfluss auf weitere Textentwicklung etc.

|44|Was herauskommt ist ein „zirkuläres“ Verständnis der Wechselbeziehung der rabbinischen Texte und ihrer mündlichen performativen Darstellung: Mündlichkeit, die in einer Textlichkeit gründet, die mündlich im Fluss bleibt. (Fraade, Literary Composition, S. 36. In: Legal Fictions, S. 369)

Nicht zu unterschätzen sind neben der mangelnden Kenntnis des Schreibens die praktischen Probleme wie die Kosten des Materials, die großen Mühen der Niederschriften und Vervielfältigungen, die keineswegs einfache Handhabung der Rollen (zuletzt im 10. Jh. belegt), die mit dazu beitragen, dass man bis zu den Anfängen des Buchdrucks primär (aber natürlich nicht nur) mündlich kommentiert und weitergibt (auch dazu vgl. Stemberger, Mündliche Tora).

Midrasch

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